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REISEN 3
ОглавлениеDenke ich ans Reisen, fällt mir ein katholisches Kirchenlied ein, das gerne zu Weihnachten gesungen wird.
Es beginnt so:
Menschen, die ihr wart verloren,
lebet auf, erfreuet euch!
Heut ist Gottes Sohn geboren,
heut ward er den Menschen gleich.
Dazu bekam ich etliche Briefe, allesamt von Menschen, die den Text an einer winzigen, doch bedeutsamen Stelle falsch verstanden hatten, sie hatten als Kinder bei dem Wörtchen wart sozusagen ein großes W gehört, Wart also.
Menschen, die ihr Wart verloren.
Aber was das sein könnte, dieses Wart, das da verloren gegangen war, das wusste sich niemand zu erklären. Es war auch irgendwie egal, »Trost und Rettung nahte ja durch die Geburt Jesu«, schrieb mir Frau D. (Immerhin schien übrigens nie jemand das zweite ward falsch verstanden zu haben, es wird ja auch mit d geschrieben, vielleicht liegt es daran.)
Verblüffenderweise passt aber auch das groß geschriebene Wart bestens in den Text, und zwar in fast allen Schattierungen seiner früheren Bedeutungen. Ganz ursprünglich war darunter ja ein Hüter oder Wächter zu verstehen, wie er heute noch als Wortteil im Kassenwart oder Torwart existiert und wie wir ihn in jenen Menschen sehen, die in der Werkstatt unser Auto warten, und wie er dann eben in der Warte wiederkehrt, von der aus man ins Land schauen kann: den Zinnen, den Türmen, den Festen, den Wällen, den Mauern, den Dämmen.
Von Jerusalem die Warten
Lagen schon in rothem Duft.
Stand der Patriarch im Garten,
Glockenklang ging durch die Luft.
So dichtete Eichendorff, und bei August Graf von Platen war die Wart dann endgültig eine Art Leuchtturm. Er schrieb:
Wenn ich bei Nacht die finstre See befahre,
Wer zündet Licht mir auf den hohen Warten?
Natürlich sind die Worte wart verloren im menschheitsschicksalhaften Sinne weit umfassender als das doch eher kindlich-konkrete Wart verloren, aber letztlich …
Ach, letztlich …
Beim Herumstöbern entdeckte ich dann noch ein Gedicht Friedrich von Matthissons, der Zeitgenosse und Freund Hölderlins war, auch von Schiller und übrigens Beethoven hoch geschätzt. (Doch nach seinem Tode war Matthisson rasch vergessen.) Das Todtenopfer heißt dieses Gedicht, darin die Zeilen:
Aus Warten und aus Klüften
Fleugt scheu die Eul’ empor;
Es gehn aus ihren Grüften
Die Geister leis’ hervor;
Still tanzen, in Ruinen,
Die Gnomen und die Fey’n,
Vom Glühwurm bleich beschienen,
Den abendlichen Reih’n.
Ach, wer je des Nachts vom Glühwurm bleich beschienen war, der wird verstehen, wie ich diese Art des Reisens schätze: Man startet mit einem Kirchenlied und kommt bei einem längst vergessenen Dichter an.