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ZEIT

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Es ist sehr lange her, dass mir Frau S. aus Bad Godesberg schrieb: »In meiner frühen Jugend gab es noch Straßensänger. Sie sangen in Hinterhöfen von Mietshäusern, oft von einem Ziehharmonika- oder Geigenspieler begleitet. Wir wurden als Kinder öfters zu einer Schneiderin gefahren, die in einem solchen Mietshaus im – vielleicht – dritten Stock wohnte und uns Kleider nähte, resp. umänderte. Das war für uns langweilig, doch dann kamen meistens die Straßensänger in den Hof, es wurden Münzen in ein Zeitungspapier gewickelt und runtergeworfen. Das Faszinierendste und Zauberhafteste, das ich da hörte und nie vergessen habe, lautete:

Das muss ein Stück vom Himmel sein,

wie wunderfein, wie wunderfein …

Über Jahre habe ich gerätselt, was es wohl mit diesem wunderfeinen Stück Himmel auf sich haben könnte, und erst viele Jahre später, als erwachsener Mensch erfuhr ich die ernüchternde Lösung:

Es hieß nicht ›wie wunderfein‹ im Liede, sondern ›Wien und der Wein‹.«

Das Schöne an Sprachland ist aber nun, dass wir die ernüchternde Lösung hier ignorieren können, ja, wir müssen sie nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Für uns gibt es sie einfach nicht.

Wir leben nämlich in einem Land, in dem eine kleine Münze wirklich ein Stück vom Himmel ist, ja, der Himmel ist voller Bargeld, und es wird der Tag kommen, an dem auch mal ein Hunderter von oben herabsegelt und sanft auf unserem Scheitel landet – und noch einer und noch einer …

Wie wunderfein das sein wird!

Aber es ist, andererseits, nicht wichtig.

Sprachlandbewohner sind erstens an Geld nicht interessiert, sondern an Poesie, an Irrtümern, an Missverständnissen. Und zweitens ist es eben so: Wenn sie Geld benötigen, singen sie ein Lied – und Münzen wie Scheine fallen auf sie herab.

Das ist einfach selbstverständlich.

Und weil das so ist, haben sie Zeit. Sie können schlafen, bis sie wirklich wach sind, kein Wecker holt sie aus dem Dämmer, sie haben keine Termine und wenn doch …? Wenn also wider Erwarten eine Verabredung im Kalender stehen sollte, dann stecken sie diese einfach in den Mund und essen sie auf, weg ist die Verabredung, so wie auf jenem Frühstücksbuffet, auf dem es Dates gab. Was einerseits Datteln bedeutet, aber eben auch, wie man auf dem kleinen Hinweisschild über der Dattelschale sofort erkannte, weil es dort geschrieben stand: Termine.

Also, gehen wir heute einfach auf den Markt oder ins Obstgeschäft, kaufen ein paar Dates und essen die, sie sind reich an Ballaststoffen und Antioxidantien, enthalten kaum Fett, aber viele Vitamine, auch Kalium und Magnesium, zudem die Aminosäure Tryptophan, die der Körper schnurstracks in das Hormon Melatonin umwandelt.

Das beruhigt die Nerven und lässt uns gut schlafen.

Man isst Termine und schläft wie ein Baby.

Und so liegen wir in Sprachland oft im Gras und zwinkern ins Licht, beobachten ein paar Scheine, die uns direkt in die Börsen segeln, und schauen in den Himmel, wo die Vögel sind, die Wildgänse zum Beispiel, ja, genau sie: aus Walter Flex’ einst berühmtem, von Robert Götz vertontem Gedicht Wildgänse rauschen durch die Nacht, das von Wandervögeln und Wehrmacht, von Pfadfindern wie Hitlerjungen gleichermaßen gesungen wurde.

Wildgänse rauschen durch die Nacht,

mit schrillem Schrei nach Norden.

Unstäte Fahrt,

Habt Acht, habt Acht!

Die Welt ist voller Morden.


Dazu schrieb mir Frau T. aus Springe, ihre Freundin, Jahrgang 1926, habe als Kind immer Halb acht, halb acht! verstanden und es mit leichter Verwunderung hingenommen, »dass die Gänse bei ihrer immerhin unsteten Fahrt doch stets pünktlich um halb acht Uhr über des Liederdichters Kopf hinwegzogen«.

So ist das eben hier: Auf diese Welt ist Verlass, auch auf die schrill mahnend die Nacht durchrauschenden Wildgänse, und sei die Welt auch voller Morden: Wenn sie zu uns kommen, kann man nach ihnen die Uhr stellen. Es läuft, bei großer Entspanntheit, alles präzise.

Übrigens gibt es ein schönes kleines Buch des Bostoner Physikers Alan Lightman: Und immer wieder die Zeit heißt es. Der Autor stellt sich darin neue Zeit-Welten vor, eine etwa, in der die Zeit auf den Bergen langsamer vergeht als im Tal, oder eine andere, in der Zeit ein lokales Phänomen ist, in jedem Ort gehen die Uhren anders. Lightman überlegt, was jeweils die Folgen sein könnten. Würden die Menschen im Fall eins auf den Bergen leben, weil sie dort mehr Zeit haben? Würden sie im Fall zwei das Reisen vermeiden, weil nach einem Aufenthalt dort bei der Rückkehr zum Beispiel die Kinder älter wären als man selbst?

An dieses Buch musste ich denken, als mich Herr K. aus Mittenwald seinerzeit auf die (heute leider nicht mehr aktive) Rezeptseite turkiyeninrehberi.com hingewiesen hatte und ich daraufhin dort ein Rezept entdeckte, in dem es hieß: 5 Minuten vor dem Ende der kochenden Zeit, Fügen Sie die Erbsen und schwarzen Pfeffer, Decke mit einer Serviette hinzu, und reisen Sie nach 20 Minuten ab.

Die kochende Zeit. Was wäre das für eine Welt, in der die Zeit zum Kochen gebracht werden kann?

Klingt auf jeden Fall nach Abreisen, nicht wahr? Wer möchte leben, wo die Zeit siedet, da verschwindet einer lieber, bevor er sich die Finger verbrennt.

Doch was ist, wenn man eines Tages wieder zurückkehrt?

Wird dann nicht die Zeit – wie ja auch das Wasser, wenn man es nur lange genug vor sich hin kochen lässt – verschwunden sein? Eingekocht und dann verkocht? Werden wir vor dem Zeitkochtopf stehen, und da wird nichts mehr sein? Wo ist die Zeit dann, nach dem Kochen? Verschwunden? Für immer weg? Nein, das gibt es nicht, auch die Wassermoleküle haben sich ja nach dem Verkochen nicht in nichts aufgelöst, ihre Bestandteile sind nur aufgestiegen und haben sich mit der Luft vermählt.

Also, richtig, die Zeit wird verdampft sein, und wenn wir nach unserer Rückkehr die Zeitküche betreten, dann atmen wir die Zeit ein, sie füllt unsere Lungen, sie bereichert unseren Stoffwechsel, Sekunden, Minuten, Stunden werden wir in uns aufnehmen – und das ist zweifellos ein großartiger Gedanke: dass die Zeit ein Teil von uns wird. In keinem anderen Land ist das möglich, glauben Sie mir, ich habe schon Menschen an ihren Armbanduhren lecken sehen, ich habe sie beobachtet, wie sie den Sand aus ihren Eieruhren löffelten und mit einem Glas Wasser herunterspülten, ja, ich war Zeuge, wie Leute an den Stäben von Sonnenuhren knabberten.

Es war verzweifelt und sinnlos.

Zeit in sich aufnehmen, Zeit atmen, das geht nur hier, in Sprachland, wo wir ja auch Termine essen können und also gewöhnt sind, Zeit zu inkorporieren.

Übrigens entdeckte ich die zentrale Zeiteinheit dieses Landes bei einem Besuch in Österreich, in einem Hotel am Wolfgangsee. Dort wollte ich das Wellness-Zentrum aufsuchen und sah bei einem Blick auf die Angebotsliste, dass hier weder in Stunden noch in Tagen gerechnet wurde, nein, die einzig maßgebliche Maßeinheit der Zeit hier war die Verwöhnminute. Jede mögliche Körpermaßnahme, sei es die Faszien- oder die Teilmassage oder die Lymphdrainage, wurde in Verwöhnminuten bemessen, 30 Verwöhnminuten für dies, 45 Verwöhnminuten für jenes.


Wenn es aber Verwöhnminuten gibt, müssen dann nicht auch Verwöhnstunden, Verwöhntage, Verwöhnwochen, Verwöhnmonate, ja, Verwöhnjahre existieren?

Und siehe da: Natürlich gibt es sie. Das ganze Internet ist voll davon, Hotels, Kosmetiksalons, Wellness-Oasen, überall wird die Zeit in Verwöhneinheiten organisiert, nirgends ist hier die einfache Minute, der simple Tag, die ordinäre Woche genug. Anderswo gibt es die Schrecksekunde, den Minutentakt, die Arbeitsstunde, den Sitzungstag, die Sechstagewoche, den Fastenmonat, das Dienstjahr, all diese harten, Entbehrungen benennenden Begriffe: der Takt der Ackerer und Rackerer, der Wulacker und Malocher, der Klotzer und Roboterer, der Schaffer und Knechter.

In Sprachland aber perlt die Zeit dahin. Sie tropft auf deine Stirn wie Öl bei einer ayurvedischen Massage, sie fließt über deinen Rücken wie Schweiß in der Sauna, sie schäumt dein Haar wie Sandelholzshampoo, sie dringt in deine Haut wie milde Mandarinencreme, sie bedeckt dein Gesicht wie eine Gurken-Minze-Maske, sie nuckelt an deiner Epidermis wie ein Schröpfglas und lockert deine Fußreflexzonen wie ein kundiger Masseursdaumen.

Du isst sie. Du atmest sie ein.

Diese Zeit ist gut zu dir, Verwöhnminute für Verwöhnminute.

Frau W. aus Cottbus schrieb mir einmal, ihr Lebensgefährte habe als kleiner Junge, vor damals mehr als fünfzig Jahren, mit seinem Bruder zusammen einen Kriegsfilm im Fernsehen gesehen. Das sei in der DDR gewesen und ziemlich grauenhaft, Bomben, Explosionen, Getöse. Auf dem Höhepunkt des Ganzen sei der Opa ins Zimmer gekommen und habe gesagt:

»Ja, das war früher.«

Danach sei die Zeit vergangen, eines Tages sei es Frühling geworden, die beiden Buben und der Großvater waren im Garten, und der Opa habe sich in der Sonne gerekelt und gesagt:

»Jetzt ist Frühjahr.«

Schreiend seien die beiden weggerannt, um sich zu verstecken.

Sie hatten verstanden:

»Jetzt ist früher.«

Und gedacht, jetzt kämen die Bomben und alles werde wie im Film. »Die Aufklärung der Geschichte«, so W., »ließ lange Zeit auf sich warten, denn obwohl gründlich von den Eltern befragt, waren die Jungen vor Entsetzen verstummt.«

Jetzt ist früher.

Das ist interessant.

Denn es klingt nach Zeitmaschine. Opa sitzt im Garten und sagt Jetzt ist früher. Man muss sich ja nur mal vorstellen, das würde wirklich funktionieren, früher muss ja nicht Bombenkrieg bedeuten, es könnte auch etwas anderes sein, Opas Hochzeitstag oder die schönste Sommerwoche des Jahres 1956, oder es könnte auch sein, dass jemand Jetzt ist morgen ruft, und man bekommt plötzlich eine Vorstellung der Zukunft, von Silvester 2038 vielleicht oder solche Sachen, wäre das nicht interessant?

Früher ist jetzt. Morgen ist gestern. Heute ist einst.

Man muss es ja nicht machen, aber als Möglichkeit – immerhin!

In Sprachland geht’s!

Im Bann des Eichelhechts

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