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Ich packe meinen Koffer

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Eine der größten Herausforderungen für den modernen Menschen liegt nicht in der Verarbeitung von Leistungsdruck oder in der Schaffung von Frieden und Gerechtigkeit für alle, sondern im Kofferpacken. Diese Herausforderung nimmt bei Flugreisen eine ganz besondere Gestalt an, da es hier nicht nur darauf ankommt, Kleidung und andere unverzichtbare Artefakte im Gesamtvolumen von 80 Litern in einen Behälter zu quetschen, der 18 Liter fasst, sondern zugleich in der Beachtung der Gewichtsreduktion, die sich aus den jeweiligen Vorgaben der in Rede stehenden Fluggesellschaft ergibt.


Für einen Flug in den sonnigen Süden haben wir, meine Frau und ich, 23 Kilo Freigewicht pro Person, bei insgesamt zwei Gepäckstücken. Nun ist es aber nicht so, dass man in einen Koffer 45 Kilo und in den anderen meine Sachen packen dürfte, sondern so, dass sich die Gewichtsbegrenzung für jeden Koffer einzeln versteht. Das macht die Sache zu einer logistischen Optimierungsaufgabe, auf Deutsch: zu einem Stopfen und Drücken. Wir stopfen und drücken Kleidungsstücke und Sonnenschutz, Badelatschen und Kleinmöbel, Hygieneartikel und noch mehr Hygieneartikel, Zeitschriften, Bücher, CDs, Haushaltswaren, eine Kücheneinrichtung (Eiche furniert), diverse Teile Unterhaltungselektronik, deren Namen ich nicht kenne (irgendwas mit Ei), einen mobilen Herd, eine Kühltasche, Gasflaschen und – wozu auch immer – eine Bastelschere. Ab und an unterbrach ich das Stopfen und Drücken für eine Nachfrage: „Brauchen wir das wirklich?“ – „Was?“ – „Na, zum Beispiel hier – die Bastelschere.“ – „Ja!“ – „Und wozu?“ – „Zum Basteln.“ Logik umweht manchmal eine grausame Kälte.


Das wichtigste Hilfsutensil beim Kofferpacken ist eine Personenwaage, auf die ich mich einmal ohne und einmal mit Koffer stelle. Aus der Differenz errechnen wir das Gewicht des Gepäckstücks (wir sind beide Ingenieure mit Universitätsabschluss). Natürlich darf ich während des Tages nichts trinken oder essen, meine Kleidung nicht wechseln oder gar, Sie wissen schon, auf die Toilette. Morgens wird das Referenzgewicht festgestellt, das im Laufe des Tages als feste Größe dient. Variabel ist das jeweilige Koffergewicht, das durchschnittlich alle drei Minuten ermittelt wird. Oder dann, wenn besondere Packvorgänge abschlossen sind, etwa das Verstauen von schwereren Gegenständern wie Schuhen, Büchern, Kraftfahrzeugteilen und Stahlträgern. Sie mögen es glauben oder nicht: Ein einzelner Stahlträger kann das gesamte Kofferkalkül durcheinanderbringen. Das Gewicht eines Koffers mit zwei Badehosen und einer Hand voll Sportsocken unterscheidet sich signifikant von dem eines Koffers mit zwei Badehosen und einer Hand voll Sportsocken und nur einem einzigen LKW-Kotflügel mittlerer Art und Güte.


Die jüngste Messung meines Koffers ergibt ein Gewicht von 21,8 Kilo. Weil ich seit der Referenzmessung am Morgen gut zwei Liter Flüssigkeit verloren (Stopfen und Drücken strengt an) und nur um 11 Uhr unter Hinweis auf die Genfer Konvention ein kleines Glas Wasser getrunken hatte, lag das tatsächliche Gewicht voraussichtlich bei über 23 Kilo. Sicherheitshalber hole ich einen Gegenstand heraus und wiege nach: 23,4 Kilo. Was physikalisch unmöglich ist, gehört zu den Grunderfahrungen des Kofferpackens. Das Gewicht bewegt sich auch bei strikter Einhaltung aller Ernährungs- und Verhaltensvorschriften in einem stochastischen Korridor, ohne dass sich dabei ein Algorithmus herausschälte. Es konnte demnach gut sein, dass man schweren Herzens auf die Anselm Grün-Gesamtausgabe verzichtete und stattdessen eine „Apotheken Umschau“ mitnahm und dennoch – plötzlich und unerforschlich – eine Gewichtszunahme feststellen musste. „Das kann nicht sein!“, zählt zum Grundvokabular des Kofferpackens.

Ebenso, dass zu den Einsichten des Kofferpackens die Erkenntnis zählt, Reißverschluss leitet sich von „reißen“ ab, genauer: von „an der falschen Stelle reißen“. Als gegen Abend wie durch ein Wunder unsere Koffer doch noch geschlossen werden konnten und wir die zum Bersten gefüllten Gepäckstücke nachwogen (22,7 und 23,0 Kilo), machte ich eine grausame Entdeckung. Ein Blick auf das Ticket verriet, was mich siedend heiß überkommen sollte: Wir hatten 32 Kilo. Jeder. Uns beschlich das grässliche Gefühl, nichts mehr zum Einpacken zu haben, das wir wirklich mitnehmen wollten, und gleichzeitig noch über ein beträchtliches Freigewicht zu verfügen. Wir hatten es bezahlt, wir konnten es aber nicht nutzen. Der Verzweiflung nahe hatte meine Frau, wie so oft, die rettende Idee. Wir haben einfach ein paar Klinkersteine eingepackt. Man weiß nie, wofür man sie gebrauchen kann. Vielleicht ja zum Basteln.


Von Joseph Bordat (JoBo72)

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