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KAPITEL 1
ОглавлениеDer Geschmack in meinem Mund war fies. Gut, der Wecker hatte zu früh geklingelt. Und dass Tiefkühlpizza mit Zwiebeln und Thunfisch nicht an oberster Stelle der WHO-Liste für ausgewogene und bekömmliche Lebensmittel steht, muss seinen Grund haben. Die Hautfetzen waren es definitiv nicht, die mir wie immer nach dem Genuss besagter Pizza vom Gaumendach herabhingen. Auch hatte ich die Finger von Carolas Zigaretten gelassen. Dennoch spürte ich, dass an diesem frühen Morgen irgendwo zwischen Zungenspitze und Zäpfchen etwas in Maulwurfsgröße munter vor sich hinverweste. Außerdem war mein Mund irgendwie trocken und klebrig. So konnte ich das ganze Elend noch nicht einmal mit einer ordentlichen Portion Spucke herunterschlucken.
Die meisten Menschen hätten sich nun einfach die Zähne geputzt oder einen starken Kaffee gekocht und das Problem wäre erledigt gewesen. Nicht weiter erwähnenswert. In meinem Fall jedoch lagen die Dinge anders. Ich bin alles andere als ein abergläubischer Zeitgenosse. Ich würde mich als durchschnittlich sensiblen, weitgehend unreligiösen, den Naturgesetzen vertrauenden und im Großen und Ganzen klar denkenden Mittzwanziger beschreiben. Die Affinität meiner Mutter zu Sternzeichen war mir immer ein Gräuel. Freitag der Dreizehnte, wie auch immer gefärbte Katzen, homöopathische Zuckerstreusel und Glückskekse schwammen mir in völliger Gleichgültigkeit am Arsch vorbei.
Andererseits: Eine Marienerscheinung bleibt eine Marienerscheinung. Auch wenn man selbst der Einzige ist, dem sich die Gute offenbart hat.
In meinem Fall war es keine Marienerscheinung, sondern ein langer, schlecht schmeckender Pfad der Erkenntnis. Seinen Anfang nahm dies alles vor vielen Jahren. Damals war ich als Kind mit sieben Jahren im Auto eingeschlafen. Meine Eltern waren mit mir auf dem Weg in den Urlaub, nach Südfrankreich. Um Zeit zu sparen, hatte mein Vater einen McDrive angesteuert. Den Cheeseburger hatte ich fast auf, als mich schlagartig die Müdigkeit übermannte. Das Aufwachen war ein Albtraum. Den letzten Bissen hatte ich nicht heruntergeschluckt, sondern wie ein Hamster in einer Backe geparkt. Unbeschreiblich. Sechs minus. Tatsächlich erlitten wir noch in derselben Nacht einen Unfall. Eigentlich nur einen Auffahrunfall mit Blechschaden. Nicht aus Sicht meines Meerschweinchens. Es gab noch ein kurzes Quieken von sich, dann herrschte Ruhe. Meerschweinchenmäßig. Mir war klar, dass da was nicht stimmte.
Was, bitteschön, ein halbverdauter Käse-Fleisch-Brötchen-Klumpen und der Genickbruch eines Meerschweinchens infolge eines Autounfalls miteinander zu tun haben? Isoliert betrachtet nichts. Im Laufe der Monate und Jahre war mir aufgefallen, dass sich unliebsame Ereignisse durch eine unangenehm schmeckende Morgenstunde ankündigten. Ja, noch viel mehr. Ich vermochte eine direkte Korrelation herzustellen zwischen der Tragweite der Geschehnisse und dem Grad der vermeintlichen Fäulnis, den mir meine Zunge signalisierte.
Nun würde ich all diese Dinge normalerweise als Hokuspokus und Scharlatanerie abtun, aber es ist, wie es ist. Ich habe recherchiert. Die Römer analysierten den Vogelflug, die Inkas kauten Kokablätter und ein Stamm im Bergland von Papua-Neuguinea schart sich allmorgendlich lauthals debattierend um die mehr oder weniger lehmartigen Absonderungen ihres Häuptlings, um das Jagdglück für diesen Tag abzuschätzen. Ich hingegen sträubte mich bis heute gegen jede Art der Vorherbestimmung. Zeitweise ging ich so weit, eine Art Protokoll zu führen, das diesen Zusammenhang widerlegen sollte. Anfangs hatte ich mir noch die Mühe gemacht, nach geeigneten Adjektiven zu suchen. Irgendwann bin ich dann der Einfachheit halber auf Schulnoten umgestiegen. Das war wenigstens praktikabel.
Jenem 23. Dezember, dem Morgen nach der Tiefkühlpizza, hätte ich eine glatte Fünf verpasst. Vielleicht sogar eine Fünf minus. Das ist im Nachhinein schwer zu beurteilen. In keinem Fall aber schmeckte der Morgen nach einer Sechs. Schon gar nicht nach einer Sechs minus. Die war reserviert für ganz üble Geschichten. Todesfälle in meinem Umfeld und Havarien von Atomreaktoren.
Dass dieser Dezembertag eine Sechs minus war, hätte ich zu diesem Zeitpunkt niemals gedacht. Nicht, als ich meine Bettdecke zurückschlug.
Trotzdem. Mir blieb nichts anderes übrig, als aufzustehn, mir die Zähne zu putzen und eine Kanne Kaffee zu trinken.
Mit dem Kaffee in der Hand zog ich das Küchenrollo hoch. Der Blick auf die Straßenlaterne stimmte mich zufrieden. Ein typischer Dezembertag. Düster, grau und laut Vorhersage weitgehend niederschlagsfrei. Kein Schneegestöber, kein Eisregen, kein Problem. Gott sei Dank. Von meiner Wohnung in Milbertshofen brauchte ich unter normalen Bedingungen fünfundzwanzig Minuten bis zum Flughafen. Damit hatte ich immer noch eine gute halbe Stunde Luft, um meine Uniform anzuziehen, die vorgebundene Krawatte überzustreifen und Fittipaldi einzupacken. Das würde mich keine zehn Minuten kosten. Hatte ich getestet. Für den Fall der Fälle. Die Stunde Zeit, die mir nach einem Anruf blieb, galt für den Ernstfall. Und wenn man den Kollegen Glauben schenkte, war der gar nicht so wahrscheinlich. Sofern das Wetter mitspielte. Für gewöhnlich wurde man früher informiert.
Bis mittags geschah nichts. Ich saß da. Das heißt, natürlich saß ich nicht einfach nur da. Ich schlich um mein Mobiltelefon herum, in ständiger Angst, es könnte spontan ausgehen, das Netz zusammenbrechen oder ich das Klingeln überhören. Alle fünf Minuten prüfte ich das Display, ob alles stimmte. Ich war erst drei Monate bei der German Imperial und es kursierten Horrorgeschichten, dass man deswegen gekündigt werden konnte. Stichwort Probezeit.
Gegen neun schaltete ich zwischen Tasse 5 und 6 den Fernseher ein und blieb bei einem Zeichentrickfilm auf dem Kika hängen. Das Handy stand neben dem Bildschirm. Von der Sendung bekam ich nicht viel mit. Den Ton hatte ich so leise gestellt, dass man den Figuren schon vom Mund ablesen musste, um den Dialogen zu folgen. Eineinhalb Stunden später war mir auch das zu blöd geworden. Ich wagte mich an einfache Hausarbeiten. Zunächst befreite ich den Duschablauf von den Haarwickeln der letzten zwölf Monate. Man hätte daraus ohne Weiteres eine ansehnliche Puppenperücke flechten können. Dann machte ich mich mit einer Rasierklinge an den Kalkablagerungen unterhalb des Kloschüsselrands zu schaffen und taute schließlich mit Unterstützung eines Föhns das Eisfach ab. Der Vormittag verstrich und der Radius um mein Handy vergrößerte sich zusehends. Bis eins blitzten meine vierzig Quadratmeter. Die Kakteensammlung war gegossen und die Scheiben von Fittipaldis Terrarium waren so sauber wie noch nie. Mein Telefon jedoch blieb tot. Mausetot. So tot, dass ich mir ernsthaft Sorgen machte, ob es kaputt war. Allen Freunden hatte ich verboten, mich anzurufen. Für den nicht aufzuschiebenden Katastrophenfall hatte ich ihnen erlaubt, mir eine kurze SMS zu schicken. Offenbar hatten es alle kapiert. Aber ich traute dem Braten nicht. Ich warf mein Uralt-Laptop an und wartete darauf, dass der Computer das Netz fand. Es dauerte nicht lange, bis er sich mit Violoncella32 verband. Mir ein Rätsel, warum der Zugang nicht verschlüsselt war. Klar, es ist nicht okay, einen fremden WLAN-Zugang zu benutzen. Aber erstens hatte meine Nachbarin mit Sicherheit eine Flatrate und zweitens besuchte ich weder Kinderpornoseiten noch lud ich mir über ihren Account Anleitungen zum Bau von Sprengstoffgürteln herunter. Ich betrachtete es gewissermaßen als Ausgleich für das Gefiedel, wenn sie wieder einem dieser Schraazn Geigenunterricht gab. Und ich konnte mir einen eigenen Internetzugang sparen. Liberalitas Bavariae, unter uns Lateinern. Leben und leben lassen. Ich schrieb Benny eine Mail auf sein iPhone mit der Bitte, mir eine Test-SMS zu schicken. Es dauerte keine Minute, bis mir das vertraute Froschquaken den Eingang einer Kurznachricht ankündigte:
hallo. bleiben sie ruhig, es wird ihnen nichts geschehen. dies ist nicht ihr arbeitgeber und sie müssen auch nicht nach asarbaitschan fliegen. frohe weihnachten und dicke eier.
Dicke Eier. Wenn der wüsste. Ich hatte im Augenblick andere Sorgen.
Falls die Firma mich heute nicht rief, dann hätte ich morgen frei. Den 24. Dezember, Heiligabend. Frei. In Wirklichkeit: der unfreieste Mensch auf der ganzen Welt.
Sämtliche Kollegen hatten mir glaubhaft versichert, dass ein Standby-Block über Weihnachten mit meinem niedrigen Dienstalter eine Hundertprozentchance darstellte, das Fest in Karachi, Daressalam oder Winnipeg zu begehen. Flugziele, die schon außerhalb der Feiertagssaison nicht zu den Topfavoriten der Kollegen gehörten. Mir völlig egal. Alles, nur nicht zu Hause bleiben. Von mir aus auch Aserbaidschan.
Was erschwerend hinzukam: Ich hatte für keinen der Seizingers ein Geschenk besorgt. Gut, Carola und ich hatten ausgemacht, dass wir uns in diesem Jahr nichts schenken würden. Das galt aber nicht für den Rest der Familie. Niemand würde mir die Ausrede durchgehen lassen, dass ich am 23. Bereitschaft hatte und somit unmöglich Geschenke besorgen konnte. Natürlich würde Elfriede behaupten, alles wäre kein Problem, sie legten nicht den geringsten Wert auf Geschenke. Aber Carola würde keinen Hehl aus ihrem Zorn machen. Sie würde mich zuerst mit ihren Blicken töten und dann mit zwei Wochen Sexentzug bestrafen.
Mal wieder halt.
Mein Telefon blieb stumm. Stumm, wie nur ein Telefon stumm sein kann. Ich musste mich mit dem Gedanken anfreunden, das Heilige Fest im Hause Seizinger zu verbringen. Folglich mussten Geschenke her. Die Biografie irgendeines Politikers für Erwin, Musik-CDs für Judith und Carina und ... tja, das war die Frage. Was schenkt man einer Zweiundfünfzigjährigen, deren Hauptinteresse ihren drei Töchtern und deren Wohlergehen gilt?
In der Hoffnung auf eine göttliche Eingebung band ich meine Schnürsenkel. Kurz darauf stand ich vor meiner Wohnungstür. Ich hatte die Hand noch an der Klinke, als es mich wie ein Stromstoß durchfuhr: Es klingelte! Mit einer geschmeidigen Bewegung griff ich in die Tasche meines Parkas, nahm das Handy heraus und öffnete die Klappe. Ich presste das Gerät ans Ohr und brachte ein schnelles »Horst Hentschel« heraus.
Keine Antwort. Ich sah auf das Display. Tot. Offenbar war ich mit dem Ohr an den winzigen Schalter mit dem roten Telefon gekommen. Oh nein! Ich wollte gerade die Anrufliste aufrufen, da klingelte es erneut. Allerdings nicht das Handy. Diesmal kam das Klingeln aus meiner Wohnung. Ich nestelte an der Vordertasche meiner Jeans herum, bekam den Schlüssel zu fassen und bugsierte ihn erfolgreich ins Schloss. Mit einem Hechtsprung war ich beim Telefon. Leider war ich nicht der Einzige, der katzengleich reagierte. Während ich nach dem Hörer griff, sah ich ein graues Etwas, einem fliegenden Bettvorleger gleich, vom Treppenabsatz aus, mehrere Stufen gleichzeitig nehmend, an mir vorbei in die Wohnung zischen.
»Marlene, du Drecksvieh!«
»Wie bitte?«
»Oh!«
»Herr Hentschel, sind Sie das?«
»Äh, ja, Entschuldigung, ich habe bloß ...«
»Vollmer, Besatzungseinsatz. Guten Tag, wir hätten einen Flug für Sie. Haben Sie was zum Schreiben?«
»Kleinen Augenblick, bitte.«
Im Nu war ich in der Küche. Jetzt bitte nicht nur Köln hin und her. Mitten auf dem Tisch hatte ich Block und Stift platziert. Niemand sollte behaupten, ich hätte für meine Rettung nicht vorgesorgt.
»Okay, schießen Sie los.« Mit dem Fuß kickte ich Marlene weg, die mir mit hoch aufgerichtetem Schwanz um die Beine strich.
»Es geht mit der 362 nach Tokio, Abflug 1445 UTC, also gleich, und am 26. mit der 363 zurück, Landung um 1635 UTC. Und wie gesagt, es eilt. Eine Kollegin hat sich kurzfristig krankgemeldet. Briefing ist in fünfundvierzig Minuten.«
Das war knapp. »Alles klar, kein Problem!«, rief ich. Als ob Gefahr bestünde, dass es sich die Firma noch anders überlegen konnte.
»Danke, Herr Hentschel, und Frohe Feiertage.«
»Ihnen auch, danke!«
Ich blickte auf das Display. Die Verbindung war bereits unterbrochen.
»Jaaaaa!«, schrie ich laut, während ich unter effektvollem Arschgewackel einem brasilianischen Torschützenkönig gleich ins Schlafzimmer tänzelte und parallel meinen Parka auszog. Japan! Was für ein Traum! Erst am Sechsundzwanzigsten zurück! Familie Seizinger traditionell bereits auf dem Weg nach Südtirol! Keine Weihnachten, keine Geschenke!
Dafür Überstunden. Ich rechnete kurz nach. Tokio war einer der langen Flüge und gab hin und zurück über zwanzig Stunden Flugzeit. Damit hatte ich bestimmt zehn Überstunden. Und Spesen gabs für drei Tage. Geld, das ich nach dem Krater, den die Südostasienreise in meiner Finanzlandschaft hinterlassen hatte, gut gebrauchen konnte. Ich war völlig blank.
Doch zuvor gabs da noch ein Problem – und das war grau.