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KAPITEL 3
ОглавлениеEin Briefing ist eine komische Sache. Besonders dann, wenn man als Letzter erscheint. Zwölf Menschen hocken auf Stühlen ringsherum an den Wänden und schauen dich an. Manche mögen das nicht. Sie kommen möglichst früh, um dem zu entgehen. Für mich stellte sich diese Option nicht. Weder heute noch sonst. Ich hatte meistens Probleme damit, überhaupt rechtzeitig zu erscheinen, so dass ich fast immer die Tür hinter mir schloss.
Artig begann ich meine Begrüßungsrunde. Beginnend mit der P2 wiederholte ich gebetsmühlenartig »Topsi, hallo« und hatte den Namen desjenigen, dem ich mich soeben vorgestellt hatte, schon wieder vergessen, als ich die nächste Hand schüttelte. Mit Namen bin ich schlecht. Gesichter kann ich mir locker merken, aber Namen sind für mich dermaßen flüchtig, dass Carola mich oft fragt, ob ich mich nicht bereits auf der Zielgeraden zur Frühdemenz befinde.
Zwei Dinge waren mir bereits am ersten Tag meines Grundlehrgangs aufgefallen: Die German Imperial Airlines war die Firma des Händeschüttelns und der Abkürzungen. An beides hatte ich mich schneller gewöhnt, als ich dachte. Am hilflosen Blick meiner Freunde erkannte ich, dass ich ihnen wieder zu viele Buchstaben und Zahlenkombinationen um die Ohren gehauen hatte.
Der oder die P2, P steht für Purser, zu deutsch verantwortlicher Flugbegleiter, hebt sich durch die 2 vom P1 ab, ebenfalls ein Purser, aber eine Stufe niedriger. Ihre Aufgabe ist es, den Flugbegleitern gehörig den Marsch zu blasen. Der P2 ist der Offizier, der seinen Feldwebel, den P1, wissen lässt, was er seinen Soldaten, also uns Flugbegleitern, mitzuteilen hat. Manchmal tut er das auch auf direktem Wege. Unsere P2 hieß Ingeborg Meyer-Küthke, stammte aus Bamberg und war eine echte Dame.
»So, ihr Lieben, nachdem wir jetzt komplett sind. Eins vorweg. Wollt oder besser müsst ihr alle nach Tokio, oder hat sich jemand verirrt?« Schweigen und Kopfschütteln. »Gut, dann legen wir los, bevor gleich die Cockpit kommt. Für alle, die mich noch nicht kennen, ich bin die Inge.«
Das Briefing lief ab, wie Briefings so ablaufen. Zuerst wurden die Arbeitspositionen verteilt. Da ich als Dienstjüngster sowieso das nehmen musste, was übrig blieb, konnte ich mich entspannt zurücklehnen. Plötzlich fiel mir der Umschlag wieder ein. Er ruhte noch immer unangetastet in meinem Pilotenkoffer. Ich würde also frühestens während meiner Pause dazukommen, ihn zu öffnen. Meine Großmutter hatte zu ihren Lebzeiten nicht nur einmal erwähnt, dass Dr. Smoltaczek sich um das Erbe kümmern würde, wenn sie »einmal nicht mehr sei.« Und jetzt war es so weit. Ich hatte an jenem Tag noch mit ihr telefoniert. Sie klang quietschfidel und schien sich zu freuen, dass ich sie besuchen kam. Wie jeden Donnerstag. Zwei Stunden später war sie tot. Ihre Nachbarin, die ihr die Tageszeitung bringen wollte, hatte sich noch gewundert, dass sie nicht aufmachte. Sie ist mit dem Ersatzschlüssel rein. Meine Oma saß in ihrem geliebten Sessel. Den Kopf zur Seite geneigt, die Augen geschlossen. Nichts an ihr deutete darauf hin, dass sie nicht mehr lebte. Selbst die Fernsehzeitung lag noch auf ihrem Schoß. Als ob sie gerade eingeschlafen sei. So war es vermutlich auch. Allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass ...
»Okay, Horst, dann bleibt für dich die 4R, ja?« Inge sah mich über ihre rahmenlose Brille hinweg an.
Ich nickte lächelnd. »Ja, klar, gerne.«
Es muss bescheuert geklungen haben. Die Hälfte der Crew lachte.
»Na, dann sind ja ganz offensichtlich alle happy.« Sie blickte in die Runde. »Wie sieht's mit medizinischen Vorkenntnissen aus? Ist jemand vorbelastet? Ex-Sanitäter oder Krankenschwester?«
Es dauerte einen Augenblick, bis sich die Kollegin neben mir zu Wort meldete. »Ich war mal Hebamme. Das ist zwar schon über zehn Jahre her, aber wenn es nicht gerade eine Steißlage ist, kriegen wir das schon hin. Fahrradfahren und Kinder zur Welt bringen verlernt man angeblich nicht.«
»Sehr schön, gut zu wissen.« Inge nickte Helga freundlich zu. »Sonst noch jemand?« Nach einer Pause fuhr sie fort. »Wir haben heute nämlich laut meinen Unterlagen keinen Arzt an Bord. Das muss zwar nichts heißen, aber eventuell müssen wir uns im Fall des Falles selbst helfen. Lasst uns ganz kurz zusammen durchsprechen, wie wir vorgehen. Angenommen, wir kommen zu einem Gast, der zusammengekauert in seinem Sitz hockt. Was machen wir zuallererst?«
Keine 15 Minuten später nahm ich in der hintersten Reihe des Busses Platz, der die Crew zum Flugzeug bringen würde. Ich hatte mein Telefon in der Hand und überlegte, ob ich Carola nochmal anrufen sollte. Sie würde sich bestimmt nicht melden, soviel war klar. Ich bin der deutlich Harmoniebedürftigere von uns beiden und kann es nicht ausstehen, im Streit auseinanderzugehen. Es blieb ein fader Nachgeschmack. Auf der anderen Seite: Was hätte ich ihr sagen sollen? Dass es mir leid täte, sie alleinzulassen? Um eine bescheuerte Antwort einzukassieren?
Das Beste wäre gewesen, ihr einfach Frohe Weihnachten zu wünschen und ihr zu sagen, dass ich sie liebhatte.