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Prof. Dr. Stephan Grätzel über die Liebe zur Lyrik
ОглавлениеSchreibenmüssen
Im Literaturbetrieb spielt die Lyrik eine Nebenrolle. Das betrifft nicht nur Publikationserfolge, vielmehr ist die Präsenz von Lyrik im öffentlichen und kulturellen Leben nicht sehr groß. Waren Dichter-Lesungen noch vor wenigen Jahrzehnten sehr beliebt, so finden sich solche Veranstaltungen kaum noch im Kulturbetrieb. Diese Entwicklung steht ganz im Gegensatz zu der besonderen Stellung der Lyrik innerhalb der Literaturgattungen: Als Gesang ist sie das Hohelied der Literatur. Sie ist den besonderen Ereignissen im persönlichen, familiären, aber auch nationalen Leben vorbehalten. Soweit sie das Persönliche zur Sprache bringt ist, sie das Medium intimster Bekenntnisse. Viele Menschen schreiben deshalb Gedichte, ohne sie zu veröffentlichen oder veröffentlichen zu wollen. Sie glauben dabei zumeist, dem lyrischen Anspruch nicht gerecht werden zu können oder auch zu persönlich zu schreiben. Der Buchmarkt und die wissenschaftlichen Analysen drücken damit den tatsächlichen und auch den Stellenwert der Lyrik nicht aus. Sie lassen auch die tiefere Bedeutung des Schreibenmüssens nicht erkennen, das gerade in der Lyrik zum Ausdruck kommt. Besonders in dieser Gattung sucht sich das Individuum durch seine eigene Sprache eine Welt und erschafft dabei neue Welten, die auch von anderen begangen werden können. Lyrik ist also gleichermaßen Sprachschöpfung wie Welterzeugung. Deshalb ist sie die Gattung der Jugend, sie ist Innovation, Aufbruch und Schöpfung neuer Welten und neuer Sprachen. Durch sie können Jugendliche ihre erste Liebe in Worte fassen und erste Lebenskrisen verarbeiten. Die Lyrik ist aber nicht nur die Sprache der Jugend, sie bleibt über dieses Lebensalter hinaus die Sprache der Kritik und Erneuerung. Dem lyrischen Schreiben eine Öffentlichkeit zu geben oder zu lassen, ist deshalb ein wichtiges Unternehmen, dem dieses Buch Rechenschaft trägt. Da es auch ein mutiges Unternehmen ist, wünsche ich viel Glück und Erfolg. Möge es darüber hinaus die Leser anregen, selbst wieder Mut zu fassen, Gedichte zu schreiben und zu veröffentlichen, um so dem Schreibenmüssen den ihm angemessen Platz im kulturellen Leben zurück zu geben.