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Apartment 29

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Beim Blick aus dem Fenster sahen wir andere Fenster, zweiundfünfzig an der Zahl, ich hatte sie einmal gezählt, als Christian spät von der Arbeit zurückkam und das Essen kalt wurde. Unsere Wohnung ging zum Hinterhof hinaus und alle an den Hof grenzenden Fassaden bis auf die unsere waren bereits renoviert worden, gestrichen in verschiedenen Orangetönen und manchmal, wenn die Abendsonne tief stand, leuchteten sie wie ein Tempel aus Tausendundeiner Nacht.

Es war 20.43 Uhr und ein Schlüssel kratzte im Türschloss. Christian war daheim.

„Du kommst spät“, begrüßte ich ihn.

„Es gab noch eine Besprechung.“ Er hängte seine Jacke an die Garderobe und lockerte im Gehen seine Krawatte.

„Es gibt Rouladen.“

Christian verschwand im Schlafzimmer und rief etwas, das ich nicht verstand. Ich stellte einen Teller in die Mikrowelle, die Zeit auf zweieinhalb Minuten und beobachtete ihn durch die Glastür.

„Ich hatte Sushi heute Mittag“, sagte Christian und trat in Jeans und Sweatshirt wieder in die Küche. Er beugte sich vor und warf einen Blick in die Mikrowelle. „Lecker. Selbstgemacht?“

„Ja“, log ich. Die Mikrowelle piepte. Ich tauschte die beiden Teller aus und drückte Christian sein Essen und Besteck für zwei in die Hand. „Vorsicht, heiß.“


Gehorsam trug er alles zum Esstisch am Fenster. Es war dunkel draußen, nur in einigen Fenstern brannte Licht. „Der schmerbäuchige Alte sitzt schon wieder auf seinem Balkon“, stellte Christian nach links aus dem Fenster spähend fest. „Soll ich die Vorhänge zuziehen?“

„Lass mal.“ Mein eigenes Essen war aufgewärmt, ich folgte ihm ins Esszimmer und setzte mich ihm gegenüber, mit Blick auf unseren schmerbäuchigen Nachbarn. Er rauchte und starrte in die Dunkelheit. Christian stocherte in seinem Essen herum. „Guten Appetit“, sagte ich. Er schob sich einen Bissen in den Mund und kaute angestrengt. Ich zerdrückte meinen Kartoffelknödel.

Ob ich den Kerl schon einmal bei etwas anderem gesehen hätte, als rauchend in den Hof zu starren, wollte Christian wissen.

„Nein“, sagte ich. „Du?“

„Nein“, sagte Christian. Er starrte auf seine Roulade hinab. Aus der Nachbarwohnung, Nummer 31, erklang klassische Musik.

„Die spielen wieder“, sagte ich.

„Dvořák.“

„Wer?“

„Dvořák.“ Christian schob sich eine Gabel Rotkohl in den Mund. „Das ist von Dvořák.“ Sein Besteck klirrte, als er an seiner Roulade herumsäbelte. „Leider fehlte mir für das Geigenspiel immer das Talent. Und der Fleiß.“ Er wippte mit seinem Fuß im Takt der Musik, die durch die Wand drang.


Wie die Arbeit war, fragte ich ihn, um das Gedudel zu übertönen. Christian zuckte die Achseln. Nicht so besonders, antwortete er, es gäbe eben viel zu tun so knapp vor Weihnachten. Wie mein Tag gewesen sei?

Auch nicht besonders, erwiderte ich.

Christian sah mich durchdringend an. „Was hast du so gemacht?“

„Die Wäsche“, log ich und hoffte, er würde nicht bemerken, dass die Kleider auf dem Wäscheständer dieselben waren, die er am Wochenende gewaschen und aufgehängt hatte.

„Die wollten doch heute das Wasser abstellen“, meinte Christian.

„Ach so“, sagte ich. Meinen Knödel hatte ich aufgegessen, jetzt machte ich mich über den Rotkohl her, griff nach dem Tetra Pak mit Apfelmus und goss eine großzügige Portion über mein Gemüse. Ich liebte Rotkohl, aber nur mit Apfelmus, ich hasste Rotkohlsalat. Christian liebte Rotkohlsalat, er sagte immer, in einem Döner könne er eher auf Fleisch verzichten, als auf Rotkohlsalat. Sein Gemüse hatte er kaum angerührt.


Ein Hund bellte im Innenhof. Es war derselbe Hund, der seit einigen Nächten jeden Abend stundenlang bellte, gegenüber von einem Balkon im vierten Stock herab. Ein zweiter Hund fiel ein. Vor einigen Tagen hatte der schmerbäuchige Raucher zurückgebellt. Christian war noch auf der Arbeit gewesen und hatte es mir nicht glauben wollen, als ich ihm davon erzählte.

„Gleich tut er es bestimmt wieder“, sagte ich.

„Du spinnst“, antwortete Christian und legte sein Besteck zur Seite. „War gut, danke.“

„Du hast kaum etwas gegessen.“

„Ich hatte Sushi.“

„Das war heute Mittag.“

Ungehalten bemerkte Christian, er habe gegen Abend noch die Reste aufgegessen, und was das Ganze eigentlich solle, ob ich eigentlich denken würde, es sei ihm ein Vergnügen, aufgewärmten, zähen Dosenfraß zu schlucken. Er tupfte sich den Mund mit einem Küchentuch ab und warf es auf den Tisch. In der Wohnung über uns polterte etwas auf den Boden, gefolgt von schnellen Schritten. Irgendwo im Haus schlug eine Tür zu.


Vor einigen Jahren waren wir nachts von einem lauten Knall geweckt worden. Wir waren aus dem Bett gesprungen und hatten das Fenster einen Spalt geöffnet und durch die Vorhänge gespäht. Ein Mann rannte durch den Innenhof und verschwand aus unserem Blickfeld. Ihm folgten zwei, drei Polizisten. Eine Frauenstimme keifte von einem Balkon ein paar Stockwerke irgendwo über uns herab und der schmerbäuchige Alte von links oben ruderte mit seinen Armen und fiel der unsichtbaren Keifenden ins Wort. „Wir sollten uns eine neue Wohnung suchen“, hatte Christian gemurmelt, die Vorhänge wieder zugezogen und wir waren zurück ins Bett gegangen.

„Ich gehe noch ein wenig ins Fitnessstudio“, sagte Christian. „Wenn du aufgegessen hast.“ Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Worte meinen Verstand erreichten.

„So spät noch?“, fragte ich und aß ungerührt weiter. Langsam, noch ein paar Gabeln Rotkohl, dann konnte ich mit der Roulade beginnen. Eins nach dem anderen. Es sei doch noch gar nicht spät, erwiderte Christian, und überhaupt, sein Club habe schließlich bis dreiundzwanzig Uhr geöffnet. Er schielte auf die Uhr.


Ich finde, du solltest mal einen Abend zu Hause bleiben, hätte ich sagen können, aber ich schob mir die letzte Gabel Rotkohl-Apfelmus in den Mund und stach in die Roulade. Sie war recht zäh. Christian sah mir ungeduldig dabei zu, wie ich Stückchen für Stückchen die Roulade zerlegte, die Gabel zum Mund führte und langsam und bedächtig kaute. Aus der Nachbarwohnung klang noch immer Dvořák, der Hund hatte ausgebellt, der Alte mit dem Schmerbauch seine fünfte Zigarette geraucht und ich genoss mein Abendessen.

„Du könntest mitkommen“, sagte Christian plötzlich unwirsch und ich lehnte dankend ab, schließlich hatte er selbst einmal bemerkt, dass ich auf dem Laufband aussah wie ein an Land gespülter, verendender Wal.

„Das ist Jahre her“, bemerkte Christian.

„Vier“, antwortete ich und legte mein Besteck ordentlich gekreuzt auf den übrigen Rouladenfasern ab. „Magst du Dvořák?“

Christian zuckte die Schultern. „Schon“, sagte er und ich antwortete, ich fände Dvořák noch schrecklicher als Rotkohlsalat. Dann griff ich nach Christians Teller, schaufelte seine Reste auf meinen eigenen und bediente mich am Apfelmus.


„Du bist aber hungrig“, sagte Christian kalt. Ich aß ungerührt weiter. Das Violinspiel aus Nummer 31 verstummte und Christian begann, mit den Fingern auf dem Tisch herum zu trommeln. Seine Essensreste waren kalt, die Roulade hart und ungenießbar. Ich aß gemächlich, jeden Bissen gut durchkauend, bevor ich ihn herunterschluckte. Ob er Silvie eigentlich noch träfe, wollte ich wissen. Christian meinte nur, das sei Vergangenheit und ich solle mich beim Aufwärmen lieber auf Convenience Food beschränken.

„Ich bin fertig“, sagte ich und legte Messer und Gabel parallel auf den Teller.

Christian sprang auf, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Zimmer. Ich hörte, wie er im Nebenzimmer rumorte und wohl seine Sportsachen zusammensuchte, bevor die Tür mit einem Knall hinter ihm ins Schloss fiel. Ich blickte auf die Uhr und nach draußen. Der schmerbäuchige Raucher war verschwunden.

Es war 22.57 Uhr.


Von Alina Becker (Skala)

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