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Die erste Wiederholung

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»Ich schon«, erwiderte er und nahm noch einen tiefen Schluck aus seinem Glas, bevor er begann:

Es war an einem Septembertag, ein Montag. Ich hatte den ganzen Tag über im Büro bereits so einen Druck auf der Brust, schrieb es dem Wetter zu. Habe ich auch meinem Kollegen gesagt, der schaute mich nur kurz an und meinte dann, dass das Wetter doch genauso sei wie immer, keine Schwüle, eher kühl. Ich dachte noch bei mir: Der kriegt mal wieder gar nichts mit, aber weit gefehlt.

Auf der Fahrt nach Hause wurde es schlimmer, als ich dann endlich mein Zuhause erreichte, war es kaum noch zum Aushalten. Ich legte mich kurz auf die Couch im Wohnzimmer, das brachte aber auch keine Linderung. Weder meine Frau noch eines meiner Kinder war anwesend, so überlegte ich alleine, was denn zu tun sei. Zum Arzt fahren? Die Praxis war um diese Uhrzeit bereits geschlossen. Zur Notaufnahme ins Krankenhaus? Den Notarzt anrufen? Zuerst ging ich einmal zur Toilette, da mir übel wurde, äußerst übel. Dort angelangt musste ich mich übergeben und zwar so stark, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Dann kam der Schmerz! Der Schmerz, der in der Brust begann und sich übergangslos in beide Arme fortsetzte. Ich brach vor der Toilette zusammen, der Schmerz wurde immer schlimmer, ich verlor das Bewusstsein.

Irgendwann wachte ich dann wieder auf. Mein Vater strich mir mit seiner Hand über den Kopf. »Thomas, es ist Zeit zum Aufstehen«, sagte er und betrieb damit das uralte Ritual, unser Ritual, als ich noch bei meinen Eltern wohnte.

Ich blinzelte, vom Flur fiel etwas Licht ins Kinderzimmer auf mein Gesicht. »Weck deinen kleinen Bruder nicht auf«, ermahnte mich mein Vater. »Er muss erst später aufstehen.«

Ich verstand nichts mehr, was war geschehen? Egal, das würde ich später ergründen, jetzt verspürte ich erst einmal ein dringendes Bedürfnis meine Notdurft zu verrichten. Ich sprang aus dem oberen Bett des Doppelstockbettes heraus, logischerweise, wie fast immer früher, landete ich auf einem der meinem Bruder gehörenden Legosteine, die flächendeckend auf dem Fußboden verteilt waren. Der Schmerz überzeugte mich davon, dass ich nicht träumte.

Ich schlich mich in den Flur, der grün gestrichen war, nicht weiß, wie er sich noch vor einer Woche dargestellt hatte, als ich meine Eltern besuchte. Nein, grün! Dieses merkwürdige, kräftige grün! Siebziger Jahre, die des vorigen Jahrhunderts, wie man heute so zu sagen pflegte. Das war in den Siebziger Jahren so gewesen. Damals hatten meine Eltern den Flur in diesem grün gestrichen, die Badezimmer waren in hellblau und in hellgrün gefliest, vom Boden bis zur Decke, rundum, wie im Schwimmbad.

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und strich mit der Hand die Wand im Flur entlang. Ja, Raufaser, grün gestrichen, nicht der weiße Rauputz von letzter Woche. Ich ging ins Gäste-WC, das Bad wurde morgens immer von meinem Vater benutzt. Auf der Toilette sitzend, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Was lief hier ab? Ich war doch gerade fünfzig Jahre alt geworden, schoss es mir durch den Kopf. Das hier konnte doch nicht real sein. Der Legostein fiel mir wieder ein und dann der Schmerz in meinem Fuß, gut der hatte nachgelassen ..., dann erinnerte ich mich an die Schmerzen in meiner Brust. Ich schob meine rechte Hand unter den Schlafanzug, legte sie auf mein Herz und hörte in mich hinein, nein, da war nichts, absolut nichts, alles schien völlig in Ordnung.

»Thomas, bist du da drin?«, schallte es durch die Tür. »Mach mal, ich muss auch!« Die Stimme meiner Schwester rief mich in die Realität oder zumindest in das, was ich zurzeit dafür hielt, zurück.

»Ja, einen kleinen Moment noch«, antwortete ich und beeilte mich, fertig zu werden.

Eine Viertelstunde später saß ich am Frühstückstisch und sah meine Mutter und meinen Vater vor mir. So jung! Ich konnte es nicht fassen. »Soll ich euch mitnehmen?«, fragte mein Vater meine Schwester und mich. »Oder nehmt ihr das Fahrrad?«

»Fahrrad«, würgte ich hervor. Ich war doch immer mit dem Rad gefahren, zumindest ab einem gewissen Alter. Meine Schwester zog es noch vor, von meinem Vater mit dem Auto mitgenommen zu werden. Gut so, ich brauchte Ruhe und die Einsamkeit des Radfahrens, um überlegen zu können.

»Hast du deine Tasche gepackt?«, fragte meine Mutter.

Ich wusste es nicht. Oft genug hatte ich damals meine Sachen erst morgens zusammengesucht, manchmal auch am Abend vorher. Ich zuckte mit den Achseln und eilte in mein Zimmer. Mein kleiner Bruder war mittlerweile ebenfalls aufgestanden und hatte sich ins Bad begeben, sodass ich Licht machen konnte.

Meine Tasche stand auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch. Auf dem Tisch lagen keine Utensilien herum, die Tasche sah gepackt aus, also ergriff ich sie, nahm meinen Schlüsselbund vom Haken, den ich an meinen Schrank in meinem Zimmer angebracht hatte, zog meine Schuhe an, ergriff meine Jacke und wandte mich zur Tür. Kam jetzt der unsägliche Moment? Er kam!

Meine Mutter stürzte aus der Küche, umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Mach´s gut, Thomas«, sagte sie und ich flüchtete schnell zur Tür hinaus.

Mein Rad stand wie immer draußen im Nieselregen vor der Tür im Fahrradständer. Ich blickte zurück, ja, so hatte das Haus damals in den Siebzigern ausgesehen, als es noch nicht mit Schiefer verkleidet worden war. Sieben Stockwerke hoch, fünf Eingänge, L-förmig gebaut. Ein Wohnblock, an den sich zwei weitere, ähnlich gestaltete Blöcke anschlossen, die um einen großzügigen Innenhof herum angesiedelt worden waren. Vor wenigen Jahren waren hier noch eine Kuhweide und Felder gewesen, jetzt stand hier eine Hochhaussiedlung. – Ich hatte diesen Hof geliebt, hier hatte ich gespielt, es war eine Unmenge an Kindern vorhanden, es war eine schöne Zeit, aber, verdammt noch mal, ich gehörte nicht hierher, nicht hier und jetzt!

Ich war fünfzig Jahre alt, hatte selbst Kinder, war verheiratet und ... hatte vermutlich gerade einen Herzinfarkt erlitten. Erneut tastete ich mit meiner Hand meinen Brustkorb ab, nein, da war nichts.

Was sollte ich tun? Ich schritt zu meinem Rad, öffnete das Schloss, wischte den Sattel ab, sodass meine Hose nicht allzu nass werden würde. Warum hatte ich das Rad damals eigentlich nicht regelmäßig in den Fahrradkeller gebracht? Sicherlich, der war im Keller, ich musste eine Treppe runter, aber da stand es trocken, würde nicht rosten ... Der Lenker würde nicht während der Fahrt brechen, fiel mir ein. Ich rüttelte daran, nein, das würde heute nicht geschehen, dazu bedurfte es vermutlich noch einiger Jahre, die das Rad draußen stehen würde.

Ich schnallte meine Tasche auf dem Gepäckträger fest, saß auf und fuhr los. Es war schön, einfach genial. Diese Strecke hatte ich geliebt. Die Rheinstraße ein Stück entlang, dann links abbiegen und den Hohlweg hinunter, da bekam man richtig Fahrt, später war es dann auf dem Rückweg beschwerlich, da musste ich sicherlich die Hälfte des Berges schieben, aber runter, das war einfach genial.

Die Ampel an der Graf-Zeppelin-Straße war grün, ich konnte ohne anzuhalten die Straße überfahren. Nun lag links der Friedhof, meine Großmutter kam mir in den Sinn, sollte ich anhalten und ... Ich schalt mich einen Idioten, jetzt und hier? Sie musste noch leben, ich würde sie besuchen können, ein Aspekt, der mir an dieser Situation sehr gefiel. Aber jetzt war die Schule mein Ziel. Kurze Zeit später langte ich dort an und stellte mein Rad auf dem Fahrradhof rechts vor der Schule ab. Ich war früh genug, um noch einen Platz unter der Überdachung zu ergattern, noch standen nicht viele Räder hier. Fuhren heutzutage eigentlich immer noch so viele Schüler täglich mit dem Rad zur Schule? Meine Kinder taten es nicht und deren Freunde ebenfalls nicht. Damals, heute, ich brachte die Zeiten durcheinander, hier und jetzt würde sicherlich der komplette Hof mit Rädern vollgestellt sein. Wie viele Räder passten hier hin? Zweihundert? Dreihundert? Schwer zu schätzen. Die Schule hatte damals annähernd eintausend Schüler, wie mir einfiel, die Quote war sicherlich nicht schlecht.

Der Raucherhof, direkt vor dem Eingang gelegen, kam mir wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten vor, aber hier standen die Oberstufenschüler und rauchten tatsächlich. Ich ging durch die Gruppen hindurch, da gehörte ich noch nicht zu, das war mir klar, sie waren allesamt wesentlich größer als ich, wo waren meine Mitschüler? Wo musste ich hin? Zwischen siebter und neunter Klasse war sicherlich alles möglich. Wohin also? Ich sah mich um.

Da gingen ein paar meiner Mitschüler, also hinterher. Sie gingen ins Treppenhaus, dort die Treppe runter in den Keller, demnach waren wir in der siebten oder achten Klasse, damals waren wir im Souterrain untergebracht, da zu viele Parallelklassen existierten, die normalen Klassenräume reichten nicht aus, geburtenstarke Jahrgänge halt.

»Hast du Englisch?«, wurde ich gefragt, als ich vor dem Klassenraum ankam.

Ich zuckte die Achseln, ich hatte keine Ahnung, welches Fach jetzt dran war.

»Das musst du doch wissen, ob du die Hausaufgaben gemacht hast«, fuhr mich Stefan an.

»Ach so«, antwortete ich und mir lief es siedend heiß den Rücken herunter, die gleiche körperliche Reaktion, wie ich sie von früher her kannte. Hausaufgaben, die waren doch dazu da, dass man sie kurz vor der Schule oder in den Pausen zwischen den Stunden von den anderen abschrieb. Nur in Ausnahmefällen machte ich sie damals selbst. Demnach stand zu erwarten, dass ich sie nicht hatte, ich riss meine Tasche auf, wühlte darin herum und brachte doch tatsächlich das Englischheft zum Vorschein. Ich blätterte darin herum, bis zur letzten beschriebenen Seite und zeigte diese meinem Mitschüler.

Der wandte sich genervt ab. »War doch irgendwie klar, dass du es nicht hast«, maulte er und fragte schon andere Mitschüler.

Ich sah auf meine Uhr, noch gut fünf Minuten bis zum Unterrichtsbeginn, konnte ich es noch schaffen, die Hausaufgaben abzuschreiben? Stefan hatte eine Mitschülerin davon überzeugen können, dass es lebensnotwendig war, dass sie ihm ihr Heft lieh, also los, hinterher. Wir schrieben beide so schnell und so viel ab, wie wir konnten, bis zum Klingelton und etwas darüber hinaus. Wir hatten knapp die Hälfte des Textes geschafft, als Sabine uns ihr Heft wieder abnahm, Frau Matthay hatte das Klassenzimmer betreten.

Alle Mitschüler holten nunmehr ihre Hefte heraus und legten sie aufgeschlagen auf die Tische. Frau Matthay ging herum, kontrollierte oberflächig die Texte. Vor meinem Tisch blieb sie stehen, schaute kritisch auf das Heft. War ja klar, auch mir, wenn ich denn Lehrer gewesen wäre, wäre aufgefallen, dass der Text zu kurz war. »Morgen nochmal«, war ihr Kommentar dazu. Auch Stefan hatte Pech, wie noch drei weitere Mitschüler. Die Stunde verlief quälend langsam. Ich bekam mit, dass Stefan unter dem Tisch irgendwelche anderen Hausaufgaben abschrieb. Welche wohl? Es lief mir erneut siedend heiß den Rücken herunter, sollte es dieser Tag sein? Dieser Tag, sechs Einzelstunden, mit sechs vorzulegenden Hausaufgaben, von denen ich nicht eine gemacht hatte! Es war dieser Horrortag, der schlimmste in der ganzen Schulzeit. Danach hatte ich es seinerzeit kapiert und die Hausaufgaben ernster genommen. Maximal drei Aufgaben pro Tag, vorzugsweise die der später liegenden Stunden, konnte ich schaffen in den Pausen abzuschreiben, aber nicht sechs. Drei musste ich selber erledigen, das hatte ich dann später beherzigt, aber heute ..., heute war eben dieser schreckliche Tag!

Englisch, danach Mathe, dann Erdkunde, Geschichte, Französisch (der Horror schlechthin bei Herrn Huch) und dann noch Physik. Ich versuchte alles zu schaffen, manche Lehrer sahen nicht so genau hin, bei vieren fiel ich auf, Pech gehabt, wie damals. Sabine fragte mich nach zwei Pausen entnervt, ob ich denn überhaupt nichts gemacht hätte. Ich zuckte mit den Achseln, was sollte ich auch antworten? Irgendwie ging dann dieser Schultag doch vorüber.

Der allgemeine Schüleraufbruch nach der sechsten Unterrichtsstunde war phänomenal für mich. Dass es so katastrophal war, war mir in meiner Erinnerung nie so vorgekommen. Vor allem der Start der fahrradfahrenden Schüler war bemerkenswert. Dutzende Räder steuerten gleichzeitig das Nadelöhr, auch Tor genannt, an, durch das man hindurch musste, um vom Fahrradhof über den Gehweg die Straße zu erreichen. Den Gehweg, der nunmehr von den übrigen Schülern auf ihrem Weg nach Hause genutzt wurde und das alles ohne Kollisionen, ohne Schutzhelme. – Die Diktatur der Fürsorge hatte, zumindest was die Fahrradfahrer anging, noch nicht eingesetzt, die Helmpflicht kam erst Jahre später. Damals machten wir uns noch lustig über die blödsinnige Vorschrift, dass jetzt Mofafahrer einen Integralhelm zu tragen hatten, ließen wir die doch mit unseren Rädern quasi auf der Straße stehen.

Das Gros der Schüler, die mit dem Fahrrad unterwegs waren, wandte sich nach rechts, korrekt der Einbahnstraße folgend. Ich fuhr entgegen der Fahrtrichtung nach links und erreichte nach nicht einmal einhundert Metern dann wieder Rechtssicherheit, da dort die Straße in beide Fahrtrichtungen befahren werden durfte. Für mich war es notwendig diesen Weg zu nehmen, da er mich an der Bude an der Corneliusstraße vorbeiführte. Wie ich in der Schule mitbekommen hatte, war heute Donnerstag und donnerstags erschien immer das neue Zack-Heft. In meiner Hosentasche hatte ich die dafür notwendigen 1,50 DM gefunden, ich musste sie mir wohl am gestrigen Abend zu eben diesem Zweck eingesteckt haben. In die Comicabenteuer vertieft, radelte ich einhändig weiter, wieder am Friedhof an der Brederbachstraße vorbei und entschied mich dann, das Rad den kompletten Berg nach oben zu schieben, um dabei weiter schmökern zu können. Die Comics kannte ich zwar alle noch fast auswendig, hatte ich sie mir doch später in meinem Erwachsenenleben erneut in Luxusausgaben zugelegt, aber es war ein besonderes Gefühl, die Erstausgabe im deutschsprachigen Raum quasi druckfrisch in den Händen zu halten.

Irgendwann langte ich dann zu Hause an, stand vor der Tür und traute mich nicht hinein. Wie sollte ich mich verhalten? Das etwa vierzehnjährige Kind spielen? Der Comic war ja gut und schön gewesen, aber jetzt war ich in der Realität angekommen. Ich entschied mich dazu, erst einmal gute Miene zum bösen Spiel zu machen und versuchte den Nachmittag so zu verbringen, wie ich ihn damals verbracht haben könnte, sogar an die Hausaufgaben wagte ich mich heran. Dröges Zeug, überspitzt dargestellt: Warum sollte ich seitenweise 1+1 rechnen, wenn ich kapiert hatte, wie es ging? – Nun, ich hatte es ja nicht kapiert, aber diese Hausaufgaben brachten mich diesbezüglich auch nicht weiter.

Ich sah mir mein Bücherregal an, fast ausschließlich Karl May, den konnte ich jetzt wirklich nicht mehr lesen. Aber da, da waren ein paar Bücher von B. Traven, mein Vater hatte sie mir seinerzeit überlassen, die hatte ich seit Jahrzehnten nicht mehr gelesen, ich vertiefte mich in die Rebellion der Gehenkten und der Nachmittag verging wie im Fluge.

Nach dem Abendessen verschwand ich zügig im Bett, las das Buch zu Ende und schaltete das Licht aus. Ich lag noch lange wach und dachte an den morgigen Tag. Würde ich wieder hier aufwachen oder würde ich in meine Zeit zurückkehren? – Irgendwann schlief ich ein.

Mein Vater strich mir sanft über den Kopf. »Du musst aufstehen, mein Sohn«, sagte er dabei. »Die Schule wartet.« Der Lichtschein aus dem Flur fiel mir ins Gesicht.

Ich kletterte aus dem Bett, diesmal vorsichtiger, wegen der Legosteine, begab mich ins Bad und führte das morgendliche Ritual aus. Wie sollte ich den Tag verbringen? So tun, als ob alles normal wäre, so wie gestern? Ich dachte an meine Familie, meine Frau, meine Kinder. Wo waren sie? Warum war ich hier? Wie war ich hierhergekommen? – Die Maschinerie des Alltags brachte mich zum Funktionieren.

Eine Idee schoss mir durch den Kopf, die Stadtbücherei. Ich war doch damals immer in die Stadtbücherei gegangen, hatte mir dort Bücher ausgeliehen. Hatte ich den dazu notwendigen Ausweis bereits oder musste ich ihn erst beantragen? Wo pflegte ich denn damals das Teil hinzulegen? Ich wusste es nicht mehr. Im Portemonnaie war er nicht, auf dem Bücherregal ebenfalls Fehlanzeige.

Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken. »Thomas, beeil dich, du musst los, du kommst sonst zu spät«, rief sie aus der Küche.

Ich antwortete nicht, der Ausweis war jetzt wichtiger. – Da, unter einem Stapel Papier lugte er hervor, glücklich ergriff ich ihn und steckte ihn ein. Jetzt konnte erst einmal nichts mehr schiefgehen, in der Stadtbücherei in Kettwig hatten sie ein zwar beschränktes, aber dann doch anständiges Sortiment an guten Büchern. Etwas genervt, ich konnte es kaum abwarten, brachte ich die Schule hinter mich und fuhr dann, selbstredend entgegen sämtlicher Einbahnstraßenregelungen, durch die Kettwiger Altstadt zur Stadtbücherei.

Zielstrebig betrat ich die Räumlichkeiten, sie sahen noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Da, vor Kopf, dieses Regal, dort standen sie, die Bücher, die mich interessierten. Mit dem Finger fuhr ich die Buchrücken ab, sofort breitete sich ein Gefühl der Enttäuschung in mir aus, aber was hatte ich denn erwartet? Die hier stehenden Werke kannte ich alle bereits, wie sollte es auch anders sein? Damals hatte ich sie doch über Jahre hinweg ausgeliehen und gelesen und mir später dann auch noch gekauft, als ich über eigenes Geld verfügte. Ich konnte den Inhalt der meisten Werke fast rezitieren!

Ich fing noch einmal im obersten Regalfach an, da stand eine Reihe mit Titeln von Asimov, geniale Bücher in ihrer Zeit, für mich mittlerweile etwas altbacken. Einige russische Autoren schlossen sich an, auch die hatte ich damals gelesen, von der ersten bis zur letzten Seite, kein Wort ausgelassen, trotz der offensichtlichen Ideologie, die hier transportiert wurde, aber mir ging es um die Idee, die hinter den Werken stand und die war oft genug trotzdem genial.

Weiter. Da kam Clarke, Heinlein und da ... Simak! Ich griff zu. Wie oft hatte ich den gelesen, sämtliche seiner Bücher, oft, mehrmals. Vor allem seine Kurzgeschichten, einfach genial, der Mann. Ich blätterte herum, ja, da war sie! Der große Vorgarten, die Geschichte, die mich so sehr beeindruckt hatte. Vier Bücher von Simak wanderten in meinen Korb. – Wie viele Bücher durfte ich mir gleichzeitig ausleihen? Egal, ich nahm mir noch zwei Werke von Heinlein, ebenfalls Kurzgeschichten, da war er in meinen Augen stark und bückte mich zu den unteren Regalreihen. Ringwelt, nein, das musste ich nicht noch einmal lesen, war zwar nicht so schlecht gewesen hatte aber Längen und dann diese endlosen Fortsetzungen, Niven hatte bestimmt gut daran verdient. Ich fuhr mit dem Finger weiter ..., dann stutzte ich. Niven? Das Buch musste falsch einsortiert sein, es stand nicht unter N, auch nicht unter L, wie Larry Niven. Ich ging zurück. Da stand nur der Titel auf dem Buchrücken, kein Autorenname. Wahrscheinlich deshalb unter R abgelegt, dachte ich und zog das gebundene Buch heraus. Mir wurde schwindlig, ich musste mich auf den Boden setzen, da prangte ein anderer Name ganz groß auf dem Cover: Randolph Zoran. – Wer zum Teufel war Randolph Zoran? Ich schlug das Buch auf, suchte im Impressum. Copyright 1953! Originaltitel Ringworld! – Das konnte nicht sein, das war doch unmöglich. Das Buch hatte Larry Niven geschrieben, in den Siebzigern, das wusste ich ganz genau!

Ich legte das Buch in meinen Korb und zog weitere Bücher, die neben diesem gestanden hatten heraus. Alle gaben sie Randolph Zoran als Verfasser an. Und die Titel? Ich kannte sie alle! Der Wüstenplanet, die Flusswelt der Zeit, Gateway, Ender, Planet der Habenichtse – das alles sollte dieser Zoran geschrieben haben? Ich schlug die Seiten mit dem Impressum nach und nach auf. Die Werke stammten allesamt aus den vierziger und fünfziger Jahren. Auch das war falsch, sie waren in der realen Welt, in meiner Welt, erst wesentlich später verfasst worden.

Ich legte sie alle in meinen Korb, stellte dafür die Werke von Heinlein und Simak zurück, ich musste dem hier erst einmal auf den Grund gehen. Das Wochenende verbrachte ich damit, sie alle zu lesen. Meine Eltern mussten akzeptieren, dass ich nicht mit zu den Großeltern fuhr, das hier war wichtiger!

Sie waren gut, sie waren besser als die Originale, die ich kannte. Dieser Zoran hatte einen besseren Stil. Er hatte die Längen, die die Originale durchaus hatten, gestrafft, einige neue Ideen eingebracht und einfach phantastisch geschrieben. Der Liste am Ende der Bücher entnahm ich, welche Werke er noch geschrieben hatte. Allesamt bekannte Bücher, Bestseller in meiner Zeit. Er hatte jedoch nicht den Fehler begangen, sie mit den endlosen Fortsetzungen zu beglücken, nein er hatte immer nur das jeweilige Hauptwerk neu geschrieben. Bände sprach für mich der Herr der Ringe, als phantastisches Fantasywerk mit 300 Seiten angepriesen. Der Mann schien wirklich mit Verstand an die Nacherzählung herangegangen zu sein!

Ich ließ das Buch in meiner Hand sinken. Mir war mittlerweile klar geworden, was hier geschehen war. Dieser Randolph Zoran musste ein ähnliches Schicksal wie ich erlitten haben, er hatte jedoch etwas daraus gemacht. Mit seinem Wissen und seiner schriftstellerischen Begabung, hatte er sicherlich viel Geld verdient, führte jetzt bestimmt ein sorgenfreies Leben. Konnte ich das auch? Ich überlegte, wie ich mein Vorauswissen über die Entwicklung der Welt einsetzen könnte. – Die Lottozahlen der kommenden Woche wusste ich nicht, so weit, so gut ...

1977, was wusste ich noch über diese Zeit? Herzlich wenig, wie ich mir eingestehen musste. Nachschlagen konnte ich auch nirgendwo. Wer war denn aktuell in Deutschland an der Regierung? Brandt? Oder war es schon Schmidt? Egal, das ließ sich herausfinden. Auf jeden Fall wusste ich, dass 1982 Kohl die Ära der SPD geführten Kabinette ablösen würde. Ließ sich damit etwas machen? Was war mit den Terroranschlägen der RAF, die fielen doch auch in diese Zeit. Konnte ich da Honig saugen, die Behörden irgendwie informieren? Tschernobyl, das war sicherlich etwas, das verhinderungswürdig war, fiel mir ein. – Aber wie sollte ich das bewerkstelligen? Ein vierzehnjähriger Junge mit überbordender Fantasie, mit der literarischen Vorliebe für Science Fiction, der die offiziellen Stellen Jahre vorher von einer Katastrophe in einem Kernkraftwerk im Ostblock unterrichtete?

Nein, ich benötigte Unterstützung, das war klar, aber welche? Wen hatte ich denn in meinem eigentlichen Leben kennengelernt, den ich jetzt aktivieren könnte? Ich hatte in den 1980ern in der Verwaltung eines Konzerns gearbeitet, der in Duisburg im Innenhafen saß. Da könnte ich versuchen anzusetzen. Mein damaliger Chef, Peter Wilhelm Groß, den würde ich kontaktieren!

Und was sollte ich ihm sagen? Hallo, hier ist ihr zukünftiger Debitorenbuchhalter, ich weiß, Sie kennen mich noch nicht, aber ich kann Ihnen wichtige Daten der Zukunft verraten? – So ging das nicht. Ich brauchte zwei Wochen, bis ich mir eine Strategie zurechtgelegt hatte.

Von Kettwig aus war es eine Himmelfahrt. Ich brauchte Stunden, bis ich in Duisburg im Innenhafen anlangte. Die Schule hatte ich an diesem Montag geschwänzt, nun stand ich vor dem etwas heruntergekommenen Bürogebäude und näherte mich dem Pförtner. Ihn kannte ich noch von früher, ein freundlicher, alter Mann, der bald nachdem ich hier angefangen hatte, in Rente gegangen war. Er sah mich erstaunt an, es geschah sicherlich nicht oft, dass ein Jugendlicher hier auftauchte.

»Zu Herrn Groß willst du?«, fragte er erstaunt. »Ich glaube nicht, dass er Zeit für dich haben wird«, nahm der Pförtner mein Anliegen entgegen.

»Oder zu seiner Chefsekretärin, Frau Schmidt«, fügte ich an. Die musste damals schon hier gewesen sein. »Oder von mir aus auch zu Herrn Bürger, dem Chef der Buchhaltung«, entfuhr es mir, der hatte mich damals eingewiesen, war auch schon lange Jahre hier angestellt gewesen, bevor ich hier angefangen hatte.

»Du willst ja hoch hinaus, kennen dich die denn alle?«, fragte er erstaunt.

Ich war versucht zu nicken, aber das stimmte ja noch nicht, sie würden mich erst kennenlernen, in gut zehn Jahren! »Bitte lassen Sie mich hinein, ja?«, sagte ich. »Es ist wichtig!« Ich schien ihn überzeugt zu haben, allein dadurch, dass ich die Namen diverser Entscheidungsträger des Unternehmens kannte.

»Guten Morgen, Herr Börner«, hörte ich hinter mir eine wohlbekannte Stimme.

Ich drehte mich um. »Lisa«, sagte ich. Die Frau, die hinter mir stand und nun durch die Eingangstür wollte, sah mich erstaunt an.

»Kennen wir uns?«, fragte sie.

Sie sah gut aus. Lisa Brenner, sie war drei Jahre älter als ich und hatte hier eine kaufmännische Ausbildung absolviert, bevor sie dann auf Dauer in die Buchhaltungsabteilung übergewechselt war. Lange, dunkle Haare, schmales Gesicht, ungefähr 1,60 Meter groß, weiße Bluse, roter Minirock, weiße Stiefel. So hatte ich sie nicht in Erinnerung, aber sie gefiel mir auf Anhieb.

»Noch nicht«, entgegnete ich und wurde rot. Platte Anmache.

Sie lachte und maß mich von oben bis unten. Irgendwie war klar, dass ich ihr etwas zu jung vorkommen musste. »Woher kennst du meinen Namen?«, fasste sie nach.

»Er will zum Chef«, sagte der Pförtner. »Ersatzweise auch zu Frau Schmidt oder Herrn Bürger. Nehmen Sie ihn mit hoch, Fräulein Brenner?«

Sie nickte. »In Ordnung, komm mit«, sagte sie in meine Richtung gewandt. »Ich will aber wissen, woher du mich kennst!« Wir stiegen zusammen die Treppen empor.

Viele Treppen, vier Geschosse, bis ins oberste Geschoss, hier war die Chefetage, gleichzeitig war hier auch die Buchhaltung untergebracht. »Wen bringen Sie uns denn da, Fräulein Brenner?«, fragte Frau Schmidt, als wir oben angelangt waren.

»Keine Ahnung, Frau Schmidt«, entgegnete Lisa. »Er will zum Chef.«

»Zum Chef?«, fragte die Chefsekretärin irritiert nach.

Ich nickte. »Es hört sich für Sie sicherlich etwas merkwürdig an, aber ich kenne ihn, Sie und auch noch so einige andere Menschen, die hier arbeiten. Ich möchte Ihnen etwas über die nahe Zukunft berichten.«

Die Chefsekretärin sah mich von oben herab über ihren Brillenrand an. Sie wusste nicht so recht, wie sie mit mir umgehen sollte. In ihren Augen musste ich einen durchaus gepflegten Eindruck machen, ich hatte mich in meine besten Klamotten gesteckt. Mein Anliegen war trotzdem äußerst ungewöhnlich.

»Sie trinken morgens immer eine ganze Kanne Kaffee, vorher sind Sie äußerst unleidlich, da geht man Ihnen am besten aus dem Weg«, sagte ich forsch. »Herr Bürger kommt regelmäßig immer eine Viertelstunde zu spät ins Büro, als Chefbuchhalter kann er sich das leisten und der Chef hat in seinem Schreibtisch eine Flasche Cognac versteckt, unten rechts in der Schublade.« Mein Wissen lag von hier aus gesehen zehn Jahre in der Zukunft, ich vertraute darauf, dass die Gewohnheiten bereits jetzt vorlagen.

Lisa und Frau Schmidt starrten mich entgeistert an.

»Hat der Chef sich bereits das Bein gebrochen?«, fragte ich unvermittelt weiter. »Er erzählt die Geschichte immer und immer wieder. Er ist im Treppenhaus ausgerutscht und eine ganze Treppe hinuntergestürzt, ich bin mir nicht sicher, wann das war, aber es muss in den späten Siebzigern gewesen sein.«

»Junger Mann, was ist das für ein Unsinn?«, fuhr mich die Chefsekretärin an. »Fräulein Brenner, bringen Sie ihn hinaus«, wies sie Lisa an.

Ich hatte überzogen, mein Plan war hin. Ich griff in meine Hosentasche, holte ein Blatt Papier heraus. »Hier, meine Adresse und Telefonnummer, ich habe alles darauf notiert. Außerdem noch ein paar Ereignisse, die bald eintreten müssten.« Ich blickte verzweifelt zu Frau Schmidt hinüber. »Mogadischu, die Entführung der Landshut ...«, ich sah in ihren Augen, dass sie mir nicht mehr folgen wollte. Auch meinen Zettel nahm sie nicht entgegen. Ich ließ mich von Lisa hinausführen.

Schweigend gingen wir die Treppen wieder nach unten. Auf dem vorletzten Treppenabsatz hielt sie mich am Arm fest und sah mir in die Augen. »Woher kennst du mich?«, fragte sie. »Was soll das Ganze?«

»Schwer zu erklären«, entgegnete ich. »Dazu brauchen wir mehr Zeit.« Ich ergriff die Chance und hielt ihr mein Blatt Papier hin. »Wenn du willst, ruf mich an, wir treffen uns dann und ich erklär dir alles.« Sie nahm den Zettel wortlos entgegen und komplimentierte mich hinaus.

Zurück nach Hause benötigte ich ebenfalls wieder Stunden, ich kam zumindest einigermaßen rechtzeitig zu Hause an, sodass meine Mutter davon ausgehen konnte, dass ich in der Schule gewesen sein musste. Eine Entschuldigung zu fälschen fiel mir nicht schwer, darin hatte ich mehr als genug Übung.

Es dauerte lange, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, aber im Oktober 1977, genauer gesagt, am 14. Oktober läutete bei uns das Telefon. Meine Mutter nahm ab und rief mich dann. »Eine Lisa für dich«, ihre Stimmlage drückte Neugier aus, es war das erste Mal, dass mich ein Mädchen anrief.

Ich verfluchte die Technik der Siebziger. Unser Telefon stand im Flur, direkt neben der Wohnungseingangstür. Zentral zu erreichen, jeder, der sich in Küche oder Wohnzimmer befand, hörte das komplette Gespräch mit, da das Kabel, mit dem das Gerät mit der Wandbuchse verbunden war, nur etwa einen Meter lang war und sich somit nicht mitnehmen ließ.

»Ja«, sagte ich nur.

»Thomas?«, fragte Lisas Stimme.

»Ja«, erwiderte ich erneut.

»Woher wusstest du das? Woher kennst du mich? Muss ich jetzt zur Polizei gehen?« Sie klang aufgeregt, sehr aufgeregt. An die Möglichkeit, dass ich in Schwierigkeiten, in erhebliche Schwierigkeiten kommen könnte, hatte ich nicht gedacht.

»Können wir uns treffen?«, fragte ich sie. Stille am anderen Ende der Leitung war die Folge meiner Frage. Ich fasste noch einmal nach. »Soll ich nach Duisburg kommen?«

»Nein«, entgegnete sie. »Ich komme zu dir. Ich habe meinen Führerschein gemacht, habe ein kleines Auto. Ich komme nach Kettwig. Da gibt es doch sicher irgendwo ein Café?«

Wir verabredeten uns für den kommenden Samstag in der Kettwiger Altstadt. Meine Eltern mussten erneut damit klarkommen, dass ich nicht mit zu den Großeltern gehen konnte, das hier war einfach wichtiger, was mein Großvater sicherlich nicht verstehen, geschweige denn akzeptieren würde, aber das war mir egal. Ich konnte mir regelrecht vorstellen, wie er toben würde, weil ich es wagte, nicht zu erscheinen.

Sie sah phantastisch aus. Das lange, dunkle Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, saß sie mir im Café gegenüber. Ich hatte nur Augen für diese Frau. Es musste schon ein wenig seltsam für die anderen Gäste anmuten, für ein Paar waren wir beide doch noch zu unterschiedlich. Ich mochte vielleicht als ihr kleiner Bruder durchgehen, mehr aber auch nicht.

Wir hatten uns vor dem Café getroffen und saßen nun inmitten älterer Damen an einem Fensterplatz. Vor mir stand eine Tasse Tee, sie hatte sich Kaffee und ein Stück Obstboden bestellt. »Ich habe nicht viel Geld«, stotterte ich. »Mein Taschengeld reicht gerade mal dafür«, ich wies auf den Tee.

Sie grinste. »Wir befinden uns in den Siebzigern, da geht es durchaus modern zu«, erwiderte sie. »Ich lade dich ein.«

Wenn du wüsstest, dachte ich im Stillen und nickte dankbar. An dieser desolaten Situation mit dem Geld musste ich schleunigst etwas ändern.

»Also, raus mit der Sprache«, sagte sie dann unvermittelt. »Woher kennst du mich? Woher wusstest du das mit der Flugzeugentführung? Beim Sturz des Chefs kannst du ja deine Finger nicht im Spiel gehabt haben. – Das ist übrigens das einzige, das mich davon abhält zur Polizei zu gehen«, fügte sie noch an.

Ich lehnte mich im Stuhl zurück, schloss kurz die Augen und überlegte, ob ich ihr wirklich die Wahrheit erzählen sollte. Was konnte mir denn schon passieren?, überlegte ich. Im Extremfall stand sie einfach auf und ging. Selbst wenn sie zur Polizei gehen würde, was hätte sie denn in der Hand? Einen Zettel, auf dem ich notiert hatte: 1977 Mogadischu, Entführung des Flugzeuges. – Nun, das war seit gestern weltbekannt, also, was hatte ich zu verlieren? – Ich erzählte ihr alles.

Sie stand nicht auf und ging nicht, vielmehr blieb sie lange sitzen und dachte nach. »Starker Tobak, den du mir da auftischst«, sagte sie dann nach einer Weile. »Aber ..., in Ordnung. Was machen wir jetzt daraus?«

Ich war mir selber nicht sicher. Das Problem mit dem Vorauswissen war, dass ich zwar vieles wusste, aber eben nicht, wie man damit zu Geld kommen konnte. Außerdem war mein Wissen, was konkrete Daten anging, doch recht beschränkt. Was mochte es im Jahr 1977 bringen, zu wissen, dass sich die FDP 1982 von der SPD abwenden und so Helmut Kohl Kanzler werden würde? Das war so ein Datum der relativ nahen Zukunft, das sich mir eingeprägt hatte. Das war die erste Bundestagswahl gewesen, zu der ich meine Stimme abgegeben hatte. – Aber ..., ließ sich daraus etwas machen?

Wir beschlossen, dass ich weiter zur Schule gehen sollte. Wir trafen uns dann regelmäßig am Wochenende, wobei Lisa mich ausfragte. Alle möglichen Details kamen zu Tage. Bill Gates mit Microsoft, fiel mir beispielsweise ein. Konnte man sich nicht an den Zug dranhängen? Mir schwebte vor, Lisas Chef dazu zu bewegen, ein größeres Investment zu tätigen. Microsoft würde sich bestimmt gut dazu eignen, aber wie kam man an Gates ran? Und vor allem, wie weit war er denn 1977 bereits gewesen? Brauchte er denn zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch einen Partner aus good old Germany? – Irgendwie passte das alles nicht. Und die Lottozahlen der kommenden Woche fielen mir partout nicht ein!

Die Schule ging etwas besser als seinerzeit. Ich konnte mich tatsächlich überwinden, etwas mitzumachen. Ja, mir gelang auf dem Zeugnis sogar ein Dreierschnitt. Vor allem aber machte es mir Spaß, mich für all die kleinen Gehässigkeiten zu rächen, die mir einzelne Mitschüler angetan hatten. Vor allem dieser Lars, ein schmächtiger Junge aus einer der Parallelklassen. Den hatte ich gehasst, allerdings erst Jahre später. 1978 hatte ich noch überhaupt keine Berührungspunkte mit ihm. Erst in der Oberstufe hatten wir dann Kurse zusammen und da war er mir gegenüber mehr als arrogant und ziemlich ekelhaft aufgetreten. – Der arme Kerl, ich hatte wirklich fast so etwas wie Mitleid mit ihm, wusste überhaupt nicht, was ihm geschah, als ich ihm auf dem Nachhauseweg auflauerte, seine Schultasche wegriss und über die Friedhofsmauer warf. Er wagte nicht einmal, sich zu wehren, ich war körperlich größer und hatte genug Selbstvertrauen, um ihm einen gehörigen Schrecken einzujagen.

Friedhofsmauer? Ich blieb überrascht stehen. Jetzt war ich bereits monatelang hier meinem Schulweg gefolgt und erst jetzt fiel mir auf, dass der Friedhof entlang der Brederbachstraße von einer rund drei Meter hohen Backsteinmauer eingefasst war. In meiner Erinnerung war das anders gewesen. Schmiedeeiserne Gitter, ja, daran erinnerte ich mich genau! Hier war so einiges anders, als in meiner Erinnerung, nicht nur, dass die Werke bekannter Autoren von diesem Randolph Zoran geschrieben worden waren. Es gab auch diese anderen, kleinen Änderungen im Detail. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Die einzige logische Erklärung war, dass es andere wie mich geben musste, die sich an ihr früheres Leben erinnerten. Sollte ich versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen? Zusammen könnten wir bestimmt mehr erreichen, als als einzelne Individuen. Aber, was zum Teufel, hatte denn dann diese Mauer zu sagen? Das ergab doch keinen Sinn. Welche Art von Vorauswissen würde denn dazu führen, hier eine Backsteinmauer anstatt der schmiedeeisernen Gitter anzubringen? – Ich gab es auf, darüber nachzudenken.

Die Jahre zogen ins Land, ich sah Lisa tatsächlich nach wie vor an jedem Wochenende. Meine Eltern hatten sich bereits daran gewöhnt. Irgendwann, ich war mittlerweile zwanzig Jahre alt, hatte meine Schule abgeschlossen und eine Lehre bei Peter Wilhelm Groß begonnen, zogen wir dann zusammen. Etwas wirklich elementares, mit dem wir Geld hätten machen können, fiel mir nicht ein. Unseren Chef hatten wir ebenfalls nicht dazu bewegen können, mit irgendeiner Information etwas anzufangen. Er war zwar sehr erstaunt, ob meiner Vorhersage hinsichtlich der deutschen Einheit, glaubte aber nicht im Mindesten daran, bis sie dann plötzlich da war.

Wir verlebten eine glückliche Zeit, einmal, ich war ungefähr dreißig Jahre alt, hatten Lisa und ich einen heftigen Streit. Wir waren unterwegs, verbrachten einen schönen Sommertag in Kettwig an der Ruhr, als ich mitten in der Menschenmenge eine Frau anstarrte, die uns, einen Kinderwagen schiebend, am Ruhrufer entgegen kam. – Meine Frau! In Begleitung eines Mannes und zweier anderer Kinder, die fröhlich vergnügt neben dem Kinderwagen herliefen. Ich starrte minutenlang auf diese Szene, drehte mich sogar um, als die kleine Gruppe an uns vorbeigegangen war. Der Mann drehte sich auch um und sah mich irritiert an, ging dann aber wortlos weiter.

Lisa war sauer, mehr als sauer. »Peinlich war das, und unverschämt! Liebst du sie immer noch? Das ist doch jetzt lange genug her!«, geiferte sie. »Geh doch zu ihr, dann wirst du sehen, was du davon hast!«, schrie sie mich eifersüchtig an. Irgendwie überstand unsere Beziehung diesen Streit, auch wenn seitdem nichts mehr wie vorher war.

Kinder hatten wir keine. Wir lebten unser Leben, ich mittlerweile als Buchhalter, sie als Sekretärin. Es war nichts Außergewöhnliches und irgendwann wurde ich fünfzig. Wenige Tage nach meinem Geburtstag kam ich dann nach Hause, Lisa war noch nicht da. Die Schwüle war drückend, mir war auch ein wenig übel. Jahre, ja Jahrzehnte hatte ich nicht mehr daran gedacht, das war ein Fehler gewesen. Ich schleppte mich zum Telefon, die 112 konnte ich noch wählen. Der Notarzt sei unterwegs, wurde mir versichert, als ich zusammenbrach. Mir wurde schwarz vor Augen. Mein letzter Gedanke war, dass ich, verflucht noch mal, nicht daran gedacht hatte Lottozahlen auswendig zu lernen.

Thomas nahm den letzten Schluck aus seinem Bierglas und sah mich direkt an. »Du hältst mich für verrückt, nicht wahr?«, fragte er.

Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. »Starker Tobak«, entgegnete ich dann.

Glücklicherweise kam Joaquin zu uns, stellte ein neues Glas vor mir ab und sagte: »Du sprichst mit einem bedeutenden Mann« und eilte zu einem anderen Gast weiter, so als ob Not am Manne wäre.

Sicherheitshalber drehte ich mich um und blickte noch einmal in den Schankraum. Nein, wir waren allein an der Theke, mit uns sprach niemand, niemand hatte die Absicht, sich zu uns zu setzen. – Wenn Joaquin nicht Thomas meinte, konnte er nur sich selbst meinen. Erleichtert lehnte ich mich zurück, genoss mein Bier und wartete den Augenblick ab, in dem er uns die neueste Verschwörungstheorie mitteilen würde. Wir mussten nicht lange warten, nachdem er den anderen Gast bedient hatte, kam er zu uns zurück.

»Zeitreisende nehmen nur Kontakt zu unbedeutenden Menschen auf, ist dir das klar?«, fragte er mich sodann. Thomas ignorierte er geflissentlich.

Ich schüttelte den Kopf, mir war noch kein Zeitreisender begegnet.

Etwas verärgert ob meiner Reaktion vertiefte Joaquin meine Kenntnisse: »Wenn sie mit bedeutenden Zeitgenossen Kontakt aufnähmen, dann liefen sie doch Gefahr, dass sich die Zeitlinie verändert! Deshalb scheuen sie den Kontakt zu wirklich wichtigen Männern und Frauen. Mit unbedeutenden Menschen, die nicht den Einfluss auf das Weltgeschehen haben, mit denen nehmen sie Kontakt auf, ist doch klar!«, sein Gesicht strahlte vor Freude ob seiner Erkenntnis. »Mit mir hat noch keiner Kontakt aufgenommen«, flüsterte er dann, ergriff ein neues Bierglas, um dies einem gerade die Bar betretenden Gast zu kredenzen. Verblüfft aufgrund seiner unschlagbaren Logik widmete ich mich wieder meinem Bier.

»Willst du wissen, wie es weiterging?«, fragte Thomas in die sich ausbreitende Stille hinein. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er noch weiter erzählen würde.

Geschichten eines Geistreisenden

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