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ALEXANDER

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Die Tussi nervt, seit wir das Dock verlassen haben. Fetzen ihrer Stimme, trockene Zahlen ins Handy rufend, übertönen das Brummen des Bootsmotors. Ich reiße mich zusammen und greife räuspernd nach dem Mikrofon. Tief ertönt meine Ansage durch die Lautsprecher an Deck:

„Herzlich Willkommen an Bord, liebe Gäste. Ich hoffe, alle fühlen sich wohl auf unserer Sightlady. Anderenfalls kommen Sie bitte zu mir. Die Fahrt wird insgesamt etwa drei Stunden dauern. Aber ich verspreche Ihnen, dass es kurzweilig wird. Soeben haben wir die Mündung des Fraser Rivers verlassen und halten uns Richtung Vancouver Island. Mit etwas Glück stoßen wir bei den Gulf Islands auf die ersten Wale. Wenn Sie jetzt nach rechts schauen, haben Sie einen eindrucksvollen Blick auf Vancouver.“

Während ich das Mikrofon wieder in die Aufhängung stecke, registriere ich zufrieden, wie sich sämtliche Köpfe der Gäste, die sich in gelben Ganzkörperoveralls am Bug des Bootes sammeln, nach rechts drehen und meiner Empfehlung folgen. Ich sauge den Seewind in die Nase und genieße die beruhigende Wirkung, die der Ozean jedes Mal auf mich hat. Ich habe geahnt, dass ich hier draußen abschalten kann.

„Das interessiert nicht, Margot, 2012 waren es 40%. Wir reden heute über verdammte 70%. Tendenz steigend. Es wird Zeit, diese selbstgefälligen Machos wachzurütteln.“

Ich verziehe den Mund. Ist klar, dass die Tussi nicht zugehört hat. Wie kann man nur an Zahlen denken, wenn Vancouver Island in der Sonne blitzt? Hält sich wohl für megawichtig mit ihren Prozenten. Die denkt, weil sie Deutsch spricht, versteht sie keiner.

Warum um alles in der Welt bucht jemand wie sie eine Whale-Watching Tour? Und dann in diesem Aufzug, vielmehr Anzug? Typ steife deutsche Geschäftsfrau. Verstohlen schiele ich zu ihr hinüber. Den gelben wasserdichten Overall hält sie ungenutzt in der perfekt manikürten Hand. Nicht schick genug? Ich schätze die Frau auf Anfang Dreißig. Eigentlich sieht sie gar nicht übel aus. Das heißt, wenn ich solche stylischen Tussis auch nur ansatzweise beachten würde. Dann hätte ich zugegeben, dass ihr Hintern in dem grauen Bleistiftrock, der sich in meine Richtung streckt, während sie versucht, sich an die Reling zu lehnen, passabel zur Geltung kommt. Ich verdrehe die Augen, als die Frau ihre zum Rock passenden Pumps auf das weiße Gestänge abstellt. Ich kann ihr gleich sagen, dass sie mit den glatten Sohlen abrutscht. So grinse ich und krame in der Schublade neben dem Steuerrad nach einer Kaugummipackung. Das Bild von wohlgeformten Waden noch auf meiner Netzhaut.

„Nein, 16 Dollar pro Meter ist nicht akzeptabel. Die vergessen die Zollgebühren. Sag ihnen das, Margot. Wir sind schließlich potenzielle Großabnehmer.“ Ich versuche gleichmütig zu bleiben. Vielleicht war es doch nicht die beste Entscheidung, ausgerechnet heute aufs Meer zu fahren. Ich wische die unliebsame Erinnerung fort und konzentriere mich auf die übrigen Gäste an Bord, die ich von meiner erhöhten Position aus im Blick habe. Eine Teenagerin steht in gerader Linie vor mir und wirft Brotstücke in einen Möwenschwarm, der das Boot mit ungeduldigem Gekreische umlagert. Der gelbe Overall ist ihr zu groß, an den Beinen und Ärmeln umgekrempelt. Ein hochgewachsener, etwa fünfzigjähriger Herr mit chinesischen Gesichtszügen steht neben dem Mädchen und beobachtet ihr Treiben. Der Typ erinnert mich an den Schauspieler aus Hongkong. Wie heißt der gleich? Was mit drei Silben. Der Chinese hat auf jeden Fall dieselbe attraktive Ausstrahlung. Ich bin einen Moment lang fasziniert, wie der Mann in sich zu ruhen scheint. Seine Mundwinkel sind unmerklich nach oben gezogen, was ihm einen wissenden Gesichtsausdruck gibt. Einschüchternd. Unweigerlich versuche ich mich an einer Kopie dieser Mimik. Dann gebe ich es auf. Meine Laune ist heute zu mies um zu lächeln.

Es ist eine blöde Idee gewesen, die Tour zu fahren. Eine saublöde. Das hätte Bobby oder einer der Studenten übernehmen können.

„Bis zur Schau im Juli muss es stehen. Sag ihm am besten, alle warten nur auf ihn. Und das stimmt ja auch. Zur Not drohe ihm mit Schadenersatz. Die Uhr tickt, Margot. Apropos, ich muss jetzt auflegen.“

Ich blinzle vor Wut und unterdrücke ein genervtes Stöhnen. Diese Margot kann einem echt leidtun. Was für ein bescheuerter Name überhaupt. Schadenersatz! Wie verabscheue ich solche Leute, die auf Geld aus sind! Ich blicke jetzt unverhohlen zu der Frau. Sie soll mitbekommen, wie sehr sie nervt.

In diesem Augenblick streicht sie eine aus dem streng hochgesteckten Haar gelöste Strähne hinter das Ohr. Mein Herz macht bei dieser unschuldigen Geste einen Satz und ich verschlucke fast meinen Kaugummi. Einen Moment fesselt ihr herzförmiges Gesicht meinen Blick. Ich verharre auf ihren vollen Lippen, die sie nachdenklich knetet. In diesem Moment wirkt sie verletzlich. Wie ein Mädchen. Die zaghafte Geste passt überhaupt nicht zu ihrem wichtigtuerischen Gehabe. Unwillkürlich entfährt mir ein Keuchen. Der Fahrtwind hat die widerspenstige Strähne wieder gelöst und das Spiel geht von vorne los. Ich erwache aus meiner Starre, schüttle über mich den Kopf und blicke zum Bug.

Wie gut, dass sie mir so was von egal ist.

Ein anderes Walbeobachtungsboot nähert sich. Ich grinse und kann es mir nicht verkneifen, die lautstarke Bootshupe gleich mehrfach zu betätigen. Mit Genugtuung registriere ich, wie die Frau erschrocken zusammenfährt und zucke zur Erklärung mit den Schultern. Schließlich ist diese Begrüßung unter den Walbooten üblich. Die Gäste johlen und winken begeistert. Soll sie woanders telefonieren.

„Nein, ich bin auf einem Boot, Margot. Ich habe dir doch von dem chinesischen Investor erzählt. Heute ist er da, und ich sollte endlich aufhören zu telefonieren. Zum Glück habe ich meine Wunderwaffe Valérie dabei. … Ja, genau. Sie hat ihn ganz gut im Griff. War ja auch nicht anders zu erwarten. Zurück zum Thema. Fakt ist, ich brauche die Ware so schnell wie möglich. Kriegst du das hin? Ansonsten frage ich Ingrid.“ Sie holt Luft, bemerkt in diesem Moment meinen Blick und runzelt irritiert die Stirn. Ich stelle mich ihrer vorwurfsvollen Miene mit einem aufgesetzten Lächeln. Sie verengt die Augen und wendet sich jäh ab. Margot spurt nach ihrer Ansage wohl nicht wie gewünscht.

Als ihr Blick meinen gekreuzt hat, bin ich kurz aus dem Konzept gebracht. Unbewusst verstärke ich den Griff um das Steuerrad und ärgere mich über mich. Mist, die soll sich nicht einbilden, ich begaffe sie aus Interesse. Ich reiße mich zusammen und richte den Fokus wieder auf das Wasser. Aus dem Augenwinkel sehe ich die Frau den lästigen Overall über das Geländer hängen.

Geschähe ihr recht, wenn sie patschnass würde, grolle ich innerlich. Warum kann sie nicht wie die anderen Passagiere entspannt und spritzgeschützt an der Reling stehen, das strahlende Wetter und die Skyline von Vancouver genießen? Das Garn des Seemannspullis juckt am Hals. Gedankenverloren reibe ich über die Stelle bevor ich bemerke, dass das Nachziehen des Keilriemens vor der heutigen Fahrt Spuren hinterlassen hat. Ich starre auf meine ölverschmierten Hände und runzle die Stirn. Vor Beginn meiner Schicht im Lokal darf ich nicht vergessen, die dunklen Ölränder unter den Fingernägeln mit Waschpaste zu schrubben. Die Zeit wird knapp sein.

„Nein, die Schnittmuster sind Gold wert. Schick sie bitte nicht unverschlüsselt. Egal, was dir Karl rät.“

Zum wiederholten Mal frage ich mich, was diese Frau überhaupt auf der Sightlady tut, wenn sie kein Interesse an dem Trip hat? Ich spüre, wie sich die kleine Falte zwischen meinen Augenbrauen zu einer Zornesfurche vertieft, während ich das Boot geschickt durch die Wasserstraße lenke. Warum nur reagiere ich so stark auf sie? Oder auf diese bescheuerten Namen? Margot, Ingrid, Karl ... fehlt nur noch Walter beziehungsweise Gertrud! Jetzt schmunzle ich fast wieder. Wenn ich ehrlich bin, bietet sie mir eine hervorragende Zielscheibe für meine schlechte Laune. Tief atme ich ein und aus und hoffe, die salzige Seeluft wird mich runterbringen. Das hilft immer. Eine Weile lausche ich dem gleichförmigen Tuckern des Motors. Der Keilriemen scheint zu halten. Eigentlich alles in Ordnung. Ich nehme mir fest vor, die Frau von jetzt an zu ignorieren. Schließlich hat sie bezahlt und es ist ihr Bier, ob sie telefoniert oder Spaß hat.

„Na, Adonis, weshalb so schlecht gelaunt?“ Ich verdrehe die Augen, und wende mich meinem Freund Neil zu, der mit verschränkten Armen und grinsend im Türrahmen der Fahrerkabine lehnt. Zugegeben sieht Neil selbst in dem unförmigen Overall attraktiv aus. Ich erkenne neidlos an, dass Neils rotblonde Locken durch das knallige Gelborange des Anzugs interessant wirken, anstatt sich mit dem Farbton zu beißen. Bevor ich es im Griff habe, huscht mein Blick zu der Frau, die Neils breiten Rücken mustert, während sie telefoniert. Ist klar. Frauen wie sie fahren auf Neil ab. Er hat diese Ausstrahlung. Die Aura eines erfolgreichen Anwalts. Selbst wenn er keinen Anzug sondern Ölzeug trägt. Meine Stimmung rutscht unerklärlicherweise tiefer in den Keller. Mir fällt ein, dass ich Neil eine Antwort schulde und reibe mir übers stoppelige Kinn.

„Ich bin müde. Es war viel los im Heidelberg gestern Abend“, versuche ich, mir und Neil meine Laune zu erklären. Sollte ich von Neil erwarten, zu wissen, weshalb ich an diesem Jahrestag so schräg drauf bin? Immerhin ist der Rotschopf mein bester Freund. Wenn ich darüber nachdenke: warum sollte er? Wenn wir zusammen abhängen, meistens bei Surftrips, sprechen wir nie über die Geschehnisse von damals. Ich bezweifle, dass der lebensfrohe Neil versteht, weshalb mir die Sache noch Jahre später nachhängt. Er hält mich wahrscheinlich für eine Dramaqueen. Schließlich kann ich mich selbst in diesem Zustand kaum ertragen. Verdammt, was für eine Pussy ich heute bin!

„Wie lange willst du diese Jobs durchhalten? Die ganze Nacht im Restaurant deiner Eltern kellnern. Heute auch noch die Mittagsschicht. Dazu die Kurse und die anstrengende Bootstour. Du musst deinen Eltern endlich klarmachen, die Waltouren haben jetzt für dich Priorität. Denk auch an Bobby. Sie ist deine Geschäftspartnerin.“

Ich seufze und starre auf das glitzernde Wasser vor mir.

„Ja, du hast recht. Ich werde ein wenig mehr Luft haben in nächster Zeit. In der Uni sind nur noch die Sommerkurse. Meine Eltern sagen schon längst, ich soll mich auf meine eigenen Projekte konzentrieren.“

„Reicht es nicht, wenn du ihnen Geld gibst? Du verdienst doch ganz ordentlich.“ Ich schüttele den Kopf. „Es geht nicht um Geld, Neil. Es geht vielmehr um Verantwortung. Ich möchte für die Familie da sein. Ihnen zeigen, dass ich sie tatkräftig unterstütze. Du weißt, dass ich es ihnen schuldig bin.“

Neil blickt mich fragend an.

„Die Geschichte mit Luigi Branca. Du erinnerst dich? Heute ist es genau fünf Jahre her.“

Sein Gesicht erstarrt.

„Ist Laura tatsächlich schon fünf Jahre ... tot?“

Ich nicke nur.

„Jetzt verstehe ich, warum du mich ausgerechnet heute zu der Tour eingeladen hast.“ Sein Ton klingt ernst und er mustert mich eindringlich. Shit, er hat doch nicht etwa Mitleid? Das ist das Letzte, was ich brauche.

„Ehrlich gesagt wurde es langsam Zeit, dass du mal mitfährst. Außerdem musstest du auch mal raus aus deiner Kanzlei. Gib es zu.“ Ich grinse Neil schief an und bin erleichtert, als er leise lacht.

Wir hängen beide eine Weile unseren Gedanken nach. Bei der Erinnerung daran, was dieser Scheißkerl mir und meiner Familie damals angetan hat, kocht Wut meine Kehle hoch. Brennend heiß. Auch nach Jahren kein bisschen abgekühlt.

Werde ich jemals damit abschließen können?

Als ich meinen grimmigen Blick wieder zu Neil hebe, hat dieser sich von mir abgewandt. Er mustert die Frau im Anzug, die mittlerweile mit dem Rücken zu uns steht und leckt sich kurz über die Lippen. Ich stöhne innerlich, als mir aufgeht, was los ist. Sein Ausdruck gleicht dem einer Katze, die Beute im Gras entdeckt hat. Dass meinem Freund kein Sabber aus dem Mund tritt, ist erstaunlich. Ich blicke zur Frau. Sie telefoniert immer noch. Nicht ahnend, dass ihr wohlgeformtes Hinterteil die volle Show bietet. Ich versuche, mich in meinen Freund hineinzuversetzen. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erfüllt diese Anzugtussi genau Neils Beuteschema. Er steht auf erfolgreiche und vermutlich dominante Frauen, die übellaunig sind. Wie hat er noch versucht, mir das zu erklären? „Das ist keine schlechte Laune, das ist Autorität. Nette Weiber sind langweilig.“ So ein Unsinn! Die Sanften mit Rehblick sind mir auf jeden Fall sympathischer. Frauen wie Bobby. Oder Laura damals. Schnell verdränge ich die Erinnerung. Dennoch: aus einem unerfindlichen Grund stört es mich, dass Neil die nervige Passagierin entdeckt hat und so offensichtlich abcheckt. Das ist schließlich mein Boot und ich habe Neil für heute eingeladen. ‚Anmachen der Kunden verboten!’, braut sich gerade als Satz in meinem Kopf zusammen, als ein Rufen vom Bug mich aus den Gedanken reißt. Einer der Gäste zeigt aufgeregt nach Backbord. Mist, jetzt habe ich wegen der Tussi und Neil glatt den Job vergessen. Mein Blick scannt die gezeigte Richtung und ich konzentriere mich auf die Wasseroberfläche.

Da! Ein helles Aufblitzen! Das Fernglas hebend, drossle ich den Motor. Das sind doch ...?! Ich traue meinen Augen kaum. Mein Herz begreift vor dem Verstand, um welche Walart es sich handelt und klopft freudig. Wie jedes Mal, wenn ich die Fluken der Tiere entdecke. Sofort ist meine trübe Stimmung weggeblasen. Aufgeregt greife ich zum Mikrofon.

„Danke für die Mithilfe. Wir haben Glück. Das sind Grauwale, die sich äußerst selten in die Bucht begeben. Normalerweise sind sie nur auf der Pazifikseite von Vancouver Island aus zu sehen. Ich bringe uns vorsichtig heran.“ Über Funk gebe ich Bobby, die in der Station im Hafen die Stellung hält, aufgedreht die genauen Koordinaten der Sichtung durch. Kaum habe ich aufgelegt, weht wieder die Stimme der Frau zu mir herüber.

„Bist du dir sicher? Überprüf die Zahlen noch einmal. Verdammt, warum dauert das so lange?“ Meine euphorische Stimmung kühlt schlagartig ab. Wie kann sie ausgerechnet jetzt telefonieren? Bekommt diese Frau nichts vom Leben mit? Da sind Wale. Grauwale!

Na warte, der zeige ich’s.

„Aaaachtunnng!“

Grimmig reiße ich das Steuer herum. Das Boot bäumt sich kurz auf. Die Passagiere kreischen und suchen lachend Halt am Geländer. Wie von mir geplant, schwappt eine ordentliche Welle die Längsseite des Bootes entlang. Das deutsche Fluchen zu meiner Linken wird deftiger. Zufrieden sehe ich aus dem Augenwinkel, dass mein Zielobjekt sich mit letzter Mühe an der Reling festkrallt. Ihre Hand, in der vorher noch das Handy gelegen hat, ist leer. Wie ein begossener Pudel steht sie da und versucht zu verarbeiten, was mit ihr geschehen ist. Neil eilt ihr bereits zur Seite. Der Mann verschwendet keine Zeit und nutzt die Gelegenheit. Sie weist die Hilfe schroff ab und entdeckt ihr Handy in einer Spalte zwischen Kajüte und Deck. Ich finde es urkomisch, wie sie vor der Ritze auf alle Viere niedergeht und vor sich hinfluchend vergeblich versucht, ihr Telefon herauszunesteln. Merkt sie denn nicht, dass sie dabei Neil die ganze Zeit ihren Hintern entgegenstreckt? Unsere Blicke treffen sich und ich quittierte finster die von Neil verhalten angedeutete obszöne Geste, obwohl ich das gar nicht vorgehabt habe. Neil stutzt. Mir entfährt ein unkontrolliertes Schnauben, das sofort erstirbt, als die Frau jäh den Kopf hebt und mich kampflustig mustert. Ein Blick, der dem verletzlichen Wesen von eben nicht im Entferntesten ähnlich ist. Um meine Verblüffung zu unterdrücken, presse ich die Kiefer zusammen,

Die ist sauer. Soviel steht fest.

Rasch konzentriere ich mich wieder auf das Steuer und versuche mich an einem Pokerface. Die Frau baut sich in der Kajütentür auf. Vermeintlich gelangweilt wende ich ihr den Kopf zu. Ihre rechte Körperhälfte ist patschnass. Volltreffer.

Himmel, merkt die denn nicht, dass sie mit den verschränkten Armen ihre Brüste hochpusht, die sich, in zarte Spitze verpackt, unter der feuchten Seidenbluse abzeichnen? Ich habe Mühe, ihr in die Augen zu blicken.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, frage ich sie auf Englisch. Ein Meister der Beherrschung.

Statt einer Antwort neigt sie ihre wütende Grimasse so nah in meine Komfortzone, dass ich vage die braunen Einsprengsel in ihren grünen Augen wahrnehme. Solche Einschlüsse habe ich ebenfalls in meiner blauen Iris. „Wutpünktchen“ hat meine Mutter diese in der Kindheit immer genannt. Das passt ja jetzt. Ihr Mund ist zu einer Linie zusammengepresst. Versteht wohl keinen Spaß, die Dame. Ich schluckte trocken, wende den Blick von ihrer Iris ab und fixiere einen Wassertropfen, der ihr zartes Kinn hinabtanzt. Faszinierend, wie dieser zickzack einen Weg über ihre Haut bahnt, sich eine Sekunde im unsichtbaren Flaum verfängt und zu Boden flieht. Der hat es gut. Moment mal! Bin ich etwa neidisch auf einen Wassertropfen? Als ich ihr wieder in die unfassbar grünen Augen schaue, wird mir heiß. Ich widerstehe dem Drang, mich zu räuspern. Ärgerlich! Die humorlose Tussi soll bloß nicht denken, ich fühle mich schuldig. Schäme mich womöglich.

Nun ja, vielleicht bin ich mit der Aktion ein wenig zu weit gegangen.

So nah nehme ich wahr, wie sich ihre Nasenflügel blähen, als wittere sie mich. Bilde ich mir das ein, oder wechselt ihr zorniger Blick für den Bruchteil einer Sekunde zu Erstaunen? Mein Herz hämmert plötzlich. Trotz der salzigen Meeresluft und dem aufdringlichen Dieselgeruch des Motors nehme ich einen blumigen, sehr fraulichen Duft an ihr wahr. Die Härchen an meinem Unterarm stellen sich spürbar auf. Es scheint nur mich und sie zu geben. Die restliche Welt ist ausgeblendet.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Neils sexy Bass-Stimme, die er im Flirtmodus auflegt, dringt von weit her zu mir durch und beendet den Moment. Benommen blinzle ich und komme wieder zur Besinnung.

Sie hat diesen Augenblick anscheinend nicht so intim empfunden. Die Frau ignoriert Neils charmantes Angebot und blafft mich auf Englisch an, ohne den jetzt eiskalten Blick von mir zu wenden: „Das war Absicht. Ich verlange Entschädigung. Ohne dieses Telefon kann ich nicht arbeiten. Wenn Sie mir nicht schnellstmöglich ein Neues besorgen, kommt Sie das teuer zu stehen.“ Ich bin schlagfertig, aber gerade bleibt mir jedes Wort im Halse stecken. Hat die sie noch alle? Wieder diese Sache mit dem Schadenersatz. Ist klar. Ich liefere mir mit der aufgebrachten Lady ein filmreifes Blickduell. Es gelingt mir, eine Eiseskälte in die Stimme zu legen, die mich angesichts meiner unterdrückten Wut selbst verblüfft.

„Sie befinden sich auf See. Bei dem unberechenbaren Wellengang obliegt es Ihrer eigenen Verantwortung, wenn Sie Wertgegenstände mitführen. Wie ich sehe, haben Sie nicht einmal das Minimum an Verhaltensregeln eingehalten und den Schutzanzug übergezogen. Soll ich für den nassen Anzug etwa ebenfalls verantwortlich sein?“ Ihre Augen sind empörte Schlitze.

„Sie brauchen nicht so scheinheilig zu tun. Sie haben mich schon die ganze Zeit wütend angeglotzt.“

„Ich, Sie anglotzen? Wovon träumen Sie nachts, Lady?“ Sie lacht verächtlich und lässt den Blick demonstrativ über meinen Overall schweifen, wobei sie den Kopf leicht schüttelt. Eine blöde Kuh! Kleider machen Leute, wie? Meine Kehle wird vor Zorn eng. Es hilft wenig, dass ich am Rande meines Gesichtsfeldes mitbekomme, wie Neil die Szene belustigt begafft.

„Ganz bestimmt nicht von Ihnen“, murmelt sie auf Deutsch. Die Wut ballt in meinem Hals einen Kloß, den ich mit Mühe unten halte. Die kommt mir gerade heute recht. Selbst wenn sie nicht weiß, dass ich Deutsch verstehe. Ich raffe den letzten Rest an Beherrschung zusammen. Die ersten Schaulustigen nähern sich vom Bug her.

„Lassen Sie mich jetzt bitte meine Arbeit machen. Es ist Ihnen entgangen, aber wir haben Grauwale gesichtet. Es gibt Gäste auf dem Boot, die das mehr interessiert, als ein eingeklemmtes Handy. An Land können wir gerne in Ruhe schauen, wie sich Ihr Telefon bergen lässt.“ Ich wende den Blick nach vorn und bin erstaunt, wie dicht wir bereits an den Walen sind. Mist, so nah wollte ich ihnen gar nicht auf die Pelle rücken. Das tun die touristischen Walbeobachtungsboote. Wohingegen meine Tour für Respekt vor den Tieren und ökologische Nachhaltigkeit steht. Daran ist diese arrogante Tussi schuld. Ärgerlich schnalze ich mit der Zunge und drossle den Motor.

In der unvermittelt einsetzenden Stille höre ich umso deutlicher, was sie auf Deutsch zischt, während sie sich mit einer abfälligen Handbewegung von mir abwendet. „Hinterwäldler!“

Der Druck in meiner Kehle explodiert endlich. Ich kann mich nicht länger zurückhalten. Selbst schuld, Baby!

„Arrogante Tussi!“, knurre ich lautstark, ebenfalls auf Deutsch, und gleich hinterher: “Zimtzicke!“, so wütend bin ich. Die Frau zuckt zusammen. Ich registriere zufrieden, wie sie nervös über ihr Haar fährt. Mit triumphierendem Grinsen greife ich nach dem Fernglas und verlasse die Kabine. Soll sie in ihrem eigenen Saft schmoren. Mein Blick fällt auf Neil, der verwirrt die Augen zusammenkneift und schlagartig bin ich nüchtern. Was ist los mit mir? Meine heutige Stimmung darf nicht das Geschäft schädigen. Ich werde mich um die Wale kümmern und es gut sein lassen. Neil wird sich schon der Frau annehmen. Ich zucke die Schultern und will mich gerade Richtung Bug aufmachen, als der Mann mit chinesischen Gesichtszügen und das etwa vierzehnjährige hübsche Mädchen, genau die beiden, die ich vorhin beobachtet habe, neben die Anzugtussi treten. Die blonde Jugendliche hält mir grinsend die Hand hin.

„Hallo, ich bin Valérie. Ich spreche auch Deutsch und die arrogante Tussi da ist meine Mutter Elle.“

Das Model und der Walflüsterer

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