Читать книгу Heilige und Gesegnete - Aurelia Dukay - Страница 6

2. Engelszungen

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Als Caterinas Wecker klingelte, verfluchte sie sich selbst und den Rest der Welt. Die Flasche Rotwein, von der sie gestern nur einen Schluck, vielleicht ein Gläschen hatte trinken wollen, die sie dann aber doch ganz geleert hatte, forderte ihren Tribut.

Der angekündigte Regen war gekommen, das bedeutete noch mehr Chaos auf den Straßen, was unvereinbar mit ihren unerbittlichen Kopfschmerzenden war. Zudem leuchtete ihr Hintern blau und grün, obwohl sie Zentner von Arnikasalbe darauf geschmiert hatte. Ein Haufen Papierkram wartete im Kommissariat auf sie, elende Bürokratie die keine Gnade kannte.

Nach der morgendlichen Toilette überschminkte sie die dunklen Augenringe mit einer doppelten Schicht Abdeckstift und schlüpfte in ein blaues Etuikleid von Prada, das sie kürzlich in Rom gekauft hatte. Dazu blaue Pumps, einen beigen Trenchcoat und die blaue Shoppingtasche. Sie achtete penibel darauf, nie mehr als zwei verschiedene Farben zu tragen.

Das Polizeipräsidium lag auf halbem Weg zwischen dem Altstadtviertel und dem Hafen, hinter der barocken Kirche Sant Antonio und dem Opernhaus, in der kleinen Piazza Nettuno mit einem Brunnen in der Mitte, auf dem ein nackter Neptun thronte. Bevor man in die Piazza einmündete, kam man an einer Cafférösterei vorbei, die den Ruf genoss, den besten Espresso der Stadt zu brühen und zudem noch köstlichstes Gebäck herstellte.

Caterina stellte den Cinquecento auf ihrem Parkplatz ab und ging ins Café Nettuno. An der Theke bestellte sie einen doppelten Espresso und Cantuccini des Hauses, die sie in die Tasse hineintunkte, während sie die Zeitung las.

Überall derselbe Schund, widerlich.

Je nach Zeitung stand über die Tote nur eine Zeile oder eine ganze Spalte mit Foto, der Inhalt immer derselbe, im schönsten Journalistenjargon zusammengereimter Schwachsinn.

Die Medien waren doch nur ein von den politischen Parteien gelenktes, auf Papier gedrucktes Schattenparlament. Nur den investigativen Journalisten fühlte sie sich verbunden, die waren die Einzigen, die Respekt verdienten.

Als sie sich dem nächsten Artikel widmete verharrte sie kurz.

„Die Schande meiner Zunft“ war er schwülstig überschrieben, und verwies auf einen Inhalt, der für das Medienzeitalter eine ungewohnt gehaltvolle Tiefe versprach.

Von Chefredakteur Giorgio Bernardi:

Als ich noch ein kleiner Junge war, sagte meine Mutter zu mir: „In einer Welt voller Verrückter ist der Verrückte der Normale. Junge, sieh zweimal hin, bevor du über jemanden urteilst, ob er dieses Urteil auch verdient.“ Als ich dann als junger Spund in meine erste Redaktion kam, sagte mein Chefredakteur zu mir: „Sohn, wenn du diesen Beruf ausüben willst, muss dein Geist so offen sein wie die Beine einer kubanischen Hure. Denn du musst sehen, was andere ignorieren, um an die Wahrheit zu gelangen.“

Im Grunde hatten beide dasselbe gesagt, nur mit etwas anderen Worten.

In meiner langjährigen Laufbahn als Journalist konnte ich viel erleben, hinter viele Fassaden blicken, Zeuge unzähliger Tragödien und tiefer menschlicher Abgründe werden. Ich sah viel und nur wenig berührte mich noch. Zynismus ist nun mal die schreckliche Begleiterscheinung meiner Zunft. Doch keiner dieser Ereignisse hat mich jemals so tief berührt wie das Schicksal dieser Person, die - obwohl mir vollkommen fremd - unwiderruflich in mein Gehirn gebrannt ist.

Ein schlafender Engel lag auf dem rauen Asphalt, die Haare golden in der Sonne schimmernd wie kostbare Seide. Nur am Ansatz kam die natürliche Farbe durch. Ihr junger Körper, schlank und makellos, gehüllt in weißes Leichentuch. Keiner, der um sie weinte, niemand, den sie zurückgelassen hatte, außer dem alten Vater.

Ich hatte dieses Mädchen schon zuvor gesehen, heruntergekommen, blass, ein Schatten ihrer selbst. Die Haare zerzaust, die Haut fahl, das Gesicht abgemagert. Nur ihre großen braunen Augen und die vollen Lippen erinnerten vage an die blühende Schönheit, die sie vor nicht allzu langer Zeit gewesen sein musste, und die das Leben ihr viel zu früh nahm. Trotz allem ist sie mir in der Menschenmenge aufgefallen. Weil sie so unendlich traurig aussah.

In ihrem Zimmer fand ich einen Briefwechsel. Ich las die Briefe. Sie handelten von jenen Schicksalen, die sich tagtäglich von der hektischen Welt unbemerkt hinter verschlossener Tür oder sogar im Nachbarzimmer abspielen. Unangenehme Wahrheiten, die Journalisten oder diejenigen, die sich für solche halten, als Tratsch abtun. Aber als Chronist kann ich den Lesern diese Geschichte nicht vorenthalten, denn sie erzählt von einem dieser typischen Charaktere, wie sie nur der Verfall dieser verlorenen Generation hervorbringen konnte.

Auszüge aus dem Briefwechsel exklusiv in der Sonntagsausgabe.

Es war Dienstag.

Caterina kochte vor Wut. Wie konnte das der Spurensicherung gestern entgangen sein. Stümper! Sie musste um jeden Preis verhindern, dass die möglichen Beweismaterialien veröffentlicht wurden. Noch vertieft in die Lektüre, strömte ihr von gegenüber ein süßlich penetrantes Rasierwasser entgegen, vermischt mit beißendem Tabakgeruch, der immer intensiver in ihre Nasenhöhlen drang.

„Unsere Kommissarin ist eine Rote“, sagte eine tiefe Stimme.

Wenn Caterina eines hasste, dann Witze oder Kommentare über ihre Haarfarbe.

„Wie bitte“, sagte sie in scharfem Ton.

„Sie lesen ‚La Piazza’, na ja, die kommunistischste Zeitung der Stadt. Dass die überhaupt jemand liest.“

Caterina blicke von der Zeitung auf und taxierte ihr Gegenüber: Vor ihr stand ein großer, schlanker Mann mit krausem Haar, glattrasiert, im grauen Anzug, teuren Lederschuhen, schwarzer Aktentasche und dem Blick derer, die sich für etwas Besseres hielten, weil sie das System austricksten. Anwalt!

„La Menta, wie die Minze. Strafverteidiger. Sie buchten sie ein, ich hole sie raus.“ Er grinste schelmisch über seinen eigenen dämlichen Spruch.

Aus einem beschlagenen Glas trank er einen Schluck eisiges Wasser.

„Sie sollten nicht alles glauben, was die schreiben, schon gar nicht diese Kommunisten von ‚La Piazza’.

Caterina lächelte kommentarlos.

„Darf ich Sie zu einem Caffé einladen, Commissario Calanca?“

Dieser Typ hatte etwas Aalglattes, was ihr den Caffé wieder zurück in die Speiseröhre laufen ließ.

„Liebend gerne, aber ich war im Begriff zu gehen, dringende Termine.“

„Ich bestehe darauf. Sergio, zwei Caffé. Schwarz oder macchiato, Commissario?“

„Schwarz”, kapitulierte Caterina.

„Sie sind also die Nachfolgerin von Commissario Gesualdo Russo. Wusstest du, Sergio, dass sie nicht nur die schönste, sondern auch die jüngste Kommissarin Italiens ist. Und wir haben das Glück, sie bei uns zu haben.“

Caterina lächelte sichtlich verstört von so viel unnötiger Arschkriecherei.

„Nun ist die Frage, haben Sie auch den physique du rôle?”

Caternia stockte.

„Ihr Vorgänger, der wusste Bescheid. Ein gewisser Umgangston, kleine Gefälligkeiten sind das Schmieröl unserer ach so wunderbar komplexen Gesellschaft, ohne die alles ins Stocken gerät. Sie sind doch ehrgeizig, wollen bestimmt weiterkommen. Nun, ich kenne viele Leute hier in der Stadt, von hochrangigen Persönlichkeiten bis zu einfachen Straßenhändlern. Falls Sie etwas benötigen sollten, hier ist meine Karte.“ Als er ihr die Visitenkarte reichte, blitzte eine goldene Uhr grell auf.

„Ich muss jetzt wirklich los.“

„Alles auf mich, Sergio“, rief er laut über die ganze Bar.

„Nein, ich zahle selbst, danke.“

„Sie verstehen nicht, hier im Süden sind wir Männer Kavaliere. Es ist verpönt, eine Frau bezahlen zu lassen. Lassen Sie es zu, das macht das Leben leichter.“

Dieser schmierige Typ war Gift für ihr Gemüt, das ihr schon um neun Uhr morgens die Galle hochgekommen ließ.

„Schönen Tag noch“, sagte sie mit falschem Lächeln.

„Übrigens, Commissario, ich wollte Ihnen noch sagen, dass –“

Ohne ihn weiter zu beachten, brach sie zum Präsidium auf.

Am Eingang saß Cinzia in Polizeiuniform, der Caterina ihre Frage nach der Adresse der „La Piazza“ zurief: „Finde heraus, wann Redaktionsschluss ist.“ Hinter dem aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Atrium lag ihre Abteilung. Stinksauer mit der gefalteten „Piazza“ unterm Arm stöckelte sie zu ihrem Büro.

„Commissario, Commissario“, rief ein Mitarbeiter durch den Gang. Zu viel für ihren verkaterten Kopf. Sie befahl Vice-Commissario Tommaso Salinas und Ispettore Ugo Grillo unverzüglich in ihr Büro.

Tommaso war ein aufgeweckter Kerl, etwas älter als sie, vielleicht Mitte dreißig, ehrgeizig, seit Kurzem Vater einer kleinen Tochter und ambitioniert, eines Tages ihren Posten zu übernehmen. Dass dieser nach der Pensionierung von Russo nicht an ihn, sondern an eine jüngere Frau aus dem Norden ging, frustrierte ihn zwar, aber er ließ es nicht an Caterina aus, was sie zu schätzen wusste. Angeblich musste er noch Erfahrungen sammeln, aber beide wussten, dass politische Gründe hinter diesem Schachzug steckten, auf die weder Caterina noch Tommaso Einfluss hatten.

Ugo schien aus anderem Holz geschnitzt zu sein. Gröber, träger und weitaus weniger intelligent als Tommaso, dafür mit der List des kleinen Mannes ausgestattet. Er war ein Relikt ihres Vorgängers, das sie hinnehmen musste.

Nervös wippte Caterina mit der Schuhspitze unterm Schreibtisch des mit alten Holzmöbeln eingerichteten Büros und sah die beiden mit zusammengekniffenen Augen an.

„Heute mit dem falschen Fuß aufgestanden, was Commissario“, fragte Ugo mit einem idiotischen Grinsen. Nur mit großer Selbstbeherrschung konnte sie fortfahren. Mit dem Finger klopfte sie auf die Titelseite von A.s kommunistischster Zeitung.

„Warum wurden diese Briefe nicht beschlagnahmt. Wie zum Teufel –“

„Commissario, entschuldigen Sie die Unterbrechung“, sagte Tommaso sanft, „aber da war nichts in dem Zimmer. Nur das Notizbuch, und das haben Sie ja mitgenommen. Und einen Laptop, darin hat die Spurensicherung nichts auffälliges gefunden“

Caterina machte einen tiefen Atemzug und spielte mit Zeigefinger und Daumen an ihren langen roten Haaren.

„Soso“, sagte sie und verschwieg vorerst, dass sie der Sache nachgehen würde.

„Ist der Obduktionsbericht schon da, vermutlich nicht.“

„Doch“, sagte Ugo mit stolzer Miene.

„Ach. Und?“

Tommaso wollte das Wort ergreifen, doch Caterina stoppte ihn mit einer Geste.

„Nun, Ispettore Grillo, was steht darin. Nur die relevanten Fakten bitte.“

Er wurde unruhig, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, das runde Gesicht lief rot an. Tommaso warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, den sie ignorierte, während Ugo den dünnen Pappumschlag aufklappte und sich über ihn beugte.

„Nun … ähm … also: Die Tote hieß Emma Bellacqua, achtundzwanzig Jahre, Journalistin bei TGA, dem hiesigen Lokalsender. Die Wunde am Kopf und die fehlende, ähm, also das Ergebnis der Toxi– … Drogen -“ Mein Gott, dieses Gestammel war unerträglich. Sie lächelte ihn an wie man hoffnungslos unbegabte Schüler anlächelte.

„Danke. Vielleicht möchte Vice Commissario Salinas noch etwas dazu sagen.“

Tomaso kannte den Obduktionsbericht auswendig.

„Todesursache Schädelbruch sowie innere Blutungen verursacht durch den Aufprall. Keine Spuren von einem Kampf oder Vergewaltigung. Toxikologischer Befund war negativ. Sonstige Fremdeinwirkungen ebenfalls negativ, es wurden weder Fingerabdrücke noch Splitter, Fasern oder Blutergüsse an der Leiche gefunden. Der Tod trat sofort ein.“ Caterina nickte zufrieden.

„Was hat die Zeugenbefragung ergeben? Hat wohl keiner etwas gesehen, was?“

„Nicht so voreilig Commissario, haben Sie etwas Vertrauen. Alle die wir befragten, circa acht Zeugen, darunter Passanten und ein Parkwächter, sahen wie die Bellacqua wenige Augenblicke am Fenster verharrte, mit dem Blick erst in die Ferne gerichtet und dann nach unten, bevor sie sprang. Niemand sah eine andere Person am Fenster stehen, der Vater war nicht zu Hause, als es passierte, noch schien sie irrtümlich gefallen zu sein.“

Caterina faltete die Hände und stütze ihren Kopf darauf.

„Zu welchem Schluss seid ihr gekommen?“

„Eindeutig Selbstmord, Commissario“, sagte Tommaso und Ugo nickte zustimmend.

„Dann kann ich die Akte schließen?“

„Ja“, sagten sie im Chor.

„Aber zuerst muss ich zum Chefredakteur der Piazza.

„Viel Erfolg, Commissario.“ Sie standen auf und gingen zur Tür. „Übrigens, Commissario –“, sagte Ugo beim Hinausgehen, aber er wurde von der entgegenkommenden Cinzia abgehalten, weiterzureden.

„Hier ist die Adresse der Redaktion Commissario, liegt nicht weit von hier, in der Via Della Minerva. Redaktionsschluss ist um zwanzig Uhr. Ich habe Ihnen auch die Telefonnummer aufgeschrieben, aber mit Verlaub, ein Ratschlag, vielleicht sollten Sie direkt hinfahren. Wenn Sie einen Termin vereinbaren, dann kann es sein, dass der Chefredakteur zu beschäftigt ist.“

„Sehr gut, Cinzia, aber ich bin Kommissarin, das wäre ja absurd.“ Cinzia zuckte mit den Achseln, und Caterina hob den Hörer ab.

Die Sekretärin von „La Piazza“ würde den Terminplan ihres Chefs checken und sofort zurückrufen, na bitte.

„Das wäre dann alles, Cinzia.“

Die junge Polizistin lächelte und machte einen Schritt in Richtung Tür. Dann drehte sie sich nochmals um: „Übrigens, Commissario, Sie –“ Der metallene Ton des veralteten Telefons unterbrach sie, Caterina hob ab und man hörte wie Cinzias Schritte sich entfernten.

„Calanca.“

„Commissario, hier spricht die Redaktion von La Piazza. Chefredakteur Bernardi bedauert es wirklich sehr, aber er hat heute leider keine Zeit für Sie. Ich rufe Sie morgen wieder an, Commissario.“

Sie beendeten das Gespräch und Caterina stieg erneut der Caffé empor. Für wen zum Henker hielten die sich alle. Keinen Respekt vor Autoritäten. Aber Cinzia hatte sie vorgewarnt.

Entrüstet nahm sie ihre Chanel-Tasche und fuhr in die Via Della Minerva, fuchtelte vor der molligen Sekretärin mit ihrer Polizeimarke, drohte mit einem Aufstand, einer Klage wegen Behinderung der Justiz, bis diese ihrer Penetranz erlag.

„Die rote Katze, ja, so werde ich Sie von jetzt an nennen. Geschmeidig wie ein roter Puma schlich die Kommissarin auf Samtpfoten in mein Büro“, bemerkte Chefredakteur Bernardi. Ein älterer Mann, hager mit eingefallenen Wangen, graumeliertem Haar und noch dunkleren Augenringen als ihren eigenen heute Morgen, bemerkte Caterina.

„Ihre Süffisanz in allen Ehren, aber ich bin Kriminalkommissarin und versuche, den Tod einer Frau aufzuklären, Dottore Bernardi.“ Sie nahm unaufgefordert Platz.

„Den aggressiven Ton brauchen Sie wohl, um sich im Kommissariat Respekt zu verschaffen. Muss ja nicht einfach sein als junge Frau in diesem Testosteronhaufen. Ich kenne diese Einstellung, manche Frauen in meiner Redaktion machen das genauso. Wie lange sind Sie hier, einen Monat? Sie müssen lernen, dass die Uhren hier anders ticken.“

Er zwirbelte an seinem vergilbten Bart und zündete gelassen eine Zigarette an, deren Asche er in den überfüllten Aschenbecher neben sich auf dem Tisch rieseln ließ.

„Ich befinde mich, wie gesagt, inmitten einer Ermittlung“, sagte sie. „Und die Zeit drängt.“

„Wenn Tote von etwas im Überfluss haben, dann ist es Zeit. Aber da Sie schon mal hier sind, was kann ich für Sie tun?“

„Ich komme gleich zum Punkt. Ihr Artikel über Emma Bellacqua, da steht was von Briefen –“

Er lachte laut auf.

„Ach, das.“

„Was ist so lustig daran.“

„Ein gewisser La Menta war bereits hier, der wollte dasselbe wie Sie. Jetzt habe ich den perfekten Vorwand. Die Polizei hat mir die Briefe abgenommen.“

„Ich verstehe nicht.“

„Nun, ich habe mir das alles nur ausgedacht. Fragen Sie den Vater der Toten, ich war nie in dem Appartement. Mein Ziel war es, jemanden zu piesacken, und es ist mir gelungen.“

Also hatten Tommaso und Ugo die Wahrheit gesagt. Sie würde sich bei ihnen entschuldigen – oder auch nicht.

„Und das soll seriöser Journalismus sein?“

Er krempelte den Ärmel seines hellblauen Hemdes hoch, lehnte sich vor, stütze die Ellbogen auf und sah Caterina mit bohrendem Blick direkt in die blauen Augen.

„Was kann ich schon tun. Strafverfolgung ist nicht mein Job, sondern Ihrer. Ich führe meinen Kampf mit Worten.“

Er nahm einen so intensiven Zug an seiner Zigarette, dass die noch glühende Asche auf den Tisch fiel. Mit einer raschen Handbewegung wischte er sie vom Tisch in einen großen kristallenen Aschenbecher.

„Die Bellacqua, die war ein frischer Wind in diesem vulgären Zirkus den man heutzutage Fernsehen nennt. Kein Vergleich zu den überschminkten, inkompetenten Hühnern mit den Ich-will-unbedingt-ins-Fernsehen-Gesichtern, diesen nützlichen Idioten, die man hinter die Moderationstische der Lokalsender setzt. Emma war auf dem Weg, ein echter Profi zu werden, blickte in eine strahlende Zukunft, hätte sie sich nur in einem anderen Land befunden. Doch dann machte sie einen Fehler.“

„Welchen Fehler?“

„Kann ich nicht sagen, Berufsgeheimnis.“

Caterina knirschte mit den Zähnen.

Er zog wieder an der Zigarette und blies den Rauch ringförmig aus.

„Ah, diese Zigaretten. Das Laster, Commissario. Das Laster ist die wahre Geißel unserer Gesellschaft.“ Er drückte den Glimmstängel aus.

„Nun, gegen das Laster an sich ist nichts einzuwenden. Aber wenn es zur Modeerscheinung wird, verwandelt es sich in Tugend. Eine Art kriegerischer Akt gegen die Moral einer gesamten Generation. Etabliert sich das Laster dann zum Motor eines Machtsystems, dann sollte die Öffentlichkeit aufwachen. Lassen Sie es mich so formulieren: Wir haben einen Caravaggio unter uns, der aus Huren Heilige sowie aus Schurken ehrbare Männer macht. Er nutzt schamlos die Sittenlosigkeit aus, um seine Macht damit zu nähren. Aber muss ich das hinnehmen? Muss ich hinnehmen, dass Arbeitslosigkeit, leere Stadtkassen uns von Rom abhängig machen wie einen Fixer von seinem Dealer, um mit der rettenden Finanzspritze das marode System wiederzubeleben? Die Trägheit der Menschen hier macht das alles möglich, sie nehmen diesen Zustand mit Nonchalance hin, anstatt eine Revolution anzuzetteln. Ja Sie haben richtig gehört, eine Revolution bräuchte man hier!“ Caterina machte ein interessiertes Gesicht, denn sie verstand nur Bahnhof.

„Mit Verlaub, Dottore Bernardi, ich bewundere ihren Elan. Und bei allem Respekt für Ihre Arbeit, aber ich habe keine Zeit, mich mit Machtspielchen abzugeben. Da draußen laufen Verbrecher herum. Jeder von uns sollte seine Kämpfe austragen und nicht dem anderen in die Quere kommen. Also, wenn ich nur ein Wort, egal ob wahr oder erfunden, von einem vermeintlichen Brief der Emma Bellacqua irgendwo abgedruckt sehe, dann verklage ich Sie.“

Er schüttelte ungläubig den Kopf.

„Dieser Stadt sollten Sie etwas gewandter begegnen, wie eine Katze eben, die sich geschmeidig durch die Zwischenräume windet, anstatt auf Konfrontationskurs zu gehen.“

„Auf Wiedersehen, Dottore Bernardi, ich werde Sie mit Eifer lesen.“ Lächelnd stand Caterina auf und gab dem Chefredakteur die Hand.

„Ach, übrigens, Commissario, hübsches Kleid.“

„Danke. Aus dem großzügigen Rom.“

Auf der Rückfahrt zum Kommissariat machte Caterina einen Umweg über das Hafenviertel. Eine innere Unruhe machte sich in ihr breit und ihre Gedanken kreisten wie wilde Fliegen um eine tote Maus. Was zum Teufel war hier los? Wieso löst dieser Selbstmord einen solchen Wirbel aus?

Ja, die Tote war jung und bildschön gewesen, aber als Journalistin viel zu unbedeutend, als dass man sich die Mühe machen würde einen Selbstmord vorzutäuschen, um sie aus dem Weg zu schaffen. Eine Mafiajägerin war sie wahrhaftig nicht.

Und warum würde eine renommierte Tageszeitung wie die La Piazza eine Ente platzieren, um jemanden zu piesacken? Das kann nicht irgendjemand sein? Caterina kam das alles suspekt vor.

Aus dem Fahrerfenster blickend sah sie die Stege, an denen die Frachtschiffe und Fähren anlegten. Am letzten Kai ragte ein enormes Kreuzfahrtschiff empor, das Touristenhorden ein- und wieder auslud. Man merkte es immer, wenn eines dieser Schiffe in der Stadt angelegt hatte, weil die Märkte dann voller kauffreudiger Bummler war.

Moment! Der Markt! Caterina zuckte zusammen, spulte blitzartig ihre Erinnerung zurück, erst schnell, dann immer langsamer wie ein Filmband, bis sie an der entscheidenden Stelle anhielt. Ihr Wagen stoppte am Straßenrand.

Sie stand jetzt wieder am Markt und starrte gedankenverloren auf die Szene, die sich vor ihrem inneren Auge abspielte.

Kurz nachdem der Selbstmord in der Online-Presse erschien, tauchte ein Politiker auf dem Markt in der Nähe des Tatorts auf. Wäre Caterina nicht so brüsk hingeflogen, dann hätte sie dem mehr Bedeutung beigemessen.

Dann wäre ihr am nächsten Morgen im Café Nettuno das zufällige Treffen mit dem aalglatten Strafverteidiger nicht mehr als Zufall vorgekommen.

Und was hatte der Markthändler Pierino gemeint, als er zur dicken Frau gesagt hatte: „Ob ihr Vater wusste, dass sie so eine war?“ Vielleicht war sie eine Edelprostituierte gewesen, die zu viel wusste und erpresst wurde? Oh, Emma Bellacqua, in was bist du da reingeraten?!

Ein lautes, intensives Hupen ließ Caterina aufschrecken.

„Ja, ja, entspann dich, ich fahre ja“, fauchte sie.

Es war bereits später Nachmittag, als Cinzia ins Büro kam. Ihr Gesicht war mit roten Flecken übersät, als hätte sie einen allergischen Ausschlag.

„Commissario, Dottore Rossi würde Sie gerne sprechen“, sagte sie mit bebender Stimme.

“Bitte, er soll hereinkommen!”

Leitender Ermittler der Finanzpolizei Tenente Colonello Marco Rossi, genannt „der Schöne“, war eine lokale Berühmtheit. Die abenteuerlichsten Gerüchte kursierten über ihn, er habe Frauen in den Wahnsinn getrieben, mehr als nur eine Ehe zerstört, im Bett sei er ein Gott und von selbigen mit generösen Attributen gesegnet. Keine könne ihm widerstehen und er würde keine von der Bettkante stoßen, insofern sie seinen Ansprüchen genüge.

Caterina ließ dieser Klatsch – ob er nun stimmte oder nicht - völlig kalt. Es bedurfte mehr als einen testosterongeladenen Stier, um sie in Erregung zu versetzen.

Sich ihrer Immunität gegenüber Rossis Reizen sicher, erlaubte sie sich ihm gegenüber eine distanzierte Freundlichkeit.

„Guten Abend, Tenente Colonello, bitte nehmen Sie Platz.“

Cinzia stand wie versteinert an der Tür, in der Hoffnung, die Trennung von ihrem Schwarm noch hinauszögern zu können, fügte sich aber dann widerwillig den Anweisungen Caterinas, die Tür hinter sich zu schließen.

„Auf Wiedersehen, Tenente“, säuselte Cinzia, und er antwortete mit einem Augenzwinkern. Marco Rossi kannte seine Wirkung auf Frauen nur zu gut, und scheute sich nicht, sie einzusetzen. Sanft strich er über das kurze samtige Haar, begrüßte die Kommissarin mit einem festen Händedruck, ein breites Lächeln entfaltete seine ganze Attraktivität, verfing sich in den braunen Augen, den ebenmäßigen Gesichtszügen, den vollen, sinnlichen Lippen, hinter denen weiße Zähnen aufblitzten. Ein dezenter Duft von Nelken entwich seiner bernsteinfarbenen Haut. Der stattliche, in einer khakibraunen Uniform gekleidete Mann stand in voller Pracht vor der völlig unbeeindruckten Caterina.

„Guten Abend, Commissario. Wie schön, Sie wiederzusehen“, heuchelte er, denn die beiden waren sich von Beginn an unsympathisch.

„Was kann ich für Sie tun, mein lieber Tenente Colonello?“

„Werte Commissario, es geht um den Fall, an dem Sie gerade arbeiten.“

„Den Selbstmord?“

„Ja.“

„Fall ist übertrieben, die Sache ist abgeschlossen.“

„Und wenn ich Sie bitten würde, Ihre, wie soll ich sie nennen, Ermahnung an Dottore Bernardi zurückzunehmen und den Abschlussbericht vielleicht noch einen Weile hinauszuzögern? Anstiftung zum Selbstmord ist strafbar laut Artikel 580 des codice penale.“

„Ich kenne das Strafgesetzbuch.“

Caterina wurde skeptisch.

„Was hat die Finanzpolizei mit einem Selbstmord zu tun?“

„Nun, mit Ihrem Besuch bei La Piazza haben Sie sich in meinen Fall eingemischt, was Sie natürlich nicht wissen konnten.“

Mit den Fingerkuppen strich er sich zaghaft über das glattrasierte Kinn.

„Tatsache ist, dass wir jemanden überwachen, der, sagen wir mal so, indirekt mit der Sache in Verbindung steht. Dieser Artikel sollte eine Falle sein. Wissen Sie, die La Piazza ist einer der wenigen furchtlosen Zeitungen, mit denen wir ab und zu zusammenarbeiten.“

„War die Bellacqua an einer Story dran?“ Zweiter Versuch.

„Ich kann leider nicht über laufende Ermittlungen sprechen, Commissario.“ Er lächelte wieder charmant. Gerissen, „der Schöne“. Zweite Abfuhr.

Caterina lehnte sich zurück, betrachtete ihn kurz, um seiner Offensive mit einem ebenfalls zuckersüßen Lächeln zu entgegnen.

„Sie benutzen eine Selbstmörderin zu Ihren Zwecken, wollen ihren Namen in den Dreck ziehen, um an Ihr Ziel zu kommen, und ich soll Ihnen bei dieser machiavellistischen Art, Ermittlungen zu führen, auch noch helfen, ohne eingeweiht zu werden?“

„Nun, Commissario, eine Hand wäscht die andere. Wenn Sie eines Tages etwas von mir benötigen sollten, dann –“

Sie räusperte sich. „Es gibt keine Beweise, noch nichtmal Indizien im Sinne von Art. 580. Dem Abschlussbericht steht also nichts mehr im Wege.“

Der freundliche Ton, der die bisherige Konversation dominierte, zerschellte augenblicklich an Caterinas Kompromisslosigkeit. Die Kommissarin, die Einmischungen in ihre Fälle partout nicht duldete, empfand es außerdem als Beleidigung, wenn jemand versuchte, sie mit Charme zu manipulieren.

„Manchmal muss man ein kleines Unrecht tun, um viel Gutes zu bewirken, Commissario.“

Rossi´s Blick, der seine Überlegenheit verloren hatte, wanderte konzentriert die Wand des Büros entlang, dort wo die eingerahmten Errungenschaften der Kommissarin hingen. Abschluss mit Auszeichnung an der Rechtsfakultät der Universität Bologna, Polizeiakademie, Ernennung zur Kommissarin, das alles in weniger als zehn Jahren. Dann musterte er sie genau und nickte.

„Ich habe einen Fehler gemacht“, murmelte er.

„Allerdings.“

„Heute Morgen sprachen Sie mit einem gewissen La Menta und fuhren dann zur Redaktion richtig?“ Er fasste sich an die Stirn und zog dabei die dichten Augenbrauen zusammen.

„Ich dachte immer, Ihre Arroganz käme daher, dass ihr aus dem Norden auf uns herabschaut als seien wir ignorante, rückständige, abergläubische Bauern. Aber jetzt erst verstehe ich.“ Er seufzte, als bereue er bereits das gleich Gesagte. „Im Zuge einer Neuorientierung hat man den alten Russo in Pension geschickt und mit diesem bildhübschen enfant prodige ersetzt. Ich hätte es wissen müssen, eine Gesegnete!“ Er schüttelte ungläubig den Kopf.

„Eine Gesegnete?“

„Ja eine Gesegnete. Das sind Personen mit geringer Erfahrung die auf wundersame Weise in eine Position gehievt werden, weil Sie einen Heiligen haben – einen einflussreichen Gönner – der sie dorthin bringt und beschützt im Gegenzug für Gefälligkeiten“

Caterina Calanca spürte den Caffé aufsteigen, bereits das dritte Mal an diesem Tag, und griff zum Höher.

Sie bat die freudig erregte Cinzia, den Colonello hinauszubegleiten.

„Übrigens, Commissario“, sagte Rossi, beim Verlassen des Büros.

„Was?“

„Entzückendes Kleid, was Sie da anhaben. Neu?“

„Sagt das auch Ihr scharfer Beobachtungssinn?“

Er kam einige Schritte näher, beugte sich vor und flüsterte: „Das verrät allein das Preisschild, das noch am Verschluss baumelt. Cinzia unterdrückte ein Kichern. Caterinas transparente Haut errötete schlagartig. Sobald die beiden in der Tür verschwanden, verbarg sie ihr Gesicht in den Händen.

Nach wenigen Augenblicken der Schmach klärten sich die Gedanken: Es war an der Zeit, das Notizbuch der Bellacqua genauer unter die Lupe zu nehmen. Darin könnte der Schlüssel zu dem Rätsel liegen.

Heilige und Gesegnete

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