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KAPITEL 5
ОглавлениеAttila und ich hatten beim Losen die zweite Pause gewonnen. Folglich hielten wir zusammen die erste Wache. Inzwischen war es ruhig geworden an Bord. Inge hatte das Kabinenlicht auf ein Minimum heruntergedimmt. Die meisten Passagiere versuchten, zu schlafen oder die Zeit mit einem Film totzuschlagen.
»Sag mal, Attila, macht's dir was aus, wenn ich nach vorn gehe und dort was esse?«
»Nee, mach«, antwortete er, ohne von seiner Mens Health aufzusehen.
»Ich erledige auf dem Rückweg den Toilettencheck, okay?«
»Mach einfach.«
Ich schnappte mir eine der Stablampen und machte mich auf den Weg nach vorn. Ich freute mich tierisch auf was zu beißen. Mein Magen hatte mich schon mehrere Male angeknurrt, weil ich ihn vernachlässigte.
Die First-Class-Galley befindet sich unmittelbar hinter dem Cockpit. Jeder Premiumgast kann aus einer ansehnlichen Palette an Speisen auswählen. Für gewöhnlich bleibt so viel Essen übrig, um die gesamte Besatzung glücklich zu machen.
Ich entschied mich für verschiedene Vorspeisen und nahm Helgas Angebot an, mir einen Gänsebraten warmzumachen.
An der Cockpittür gab ich den Code ein und hielt den Kopf in die Kamera. Wenig später ertönte das Klacken des Entriegelungsmechanismus.
»Hallo, Jungs«, sagte ich und schloss die Tür hinter mir.
»Servus«, kam es von links. Kai war unser Senior First Officer. Er saß während des Reiseflugs auf dem Sitz des Kapitäns, wenn der schlief. Alarich, der Copilot, hingegen reagierte nicht, er war wild beschäftigt. Ich wartete, bis sich Kai mir zuwandte und fragte: »Wollt ihr was trinken?«
»Nein, danke.«
Der Copilot sprach in sein Mikrofon und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Als Hereinkommender war es meist Glücksache, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen.
Kai bemerkte meine Unsicherheit. »Kein Problem, Alarich hat das voll im Griff.« Er grinste zu seinem Mitstreiter herüber, der das Mikrofon mittlerweile zur Seite gelegt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich einen zynischen Unterton herausgehört hatte.
»Ist es okay, wenn ich bei euch esse?«
»Logisch, wir freuen uns immer über Besuch«, antwortete Kai.
Ich klappte den Sitz herunter und saß mittig hinter Kai und Alarich, das gesamte Cockpit im Blick. Ich liebte diesen Platz. Vor allem nachts. Die gedämpfte Beleuchtung der Instrumente war für mich romantischer als jeder Weihnachtsbaum.
Ich wollte gerade meiner Begeisterung freien Lauf lassen, da ertönte das Summen der Cockpitklingel. Helga kam rein und brachte mein Tablett. Neben einer opulenten Vorspeisenplatte stand ein Teller mit Gänsebraten, Blaukraut und Klößen. Helga versicherte mir, sie habe mit dem P1 telefoniert, ich solle in Ruhe essen. Er wolle sich sowieso einen Augenblick mit Attila allein unterhalten.
»Tausend Dank, Helga, du bist ein Schatz!«
Ich machte mich über die Gans her. Die Vorspeisen konnten warten.
Kai blickte aus dem Fenster. »Leider erkennt man heute nichts. Ganz Russland liegt unter einer einzigen Wolkendecke. Manchmal sieht man ganz schön, wie sie das Gas der Ölfelder abfackeln. Aber heute ist es da draußen zappenduster.«
»Das wäre hier sowieso nicht zu sehen«, eiferte Alarich. »Die großen Felder liegen viel weiter südlich, in Richtung Kaspischem Meer und Kaukasus.«
Ich weiß ja nicht, warum man sofort spürt, ob man einen Menschen sympathisch findet oder nicht. Meist reicht der Bruchteil einer Sekunde, um eine Schublade zu öffnen. Schon sitzt der Neuankömmling drin und erst viel später entscheidet sich, ob er vielleicht wieder rausdarf. Im Falle der Cockpit war bereits mit dem Schließen der Tür zum Briefingraum die Messe gelesen. Kapitän Bernd Lammers war ein freundlicher, hanseatischer Brummbär. Ein Mensch, den nichts aus der Ruhe bringen konnte. Kai war ein Sonnyboy. Groß, mit braunem, welligem Haar und einem offenen, gewinnenden Gesicht. Würde man den Begriff Surflehrer googeln, würde man früher oder später auf ihn stoßen. Allein die Tatsache, dass er sich nur mit Vornamen vorgestellt hatte, machte ihn sympathisch. Nur der Copilot war ein seltsamer Kerl. Davon abgesehen, dass ihm irgendjemand einen Stock ganz tief in den Arsch geschoben haben musste, trug er jedem sein »Alarich von Vogel, Guten Tag« mit der Verkrampftheit eines blasierten Kronprinzen an.
Kai war viel zu gelassen, um auf Alarichs Belehrung einzugehen. Er hatte die Füße auf die Kante des Armaturenbretts gestellt und sah hinaus.
»Darf ich mal was Doofes fragen?«, begann ich, während ich ein Stück Gans in der Soße hin- und herschob.
»Nein«, sagte Alarich.
»Na, klar, schieß los!«, überging Kai seinen Kollegen.
»Wenn das Wetter am Boden richtig schlecht und neblig ist, wie könnt ihr dann eigentlich landen? Habt ihr dafür extrastarke Landescheinwerfer?«
Kai schmunzelte. »Nee, Scheinwerfer bringen nichts. Denk ans Autofahren bei starkem Nebel. Zuviel Licht blendet dich nur. Die Sache ist ganz einfach.« Er riss ein Stück Papier aus dem Drucker. »Schau her: Das ist die Piste, auf der wir landen wollen.« Rasch hatte er mit vier Strichen ein Rechteck gezogen. »Am Ende steht ein Sender. Der schickt einen Funkstrahl in den Himmel.«
»Eigentlich sind es ja mehrere«, kam von der rechten Seite. Kai warf einen genervten Blick in Alarichs Richtung, der seine Wirkung nicht verfehlte.
»Also, der Sender schickt einen Funkstrahl los. Das kann man sich wie einen Faden vorstellen, der an der Landebahn befestigt ist und in den Himmel ragt. Unser Autopilot erkennt diesen Faden und hangelt sich wie an einer Schnur entlang in Richtung Runway. Das klappt sogar, wenn wir nichts mehr sehen.« Kai hielt mir seine Zeichnung hin.
»Hey, Kai, du hättest Lehrer werden sollen. Wenn mir mein Physiklehrer die Dinge so erklärt hätte, dann hätte ich sie vielleicht sogar kapiert.«
Kai winkte ab. »Bloß nicht. Schule war null mein Ding. Ich war froh, als ich draußen war.«
»Ging mir auch so«, stimmte ich ihm bei.
Eine Weile herrschte Schweigen. Bis auf das monotone Rauschen des Fahrtwindes. Irgendwie hört sich dieses Rauschen im Cockpit anders an als im restlichen Flieger. Es mag an den optischen Eindrücken liegen, aber für mich hat es ein bisschen was von »Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2200. Dies sind die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise ...«
Gut, vielleicht habe ich als Kind zu viel ferngesehen.
»Das ist ein Klasse-Platz hier vorne!«, platzte ich raus. »Nicht so eng und drückend und voller Passagiere wie bei uns hinten.«
Es dauerte einen Moment, dann drehte sich Alarich zu mir um und sagte mit ernster Miene: »Da sag ich nur: Augen auf bei der Berufswahl!«
Ich lächelte. Dann erst begriff ich. Alarich verzog keine Miene. Mein Lächeln erstarb.
»Und was ist dein Plan B?«
»Wie, Plan B?« Ich verstand nicht.
»Na ja, du wirst das hier doch nicht ewig machen wollen, Saft ausschenken?«
»Äh, nee, natürlich nicht.« Ich fühlte mich überrumpelt. Und gleichzeitig herabgesetzt. Dann hörte ich mich sagen: »Ich fange nächstes Jahr an, Jura zu studieren – zum Sommersemester.«
»Rechtsverdreherei ist gut. Damit hast du alle Optionen. Nicht wie da hinten. Das ist kein Beruf für einen Mann. Im besten Fall ein Job.«
»Wieso das denn?«, meldete sich Kai zu Wort.
»Das kann ich dir sagen: Erstens fehlt die gesellschaftliche Akzeptanz. Stewardess hört sich interessant an, aber Steward klingt nach schwulem Traumschiffkellner. Zweitens fehlt der Anspruch. Das ist mit Mitte zwanzig lustig, aber spätestens in der Midlifecrisis fragst du dich, ob das alles ist, was du im Leben erreicht hast. Und drittens ist es ein klassischer Frauenberuf.«
»So ein Quatsch! Dann ist das, was wir hier vorne machen, ein reiner Männerberuf. Wenn alle so denken würden wie du, gäb's keine Frauen im Cockpit.«
»Was wäre daran so schlimm? Es zwingt sie ja niemand ...«
In diesem Moment klingelte es. Helga stand in der Tür.
»Und, hat's geschmeckt?«
»Fantastisch. Die beste Weihnachtsgans seit langem.«
»Das freut mich.« Sie deutete mit einer Handbewegung an, ihr das Essenstablett anzureichen. Gleichzeitig beugte sie sich zu mir herab und flüsterte: »Ich könnte mir vorstellen, dass Attila Sehnsucht nach dir hat. Vielleicht gehst du wieder nach hinten und hilfst ihm mit dem Safttablett.«
Ich hatte den Wink verstanden. Rasch verabschiedete ich mich von den Jungs. Ich war froh, Alarich zu entkommen. Erinnerte er mich doch sehr an Old Seizinger. Warum hatte ich ihm das mit dem Jurastudium erzählt? War das wirklich Plan B? Hatte ich überhaupt einen Plan A? Und wie konnte es sein, dass ein Kollege, den ich im Grunde gar nicht kannte, mich zu solchen Äußerungen trieb?
Als ich in unsere Galley zurückkam, hatte ich mich auf einen wütenden Attila eingestellt, der mir einen Anschiss verpasste, weil ich gemütlich gequatscht und gegessen hatte, während er hundertzwanzig durstigen Passagieren Orangensaft anbieten musste.
Aber Attila tat etwas Eigenartiges. Sein Körper befand sich in der Horizontalen, keine zwanzig Zentimeter über dem Boden. Geschmeidig drückte er sich im Liegestütz hoch und runter. Seine Hände steckten in dünnen, fingerlosen Handschuhen. Dort, wo er sich auf dem Boden abstützte, hatte er weiße Stoffservietten ausgelegt. Er blickte kurz auf, als er mich bemerkte, und zählte weiter: »... vierundvierzig, fünfundvierzig ...«
»Kommst du zurecht oder kann ich helfen?«
»Ohne mich zu beachten, fuhr er fort: »... neunundvierzig, fünfzig!«
Dann richtete er sich auf. Bedächtig zog er sich die Handschuhe aus. Der Kerl stand stets ein wenig breitbeiniger da, als ein normaler Mann. Ich verkniff mir ein Poser, als Attila sagte:
»Hey, Mann, du musst im Training bleiben, gerade hier an Bord. Wir fliegen mit tausend Stundenkilometern in der Gegend rum. Da nimmt die Schwerelosigkeit zu. Dein Körper reagiert sofort und beginnt mit dem Muskelabbau. Das geht ruck-zuck! Anstatt sich mit Bordessen zu belasten, sollten die Kollegen lieber Workout machen.«
»Und das machst du auf jedem Flug?« Nachdem weit und breit keine Spur eines Safttabletts zu entdecken war, begann ich, einen Turm aus Plastikbechern auf zwei Tabletts zu verteilen.
»Klar, Alter! Fit bleiben. Bewegung und viel Wasser trinken. Mens sana in corpore sane. Altes türkisches Sprichwort.«
Ich musste lachen. »Und ich dachte bislang, das wäre Latein.«
»Hey, Mann, du kapierst das nicht. Das glauben alle. Dabei waren die Römer damals das, was heute die Amis sind. Voll die Imperialisten. Die haben ihre ganze Kultur den Griechen geklaut und die hatten zu neunzig Prozent türkische Wurzeln.«
Konnte ich mir schon nicht vorstellen, dass die Schwerelosigkeit hier an Bord zunahm, schienen mir diese Ausführungen ein ausgesprochen türkisch-bayrischer Weg, die Welt zu erklären.
Attila schien meinen Blick richtig zu deuten: »Alles nachweisbar! Kannst du nachlesen. Auf jeden Fall musst du deinen Körper in Schuss halten. Da stehen die Bunnys drauf. Es gibt nichts, was Frauen so scharf macht wie mein Sixpack. Wenn die das sehen, können die gar nicht mehr normal denken. Für die Chicks rieche ich förmlich nach multiplem Orgasmus.«
Ganz genau. Miriam und Nina konnten kaum an sich halten, dir nicht die Kleider vom Leib zu reißen. Wovon träumst du nachts, wenn du tagsüber solche Schoten von dir gibst?
Dies und noch viel mehr lag mir auf der Zunge. Ich ließ es dort liegen. Wie immer eigentlich. Unsere Pause fing in Kürze an. Vorher mussten wir noch unsere Getränke loswerden. Ich schnappte mir die letzte Tüte Orangensaft und murmelte ein »Ja ja, kann ich mir vorstellen.«
Zehn Minuten später stand ich in einer der hinteren Toiletten. Ich hatte mein Flightkit auf den geschlossenen Toilettendeckel gestellt und holte den Schuhbeutel aus Baumwolle heraus. Fittipaldi rührte sich nicht. Ich löste den Knoten, um nach dem Rechten zu sehen. Als ich mit der Hand nach ihm griff, kam ein wenig Leben in meinen Mitflieger. Ich kannte das von früheren Langstrecken. Die Temperatur, die während der Flüge auf dem Boden meines Pilotenkoffers herrschte, war die optimale Schlaftemperatur für den kleinen Kerl. Ich setzte ihn auf meine Hand und ließ ihn erstmal wach werden. Verschlafen sah er mich an. Die Wärme meiner Hand gefiel ihm. Er presste sich fest daran, um möglichst viel Auflagefläche zu haben. Fittipaldi war eine gewöhnliche australische Bartagame. Und eine ungemein hübsche dazu. Die kurzen Stacheln an Hals und Flanke waren intensiv orange gefärbt. Auf seiner pigmentierten Haut sah das ausgesprochen schmuck aus. Überhaupt wirkte er wie ein Drachen-Model im Bonsaiformat. Ich glaube, Fittipaldi war sich seines Aussehens bewusst. Stets hielt er seinen Kopf ein wenig nach oben gereckt. Das verlieh ihm ein herrschaftliches Aussehen.
Ich nahm den First-Class-Salat aus dem Plastiktütchen und hielt ihn Fittipaldi vor die Nase. Vermutlich hätte er lieber eines oder zwei seiner Heimchen verspeist, aber mit seinen vier Monaten wurde es Zeit, dass er sich die ewige Fleischesserei abgewöhnte und langsam etwas pflanzliche Nahrung zu sich nahm. Wenig begeistert schnappte er nach den Salatblättern. Es dauerte nicht lange und mein Schönling hatte genug vom Salatbuffet. Bevor er richtig wach wurde, setzte ich ihn in sein Schlafgemach. Ich verließ die Toilette und staute den Koffer zurück.
Zufrieden stieg ich die Treppen in die Katakomben hinab. Alles war gut. Fittipaldi satt, die Gans tot und die Weihnachtstragödie umschifft. Ich fühlte mich müde genug, um eine Stunde schlafen zu können. Ich öffnete die Tür unseres Schlafgemachs, schlüpfte hinein und war Sekunden später bei meiner Koje. Über den Schlafcontainer im Bauch des Fliegers kursiert so manches Gerücht, aber keines, das behauptet, man könne sich verlaufen. So leise wie nur irgend möglich entledigte ich mich meiner Schuhe und ließ mich auf die Matratze sinken. Aus der Koje nebenan war ein Schnarchen zu hören. Unverkennbar Jörg, unser P1. Ich setzte mich wieder auf, um die gelben Ohrstöpsel aus den Tiefen meiner Hosentaschen zu fischen. Besser! Ich hatte gerade die Augen geschlossen, da durchfuhr es mich siedendheiß. Verdammt, der Umschlag! Wieder vergessen. Er ruhte noch immer neben Fittipaldi im Koffer. Zu ärgerlich, jetzt hätte es gut gepasst. Ich müsste mich eigentlich nur wieder anziehen und hochgehen. Andererseits, wozu? Was auch immer in dem Brief stand, während des Flugs konnte ich sowieso nichts ausrichten. Und sobald wir landeten, war Weihnachten. Ich konnte mir keinen Notar denken, der sich am Heiligabend auch nur in die Nähe seines Telefons begab.
Großmutters Erbe würde nicht davonrennen. Denn darum ging es wohl. Ich war neben dem Tierschutzverein, mit dem mir Oma ab und an gedroht hatte, der einzige in Frage kommende Erbe.
Ich hatte nicht die Spur einer Ahnung, was mir die alte Dame tatsächlich hinterlassen hatte. Über dieses Thema hatten wir nie offen gesprochen. Oma hatte sich nur in Andeutungen vergangen. Ziemlich sicher hatte ihr das Häuschen gehört. Es war aus den Fünfzigern und stand in Feldmoching. Aber soweit ich wusste, gab es in München keine billigen Gegenden mehr. Vermutlich war allein das Grundstück eine viertel Million wert. Eine viertel Million Euro! Klang nach ner Menge Kohle.
Nicht, dass mir Geld jemals viel bedeutet hätte, aber im Augenblick freute ich mich schon über die paar Euro, die mir ein erfolgreicher Bordverkauf an Provision einbrachte. Eine viertel Million war unter diesen Gesichtspunkten definitiv ein Haufen Schotter. Ich trug mich mit Gedankenspielen, was ich mit so viel Geld anfangen würde. Jura studieren? Mir vielleicht eine längere Auszeit gönnen? Australien und Neuseeland fehlten mir.
Ein wohliges Gefühl machte sich in mir breit, über dem ich irgendwann einschlief.