Читать книгу Detektiv Dagobert - Balduin Groller - Страница 13

Anonyme Briefe.

Оглавление

Seit ei­ni­ger Zeit ward An­dre­as Grum­bach, der Prä­si­dent des Klubs der In­dus­tri­el­len, durch häu­fig wie­der­keh­ren­de an­ony­me Brie­fe be­hel­ligt, die in­des­sen ih­ren Zweck nur in recht un­voll­kom­me­nem Maße er­füll­ten. An­dre­as Grum­bach zählt, ver­mö­ge sei­nes Reich­tums, sei­nes An­se­hens in ge­schäft­li­chen Krei­sen und sei­ner ge­sell­schaft­li­chen Stel­lung zu den Gro­ßen die­ser Welt, und die­se las­sen sich durch Brie­fe so leicht nicht ins Bocks­horn ja­gen. Wenn man täg­lich sei­ne hun­dert und mehr Brie­fe emp­fängt und durch­fliegt, so wird man bald doch recht ab­ge­stumpft, und man­cher Ab­sen­der wür­de sehr ent­täuscht sein in sei­nen Er­war­tun­gen und et­wai­gen Hoff­nun­gen, wenn er sel­ber sähe, wie we­nig tief die mo­ra­li­sche Wir­kung geht, die er mit sei­nem Schrei­ben zu er­zie­len ge­dach­te. Da ist kei­ne Spur mehr von je­nen Ge­müts­be­we­gun­gen, wel­chen der beim An­blick ei­nes Brief­trä­gers un­ter­wor­fen ist, der alle hei­li­gen Zei­ten ein­mal einen Brief er­hält.

An­dre­as Grum­bach kann­te die Brie­fe bald. Es war im­mer das­sel­be ei­gen­tüm­li­che Pa­pier und sie wie­sen im­mer die­sel­be ei­gen­tüm­li­che stei­le Hand­schrift auf, und er warf sie nun im­mer un­er­öff­net in den Pa­pier­korb. Da­mit wäre die Sa­che ab­ge­tan ge­we­sen. Es kam aber et­was dazu, was den Fall ei­ni­ger­ma­ßen kom­pli­zier­te. Auch Grum­bachs Ge­mah­lin wur­de mit der­ar­ti­gen Brie­fen förm­lich über­schüt­tet und sie brach­te ih­nen ge­gen­über nicht die­sel­be küh­le Phi­lo­so­phie auf, wie ihr Mann. Sie war un­glück­lich, wein­te viel, ward ner­vös und ge­trau­te sich gar nicht mehr un­ter die Leu­te. Al­les Zu­re­den half nichts. Sie kam aus den Er­re­gun­gen gar nicht mehr her­aus, sie hat­te kei­ne fro­he Stun­de mehr und ihr Le­ben war ge­ra­de­zu zer­stört.

Auch Frau Grum­bach nahm eine her­vor­ra­gen­de Stel­lung in der Ge­sell­schaft ein und sie war auf sie ängst­li­cher be­dacht, als es wohl un­um­gäng­lich nö­tig ge­we­sen wäre. Denn nie­mand dach­te dar­an, sie zu be­strei­ten oder gar zu un­ter­gra­ben; aber in ihr selbst wirk­te noch ein Ge­fühl der Un­si­cher­heit. Sie war die klei­ne Schau­spie­le­rin Vio­let Moor­lank, als Grum­bach sie nahm, und da­her noch die Un­si­cher­heit. Nie hat­te sich zwar die üble Nach­re­de an sie her­an­ge­wagt, aber die heim­li­che Angst, dass die Ge­sell­schaft sie nicht wer­de an­er­ken­nen und für voll neh­men wol­len, war sie doch nie­mals ganz los ge­wor­den. Die­se Angst war nun ganz über­flüs­sig; denn ih­res Gat­ten An­se­hen war ge­fes­tigt und stark ge­nug, um auch ihre Stel­lung zu ei­ner durch­aus un­an­ge­foch­te­nen zu ma­chen, aber sie be­stand ein­mal, war nie ganz aus­zu­til­gen und ward nun na­tür­lich maß­los ge­stei­gert durch jene in­fa­men Brie­fe mit ih­rem tücki­schen, hä­mi­schen und un­säg­lich ge­mei­nem In­halt.

Da ent­schloss sich denn An­dre­as Grum­bach, doch al­les dar­an­zu­set­zen, um der Sa­che wo­mög­lich ein Ende zu ma­chen. Er hat­te ja sei­nen Freund Da­go­bert Trost­ler, den ge­dien­ten Le­be­mann, des­sen große Pas­si­on es war, sich in der ihm reich­lich zu­ge­mes­se­nen Zeit der Muße als Ama­teur­de­tek­tiv zu be­tä­ti­gen. Der hat­te ihm schon in man­chen schwie­ri­gen und hei­klen Fäl­len mit sei­ner Fin­dig­keit und Kunst der Kom­bi­na­ti­on we­sent­li­che Diens­te ge­leis­tet, er wür­de si­cher­lich auch da Rat schaf­fen kön­nen.

Da­go­bert war Haus­freund bei Grum­bachs, und als sie nun wie­der ein­mal zu dritt bei Ti­sche sa­ßen, setz­te ihm Grum­bach den Fall aus­ein­an­der, in­dem er ihm zu­nächst nur von je­nen Brie­fen sprach, die ihm ge­sandt wor­den wa­ren.

»Also das ist es, Frau Vio­let!« ent­geg­ne­te Da­go­bert, sich an die Haus­frau wen­dend. »Wis­sen Sie, Gnä­digs­te, dass ich schon ernst­lich böse war auf Sie! Sie ha­ben einen Kum­mer und hal­ten ihn ge­heim vor mir, sa­gen mir kein Ster­bens­wört­chen. Ge­hört sich das?«

»Wer spricht denn von mir?«

»Wir spre­chen nur von Ih­nen. Ihr Mann ist ein – Mann und ein Mann setzt sich leicht über ge­wis­se Büber­ei­en hin­weg. Ich müss­te mich aber schlecht ver­ste­hen auf die Psy­cho­lo­gie je­ner an­ony­men Bes­ti­en, wenn ich an­näh­me, dass sie sich da­mit be­gnüg­ten, nur den Mann zu quä­len, wo sich ih­nen eine so schö­ne Ge­le­gen­heit dar­bie­tet, auch die Frau zu mal­trä­tie­ren. Das ist ja im­mer noch das dank­ba­re­re und si­che­re­re Un­ter­neh­men.«

»Da­go­bert, vor Ih­nen kann man wirk­lich nichts ge­heim­hal­ten!« ent­geg­ne­te Frau Vio­let. »Nun denn – ja; ich wer­de mal­trä­tiert mit die­sen fürch­ter­li­chen Brie­fen, und sie wer­den mich noch zur Verzweif­lung trei­ben.«

»Es war mir nach den An­deu­tun­gen Ihres Man­nes nicht schwer, Ihrem Kum­mer auf den Grund zu kom­men. Dass ein Kum­mer be­stand, wuss­te ich und habe ich Ih­nen längst an­ge­se­hen. Da Sie aber fort­ge­setzt schwie­gen, durf­te ich nicht fra­gen. Wol­len Sie mir die Brie­fe zei­gen?«

»Nicht um die Welt!«

»Ich be­grei­fe; sie sind zu un­flä­tig, aber schließ­lich – es wird doch nö­tig sein, wenn wir ver­su­chen wol­len, den Tä­ter oder – die Tä­te­rin zu ent­de­cken.«

»Die Tä­te­rin? So schreibt kei­ne Frau!«

»Hü­ten wir uns vor vor­ge­fass­ten Mei­nun­gen! Sie ken­nen mei­ne An­schau­un­gen, Frau Vio­let. In al­lem Gu­ten und Gro­ßen stel­le ich die Frau hö­her als den Mann; in al­lem Bö­sen, oder sa­gen wir lie­ber in al­ler Bos­heit stel­le ich sie tiefer. Je­den­falls ge­ben Sie mir die Brie­fe und zwar alle, die Sie ha­ben. Grum­bach hat die sei­ni­gen weg­ge­wor­fen. Das war über­eilt und ist sehr scha­de. Je mehr Ma­te­ri­al ich habe, de­sto eher kann ich hof­fen, eine Spur zu ent­de­cken.«

Frau Vio­let brach­te die Brie­fe, einen gan­zen Stoß, wohl an sech­zig oder acht­zig Stück.

»Sie dür­fen sie aber nicht in mei­ner Ge­gen­wart le­sen«, ver­wahr­te sich Frau Vio­let, »ich müss­te vor Scham in die Erde sin­ken.«

»Ich wer­de sie zu Hau­se stu­die­ren«, be­ru­hig­te sie Da­go­bert. »Un­ter­su­chen wir also hier zu­nächst nur ei­ni­ge Äu­ßer­lich­kei­ten. Die Brie­fe sind alle voll­kom­men gleich­för­mig. Re­se­dagrü­nes Pa­pier mit der Am­bi­ti­on ele­gant zu sein, und da­bei doch nur eine bil­li­ge und schlech­te Imi­ta­ti­on des ge­die­ge­nen ge­schöpf­ten hol­län­di­schen Büt­ten­pa­pie­res – lei­der!«

»Wa­rum – ›lei­der‹, Da­go­bert?«

»Weil ich schon im Stil­len ge­wis­se Hoff­nun­gen ge­hegt hat­te. Ich hat­te näm­lich schon ein­mal einen Fall mit an­ony­men Brie­fen. Der war aber kin­der­leicht. Der vor­lie­gen­de scheint weitaus schwie­ri­ger zu sein.« »Was war das für ein Fall? Das müs­sen Sie er­zäh­len, Da­go­bert!«

»Mit Ver­gnü­gen, mei­ne Gnä­digs­te, aber vor­läu­fig wol­len wir bei der Sa­che blei­ben. Al­les deu­tet dar­auf hin, dass der Ab­sen­der oder die Ab­sen­de­rin mit großer Vor­sicht ar­bei­tet. Die Schrift näm­lich lässt einen Schluss auf das Ge­schlecht nicht zu. Ich darf das sa­gen; denn was in Sa­chen der Gra­fo­lo­gie durch Stu­di­um und Beo­b­ach­tung zu er­ler­nen ist, das habe ich zu ler­nen mich red­lich be­müht.«

Da­go­bert prüf­te die Adres­sen mit ei­ner Ta­schen­lu­pe und dach­te dann in­ten­siv nach. Da­bei dreh­te er ganz in sich ver­sun­ken an sei­nem Pe­trus­schöpf­chen, dass es sich bald in die Höhe reck­te fast wie der Schopf ei­nes Clowns.

»Da geht Männ­li­ches und Weib­li­ches durch­ein­an­der, dass man förm­lich ver­rückt wer­den könn­te«, sag­te er vor sich hin. »Das ist ent­we­der ein sehr männ­li­ches Frau­en­zim­mer oder ein wei­bi­scher Mann. Ha­ben Sie gar kei­nen Ver­dacht, Frau Vio­let?«

»Nicht die lei­ses­te Ah­nung!«

»Auf die Gra­fo­lo­gie dür­fen wir hier also kei­ne be­son­de­ren Hoff­nun­gen set­zen. Bei ver­stell­ter Hand­schrift – und hier ist sie mit Sys­tem und Kon­se­quenz ver­stellt – muss sie ver­sa­gen. Hier kön­nen wir nur an­neh­men, dass die Hand, die das schrieb, für ge­wöhn­lich eine schrä­ge Schrift schreibt. Das ist al­les. Durch die stei­le, auf­rech­te Stel­lung hier ist der Schrift­cha­rak­ter na­tür­lich völ­lig ver­än­dert, und es ist sehr die Fra­ge, ob die Brie­fe mir ge­nü­gen­de An­halts­punk­te bie­ten wer­den, den Ori­gi­nal­cha­rak­ter zu re­kon­stru­ie­ren.«

»Sie ha­ben also kei­ne Hoff­nung, Da­go­bert, den Schur­ken zu ent­lar­ven?«

»Der Fall in­ter­es­siert mich, und ich wer­de mir Mühe ge­ben. Vor al­len Din­gen muss ich das Ma­te­ri­al stu­die­ren. Es wäre ja auch mög­lich, dass aus dem In­halt der Brie­fe, aus dem Stil, aus ein­zel­nen Wen­dun­gen, aus der Or­tho­gra­fie An­halts­punk­te zu ge­win­nen wä­ren. Im vor­hin­ein lässt sich da gar nichts sa­gen. Wie vor­sich­tig ge­ar­bei­tet wird, das kön­nen Sie bei­spiels­wei­se aus den Post­stem­peln er­se­hen. Da se­hen Sie, fast je­der Brief trägt einen an­de­ren Stem­pel. Hier Post­amt 66, hier Post­amt 125, hier Post­amt 13, 47, 59 – die Brie­fe wur­den auf wei­ten Spa­zier­gän­gen oder Spa­zier­fahr­ten auf­ge­ge­ben. Da geht es frei­lich nicht an, ein be­stimm­tes Post­amt oder einen be­stimm­ten Brief­kas­ten zu über­wa­chen.«

»Sie ha­ben also wirk­lich kei­ne Hoff­nung?«

»Ich sag­te, dass ich mir Mühe ge­ben wer­de, also habe ich Hoff­nung.«

»Das klingt recht zu­ver­sicht­lich, Da­go­bert.«

»Schließ­lich darf man sich ja auch et­was zu­trau­en!«

»Sie sag­ten, dass Sie schon einen ähn­li­chen Fall ge­habt hät­ten, Da­go­bert. Wie war es da­mit?« Frau Vio­let war be­greif­li­cher­wei­se sehr neu­gie­rig, dar­über Nä­he­res zu er­fah­ren.

»Der Fall war, wie ich schon er­wähn­te, sehr ein­fach, aber er hat mir gleich­wohl viel Ver­gnü­gen ge­macht. Ei­nes Ta­ges er­scheint der Ad­ju­tant des Erz­her­zogs Oth­mar bei mir und be­schei­det mich in das erz­her­zog­li­che Palais. Ich gehe also gleich mit, und in ei­ner Pri­vat­au­di­enz macht mir der Erz­her­zog die schmei­chel­haf­te Er­öff­nung, dass er mit ganz be­son­de­rem In­ter­es­se von ei­ni­gen mei­ner Leis­tun­gen als Ama­teur­de­tek­tiv ge­hört habe. Auch er hät­te nun einen Auf­trag, be­zie­hungs­wei­se eine Bit­te. Na­tür­lich stell­te ich mich so­fort zur Ver­fü­gung und be­merk­te, dass Sei­ne Kai­ser­li­che Ho­heit nur zu be­feh­len hät­te.

Der Fall lag wie hier. Es han­del­te sich um an­ony­me Brie­fe, und auch hier war nicht nur der Herr des Hau­ses, son­dern auch sei­ne durch­lauch­tigs­te Ge­mah­lin mit ih­nen be­dacht wor­den. Der Erz­her­zog sag­te mir, dass ihm viel dar­an läge, den Schrei­ber zu er­mit­teln, dass es ihm aber wi­der­stre­be, sich an die Po­li­zei zu wen­den. Nach al­lem, was er ge­hört, hät­te er in die­ser Sa­che mehr Ver­trau­en zu mir.

Schön. Ich ließ mir die Brie­fe ge­ben. Das war er­staun­lich; es wa­ren ih­rer Hun­der­te! Ich nahm sie mit.«

»Wa­ren sie auch so ge­mein?« frag­te Frau Vio­let ge­spannt.

»O, mei­ne Gnä­digs­te, was man Ih­nen auch ge­schrie­ben ha­ben mag, es ist un­mög­lich, dass die Un­flä­tig­keit und Ge­mein­heit, die dort auf­ge­sta­pelt ward, er­reicht, ge­schwei­ge denn über­bo­ten wor­den ist.«

»Und Sie ha­ben die­se Schuf­te­rei ent­hüllt?!«

»Ich hat­te Glück. Die Sa­che war in vier­und­zwan­zig Stun­den er­le­digt.«

»Er­zäh­len Sie, Da­go­bert!«

»Als ich die Brie­fe an mich nahm, war auch dort mei­ne ers­te Fra­ge na­tür­lich, ob die Ho­hei­ten etwa schon einen Ver­dacht oder einen An­halts­punkt hät­ten. Die Fra­ge wur­de ver­neint. Ich nahm also die Brie­fe mit nach Hau­se, las sie auf­merk­sam durch und über­leg­te dann reich­lich zwei Stun­den, ohne je­doch zu ir­gend­ei­nem nen­nens­wer­ten Re­sul­tat zu kom­men. Der ers­te hal­be Tag ver­ging, ohne dass mir eine halb­wegs ver­nünf­ti­ge Idee ein­ge­fal­len wäre. Erst in der Nacht, förm­lich im Schla­fe kam mir die Er­leuch­tung. Ich hat­te mich zu Bett be­ge­ben, und nach lan­gen frucht­lo­sen Be­mü­hun­gen ein­zu­schla­fen, war end­lich der ers­te Schlum­mer über mich ge­kom­men, aus dem ich aber bald wie im Schre­cken auf­fuhr. Nun war mit ei­nem Male die Idee da, auf der sich wei­ter bau­en ließ. Die Brie­fe la­gen auf mei­nem Nacht­käst­chen. Ein fei­ner Chy­pre­duft war von ih­nen aus mir in die Nase ge­fah­ren. Chy­p­re ist ein vor­neh­mes Par­füm. Ich mach­te Licht, so viel Licht, als über­haupt mög­lich war und nahm die Brie­fe wie­der vor. Da wur­de mir so­fort ei­nes klar: das gan­ze in­ten­si­ve Stu­di­um der Schrift und des In­halts der Brie­fe war vor­der­hand voll­kom­men über­flüs­sig und nutz­los ge­we­sen. Ich muss­te mich da nur an Äu­ßer­lich­kei­ten hal­ten und konn­te nur von die­sen aus­ge­hen. Bei al­ler Nied­rig­keit des In­halts um­gab doch eine ge­wis­se vor­neh­me At­mo­sphä­re die Brie­fe. Ge­wiss, auch da konn­te be­wuss­te, auf Täu­schung und Ir­re­füh­rung ge­rich­te­te Ab­sicht­lich­keit mit­spie­len, aber im­mer­hin – sie wies auf ein vor­neh­mes Haus, wenn schon nicht auf vor­neh­me Pro­ve­ni­enz über­haupt. Es konn­te ja ein tücki­scher La­kai oder eine bos­haf­te Zofe die Hand im Spie­le ha­ben. Sie konn­ten das par­fü­mier­te Pa­pier der Herr­schaft ent­wen­det ha­ben. Von dem Par­füm er­hoff­te ich al­ler­dings kei­ne Auf­klä­rung, aber – das Pa­pier! Ich bin Ken­ner in Pa­pier­sor­ten. Es war das köst­lichs­te und, ich kann sa­gen, das kost­bars­te Lu­xus­pa­pier, das mir je in die Hän­de ge­ra­ten war. Es war also ein ziem­lich kost­spie­li­ger Lu­xus, sol­che Brie­fe mas­sen­haft in die Welt zu sen­den, und wenn der Ab­sen­der das Pa­pier nicht stahl, dann muss­te er wohl in der Lage sein, sich die­sen Lu­xus zu gön­nen.

In al­ler Frü­he setz­te ich mich in mei­nen Un­num­me­rier­ten und fuhr bei ei­ni­gen bes­se­ren Pa­pier­hand­lun­gen vor. Ich leg­te ein ab­ge­ris­se­nes, un­be­schrie­be­nes Blatt ei­nes Brie­fes vor und ver­lang­te jene Sor­te. Auf die Aus­kunft, die ich er­hielt, war ich von vorn­her­ein ge­fasst ge­we­sen. Die­se Sor­te führ­ten sie nicht: sie sei zu teu­er und fän­de wohl kei­nen Ab­satz. Die Aus­kunft freu­te mich. Da­mit war der Kreis für mei­ne Nach­for­schun­gen schon be­deu­tend en­ger ge­zo­gen.

Nun be­trat ich mit ei­ni­ger Span­nung den La­den ›L. Wie­gand, k. k. Hof­lie­fe­rant‹ am Gra­ben. Ich wuss­te, dass die­ses Ge­schäft zwei­fel­los die vor­nehms­te Kund­schaft der Stadt habe. Ich zeig­te das Mus­ter, und der Chef, der mich per­sön­lich be­dien­te, leg­te mir so­fort die ge­wünsch­te hoch­e­le­gan­te Kas­set­te mit hun­dert Bo­gen und den dazu ge­hö­ri­gen Um­schlä­gen vor. ›Sech­zig Kro­nen!‹ Ich kauf­te, er­bat aber eine Un­ter­re­dung un­ter vier Au­gen.

Der Mann führ­te mich in das klei­ne Kon­tor, das sich hin­ten an sei­nen La­den schloss.

Ich möch­te von Ih­nen er­fah­ren, Herr Wie­gand, be­gann ich, ob die­ses Pa­pier auch noch in ei­nem an­de­ren Ge­schäft in Wien ver­kauft wird.

Ganz be­stimmt nicht, er­wi­der­te er selbst­be­wusst. Die Be­zugs­quel­le ist mein Ge­heim­nis.

Es ist eng­li­sches Fa­bri­kat, schal­te­te ich ein, um ein we­nig mit mei­ner Sach­kennt­nis zu prot­zen.

Al­ler­dings, aber es gibt nur eine Fa­brik, die es er­zeugt. Für die an­de­ren Ge­schäf­te, füg­te er ge­ring­schät­zig hin­zu, ist das auch kein Ar­ti­kel. Es wür­de ih­nen lie­gen blei­ben.

Ver­kau­fen Sie viel da­von?

O, sehr viel! Ich bin zu­frie­den.

Ich sah, dass ich die Ge­schich­te nicht ganz rich­tig an­ge­packt hat­te. Wenn ich den jetzt noch wei­ter re­nom­mie­ren ließ, dann kam ich von mei­nem Zie­le nur im­mer mehr ab. Ich nahm also, ge­wis­ser­ma­ßen um mich zu le­gi­ti­mie­ren, ein Dut­zend Brie­fe aus der Ta­sche und zeig­te ihm die Auf­schrif­ten. Die Wir­kung war eine be­frie­di­gen­de; sein Ge­sicht nahm so­fort einen ehr­fürch­ti­gen Aus­druck an.

Herr Wie­gand, sag­te ich, Sie sind Hof­lie­fe­rant und si­cher muss Ih­nen dar­an ge­le­gen sein, sich den Hof zu ver­pflich­ten.

Er ver­beug­te sich sehr de­vot und leg­te die Hand aufs Herz, um an­zu­deu­ten, dass – für den Hof! – er be­reit sei, auch sein Le­ben zu las­sen.

Also, Herr Wie­gand, fuhr ich fort, Sie wer­den sich die höchs­ten Herr­schaf­ten zu Dan­ke ver­bin­den, wenn Sie mir ei­ni­ge Fra­gen be­ant­wor­ten. Ver­kau­fen Sie wirk­lich viel von dem Pa­pier?

Herr, ich ma­che mein Ge­schäft da­mit. Es geht mit dem üb­ri­gen. Da­von al­lein könn­te ich na­tür­lich nicht le­ben.

Das kann ich mir den­ken. Sind Sie in der Lage, die haupt­säch­lichs­ten Ab­neh­mer für die­sen Ar­ti­kel nam­haft zu ma­chen? Mer­ken Sie wohl auf, Herr Wie­gand, den Kai­ser­li­chen Ho­hei­ten ist die prä­zi­se Beant­wor­tung die­ser Fra­ge von be­son­de­rer Wich­tig­keit!

Der Mann war ganz Be­reit­wil­lig­keit und Er­ge­ben­heit. Er knick­te förm­lich zu­sam­men, so oft ich der ho­hen Herr­schaf­ten Er­wäh­nung tat. Er dach­te nach und ge­stand dann, dass er für die­ses Pa­pier ei­gent­lich nur drei Kund­schaf­ten habe. Er lie­fe­re das Pa­pier für den ser­bi­schen Hof, dann sei Lady Prim­ro­se von der eng­li­schen Bot­schaft Ab­neh­me­rin, die stärks­te Kund­schaft sei aber Grä­fin Til­di Leys, die mo­nat­lich min­des­tens ein­mal er­schei­ne, um eine Kas­set­te zu kau­fen. Ich dan­ke Ih­nen, Herr Wie­gand, ich wer­de nicht er­man­geln, Ihre gü­ti­ge Be­reit­wil­lig­keit ho­hen Orts ent­spre­chend her­vor­zu­he­ben.

Dann ging ich. Ich war be­frie­digt. Denn nun war der Kreis doch schon recht eng ge­zo­gen. Also drei Aus­gangs­punk­te und alle drei ei­gent­lich gleich­wer­tig. So muss­te ich sie ein­schät­zen. Denn ich habe es mir bei mei­nem Me­tier zum Grund­satz ge­macht, von vorn­her­ein gar nichts als un­wahr­schein­lich an­zu­neh­men, wenn ich nicht gute Grün­de für eine sol­che An­nah­me hat­te.

An­zu­fan­gen war hier zwei­felsoh­ne mit der Grä­fin Leys. Nicht nur weil da die Nach­for­schung am leich­tes­ten und be­quems­ten schi­en, son­dern weil da schon eine be­stimm­te, viel­ver­spre­chen­de An­ga­be vor­lag. Der star­ke Ver­brauch war doch auf­fäl­lig.

Ich sah auf die Uhr: zehn Uhr. Aus den Post­stem­peln der Brie­fe hat­te ich er­kun­det, dass sie an ver­schie­de­nen Stel­len zwar, aber doch fast aus­nahms­los zur sel­ben Zeit, so ge­gen zwölf Uhr mit­tags auf­ge­ge­ben wor­den wa­ren.

Mei­nen Wa­gen di­ri­gier­te ich in die Reis­ner­stra­ße und ließ ge­gen­über von dem Palais Leys hal­ten, und da blieb ich nun in den Wa­gen zu­rück­ge­lehnt als Beo­b­ach­tungs­pos­ten. Bei mei­nem Ge­schäft muss man Ge­duld ha­ben. Ich ließ mich’s nicht ver­drie­ßen und hat­te ein schar­fes Auge dar­auf, wer aus dem Hau­se ging. Die Die­ner­schaft in­ter­es­sier­te mich nicht. Denn zwei­er­lei war mir schon klar ge­wor­den: ers­tens dass die Brie­fe nicht aus dem Krei­se der Die­ner­schaft her­vor­ge­gan­gen wa­ren. Wenn die Grä­fin mo­nat­lich un­ge­fähr nur eine Kas­set­te ver­brauch­te – was frei­lich un­ter nor­ma­len Ver­hält­nis­sen schon sehr viel war – so war es doch un­mög­lich, dass ihr un­be­merkt so viel von dem Pa­pier ge­stoh­len wer­den konn­te, als für jene mas­sen­haf­ten Brie­fe nö­tig war. Und zwei­tens: Wenn man schon sol­che Brie­fe schreibt, dann ver­traut man ihre Auf­ga­be nicht der Die­ner­schaft an. Der­lei be­sorgt man schon sel­ber und höchst per­sön­lich.

Un­ge­fähr eine Stun­de hat­te ich ge­war­tet, als aus dem Palast­to­re ein pom­pö­ser Por­tier her­austrat, um die Aus­fahrt ei­ner Equi­pa­ge1 zu si­chern. Ich gab mei­nem Kut­scher einen Wink. Wir fuh­ren dem Wa­gen nach.

So lan­ge wir fuh­ren, blieb ich ru­hig sit­zen; da konn­te nichts ge­sche­hen. Als aber nach ei­ner aus­gie­bi­gen, etwa halb­stün­di­gen Spa­zier­fahrt halt­ge­macht wur­de, sprang ich rasch aus dem Wa­gen. Wir wa­ren auf dem Schot­ten­ring, und der schöns­te Früh­lings­son­nen­schein be­leuch­te­te die Sze­ne­rie.

Ein ra­scher Blick be­lehr­te mich, dass ein Brief­kas­ten in der Nähe war. Aus der Equi­pa­ge stieg, un­ter­stützt von ei­nem am Schlag ste­hen­den Be­dien­ten, eine ele­gan­te jun­ge Dame von ganz au­ßer­or­dent­li­cher Schön­heit, blond, das rei­ne Ma­don­nen­ge­sicht. Sie schritt zum Brief­kas­ten. Ich war ra­scher dort, öff­ne­te die Klap­pe und hielt sie, als wol­le ich ihr den Vor­tritt las­sen oder gar be­hilf­lich sein. Sie dank­te mit ei­ner leich­ten Nei­gung des Kop­fes und ei­nem ver­bind­li­chen Lä­cheln. Als sie dann ih­ren Brief in den Spalt schie­ben woll­te, ent­riss ich ihn mit ei­nem ra­schen Schwung ih­ren Fin­gern und brach­te ihn in mei­ner Ta­sche in Si­cher­heit.

Ent­setzt und wie ge­lähmt blick­te sie auf mich; sie brach­te zu­nächst kein Wort her­vor und war dem Um­sin­ken nahe.

Ver­zei­hen Sie, Grä­fin, sag­te ich, das muss­te sein!

Nun erst fand sie wie­der Wor­te.

Wer sind Sie? Was wol­len Sie? Sie ha­ben da eine In­fa­mie be­gan­gen. Ge­ben Sie nur mei­nen Brief wie­der, oder ich neh­me die Hil­fe der Po­li­zei in An­spruch.

Das wäre das bes­te, was Sie tun könn­ten. Grä­fin. Ich ma­che dar­auf auf­merk­sam, dass wir ge­ra­de vor der Po­li­zei­di­rek­ti­on ste­hen – wenn es also ge­fäl­lig ist –! Ich habe hier noch ei­ni­ge Brie­fe, die wir zur Ver­glei­chung mit her­an­zie­hen könn­ten.

Ich zog ein Päck­chen Brie­fe aus der Ta­sche und zeig­te sie ihr. Sie wur­de sehr bleich und war nun nahe dar­an, ihre gan­ze Fas­sung zu ver­lie­ren. Der Be­dien­te, der jetzt erst zu be­mer­ken schi­en, dass da nicht al­les ganz in Ord­nung sei, rück­te nun her­an, gleich­sam zu ih­rem Schut­ze.

Vor al­len Din­gen, Grä­fin, schaf­fen Sie uns den Ben­gel vom Hal­se. Er braucht nicht zu hö­ren, was wir ver­han­deln.

Ein Blick von ihr be­or­der­te die Be­dien­ten­see­le zu­rück.

Und nun, Grä­fin, ge­stat­ten Sie, dass ich mich vor­stel­le. Ich hei­ße Da­go­bert Trost­ler, bin, was Sie viel­leicht be­ru­hi­gen wird, kei­ne Amts­per­son, bin aber von den Ho­hei­ten be­auf­tragt, dem häss­li­chen Spuk ein Ende zu ma­chen. Es war der letz­te der­ar­ti­ge Brief, den Sie ge­schrie­ben ha­ben.

Sie nick­te stumm, und wie sie so völ­lig ver­nich­tet da­stand, be­gann sie mir leid zu tun. Was wol­len Sie? Man hat sei­ne klei­nen Schwä­chen, und vor Frau­en­schön­heit habe ich nie recht stand­hal­ten kön­nen. Ja doch, sie war eine schwer Schul­di­ge, aber sie war rei­zend. Wir kön­nen da nicht ste­hen­blei­ben, re­de­te ich wei­ter auf sie ein. Wol­len Sie mich in Ihrem Wa­gen mit­neh­men, oder zie­hen Sie es vor, mit mir zu pro­me­nie­ren und uns un­se­re Wa­gen nach­fah­ren zu las­sen?

Sie zog das letz­te­re vor, und so mar­schier­ten wir denn trau­lich ne­ben­ein­an­der.

Was wer­den Sie jetzt tun, Herr Trost­ler? frag­te sie.

Was ich muss, Grä­fin. Ich wer­de mei­nen ho­hen Aus­trag­ge­bern Be­richt er­stat­ten.

Sie wer­den mei­nen Na­men nen­nen?

Ich muss wohl.

Da­mit wer­den Sie ein To­des­ur­teil ge­spro­chen ha­ben.

Ein ge­sell­schaft­li­ches To­des­ur­teil – viel­leicht. Es wäre kein un­ver­dien­tes.

Nicht nur ge­sell­schaft­lich. Wenn Sie das tun, dann lebe ich heu­te mei­nen letz­ten Tag.

Ich sah sie an. Das war nicht phra­sen­haft ge­spro­chen. In ih­ren Au­gen flim­mer­te et­was, was auf einen un­er­schüt­ter­li­chen Ent­schluss deu­te­te. Nun, wis­sen Sie, Frau Vio­let, man ist schließ­lich doch kein Un­mensch. Es war ein schmäh­li­ches, ein häss­li­ches Ver­bre­chen, das da be­gan­gen wor­den war. Die­se idea­le Mäd­chen­schön­heit hat­te Tag für Tag Wor­te nie­der­ge­schrie­ben, die einen Wacht­meis­ter von den Dra­go­nern hät­ten zum Er­rö­ten brin­gen müs­sen, aber ein Selbst­mord – das hät­te ich doch nicht gern aufs Ge­wis­sen ge­nom­men!«

»Sie ha­ben sie doch nicht etwa straf­los lau­fen las­sen, Herr Da­go­bert?« rief Frau Vio­let mit kaum ver­hoh­le­ner Ent­rüs­tung.

»Nein; Stra­fe muss sein. Ich war nur schwan­kend, ob es gleich die To­dess­tra­fe sein müss­te. Ich hat­te in mei­nem Ge­dächt­nis ei­ni­ge No­ti­zen über die gräf­li­che Fa­mi­lie Leys auf­ge­spei­chert. Der Va­ter der jun­gen Dame war Al­ko­ho­li­ker ge­we­sen und ist im De­li­ri­um ge­stor­ben, ein Bru­der war Epi­lep­ti­ker. Ohne Zwei­fel lag da eine erb­li­che Be­las­tung vor, durch wel­che al­lein die per­ver­se Nei­gung, so schänd­li­che Din­ge nie­der­zu­schrei­ben, bei die­sem jun­gen Mäd­chen zu er­klä­ren war.«

»Die erb­li­che Be­las­tung!« rief Frau Vio­let un­mu­tig. »Das ist die üb­li­che Aus­flucht. Sa­gen Sie lie­ber ehr­lich, Da­go­bert, Sie ha­ben die Mil­de­rungs­grün­de ge­sucht!«

»Nicht die Mil­de­rungs­grün­de, nur die psy­cho­lo­gi­sche Er­klä­rung für das schein­bar völ­lig Un­ge­reim­te. Las­sen Sie mich’s kurz ma­chen. Nach lan­gem Hin- und Her­re­den gab ich zwar kein fes­tes Ver­spre­chen, aber ich sag­te zu, es zu ver­su­chen, ih­ren Na­men, wenn es halb­wegs gin­ge, nicht preis­zu­ge­ben. Da nahm sie aus ih­rem Re­ti­cu­le2 eine zier­li­che klei­ne gol­de­ne Dose, öff­ne­te sie und zeig­te mir ih­ren In­halt. Es wa­ren an­sehn­li­che Bro­cken von Cy­an­ka­li. Ich ken­ne das. Das war ge­nug, um ein gan­zes Ge­schlecht mit Stumpf und Stiel aus­zu­rot­ten. Sie sag­te, durch­aus nicht pa­the­tisch, aber über­zeu­gend, dass sie sich da­mit noch an dem­sel­ben Tage vom Le­ben be­frei­en wer­de, wenn ich ih­ren Na­men be­kannt­ge­ben wür­de.

Ich nahm ihr das Dö­schen aus der Hand, um die wun­der­voll zar­te Ar­beit bes­ser be­wun­dern zu kön­nen. Es war ein Meis­ter­werk der Klein­kunst im Barock­stil. Na­tür­lich gab ich es ihr nicht zu­rück. Ich schloss einen Pakt mit ihr. Ich wür­de heu­te noch ganz be­stimmt bei ihr vor­spre­chen und dann auch ihr die Dose samt In­halt zu­rück­ge­ben. Sie ver­spricht da­ge­gen, bis da­hin kei­ner­lei Un­be­son­nen­heit zu be­ge­hen und die Selbst­mor­di­dee de­fi­ni­tiv auf­zu­ge­ben, wenn es mir ge­lin­gen soll­te, die gan­ze An­ge­le­gen­heit zum Ab­schluss zu brin­gen, ohne ih­ren Na­men zu ver­ra­ten.«

»Ha­ben Sie ihr nicht auch noch eine be­son­de­re Be­loh­nung für ihre schö­ne Leis­tung ver­spro­chen?« frag­te Frau Vio­let recht un­mu­tig.

»Im Ge­gen­teil, ich habe ihr eine Stra­fe dik­tiert. Un­ser Pakt war sehr klar. Ich lie­be die Klar­heit bei al­len Ab­ma­chun­gen. Ge­lang es nur nicht, sie durch Ge­heim­hal­tung ih­res Na­mens zu de­cken, dann – vogue la galère,3 dann war sie frei, zu tun, was sie für gut hielt. Soll­te es mir aber ge­lin­gen, ihr den Dienst zu er­wei­sen, dann hat­te sie eine Buße auf sich zu neh­men.«

»Wel­che Buße?« forsch­te Frau Vio­let.

»Ich glau­be streng ge­nug ge­we­sen zu sein. Das fei­er­li­che Ver­spre­chen, nie wie­der so et­was zu tun, rech­ne ich na­tür­lich nicht zur Buße. Das war selbst­ver­ständ­lich. Ich ver­lang­te also ent­we­der zwei Jah­re Klos­ter oder fünf­jäh­ri­ge, so­fort an­zu­tre­ten­de Ver­ban­nung aus Wien – wid­ri­gen­falls!! Sie ent­schied sich für das letz­te­re. Wir schie­den mit ei­nem recht freund­schaft­li­chen s­ha­ke hands.

Ich fuhr nun ins erz­her­zog­li­che Palais und wur­de so­fort vor­ge­las­sen, ob­schon die ho­hen Herr­schaf­ten ge­ra­de beim De­jeu­ner4 sa­ßen und ich durch­aus nicht voll­kom­men eti­ket­te­mä­ßig an­ge­zo­gen war. Das erz­her­zog­li­che Paar früh­stück­te al­lein. Auf einen Wink der ho­hen Haus­frau wur­de auch für mich ein Ge­deck auf­ge­legt, und ich hielt tap­fer mit. Denn mei­ne Ex­pe­di­ti­on hat­te mir Ap­pe­tit ge­macht.

So lan­ge die auf­war­ten­de Die­ner­schaft ab und zu ging, wur­de der An­ge­le­gen­heit, die mich her­ge­führt hat­te, kei­ne Er­wäh­nung ge­tan. Erst als ab­ge­räumt und die Luft rein war, kam Se. Kai­ser­li­che Ho­heit auf un­se­re Sa­che zu spre­chen.

Nun, lie­ber Herr Da­go­bert, be­gann der Erz­her­zog lä­chelnd – be­ach­ten Sie wohl, mei­ne Gnä­digs­te, er sag­te Da­go­bert, weil er ge­hört ha­ben moch­te, dass ich im Freun­des­kreis nur so ge­nannt wer­de. Er woll­te mir also da­mit einen Be­weis sei­ner Huld ge­ben. Sie kom­men ohne Zwei­fel, um sich wei­te­re In­for­ma­tio­nen zu er­bit­ten. Lei­der kön­nen wir Ih­nen aber mit sol­chen nicht die­nen.

Ich kom­me zu­nächst nur als Brief­bo­te, er­wi­der­te ich, nahm den ab­ge­fan­ge­nen Brief aus der Ta­sche und über­reich­te ihn ehr­furchts­voll der Frau Erz­her­zo­gin, an die er adres­siert war.

Sie kön­nen sich den­ken, dass sie kein sehr gnä­di­ges Ge­sicht dazu mach­te. Von sol­chen Brie­fen hat­te sie nun schon ge­ra­de ge­nug.

Ich bit­te Ihre Kai­ser­li­che Ho­heit, fuhr ich fort, höchs­tih­re Auf­merk­sam­keit auf einen Um­stand zu len­ken: der Brief trägt kei­nen Post­stem­pel!

Es war der Erz­her­zog, dem zu­erst ein Licht auf­ging.

Ja, aber dann – Herr Da­go­bert – schon wie­der! dann müss­ten Sie ja ei­gent­lich den Tä­ter schon ken­nen! Oder was soll es sonst hei­ßen?!

Es soll hei­ßen, Kai­ser­li­che Ho­heit, dass ich der trü­ben Quel­le auf den Grund ge­kom­men bin und sie ver­stopft habe. Das war der letz­te die­ser Brie­fe und es wird kein wei­te­rer fol­gen. Auch für die­sen konn­te schon die Ver­mitt­lung der Post­an­stalt um­gan­gen wer­den. Ich ver­bür­ge mich da­für, dass kei­ne Fort­set­zung fol­gen wird.

Vie­len, vie­len Dank, Herr Da­go­bert!

Auch die Erz­her­zo­gin dank­te be­wegt und frag­te: Wer also ist der Ab­sen­der?

Eine Dame.

Eine Dame? Das ist un­glaub­lich!

Es ist so, Ho­heit – eine Dame der Ge­sell­schaft.

Die Herr­schaf­ten muss­ten sich erst fas­sen, um dar­an glau­ben zu kön­nen. Dann forsch­ten sie na­tür­lich sehr eif­rig nach dem Na­men.

Ich er­stat­te­te zu­nächst Be­richt über die Ein­zel­hei­ten mei­ner Un­ter­su­chung, so­weit ich es im ge­ge­be­nen Fal­le für rät­lich und zu­läs­sig hielt, und man karg­te da­bei nicht mit Lob­sprü­chen. Schließ­lich – man kann ja sa­gen, dass ich nicht frei bin von Ei­tel­keit, aber ich bin ein­mal nicht der Mann, der sein Licht un­ter den Schef­fel stellt.

Was nun den Na­men be­trifft, schloss ich mei­nen Be­richt, so möch­te ich die Ent­schei­dung, ob ich ihn wirk­lich nen­nen soll oder nicht, der Weis­heit und der Gna­de Eu­rer Kai­ser­li­chen Ho­hei­ten selbst über­las­sen.

Ich schil­der­te die Din­ge, wie sie la­gen, und ver­schwieg nicht, dass die Preis­ge­bung des Na­mens mei­ner­seits al­ler Wahr­schein­lich­keit nach eine Ka­ta­stro­phe zur Fol­ge ha­ben wür­de.

Der Erz­her­zog run­zel­te die Brau­en. Hier sei doch wahr­haf­tig kein An­lass, be­son­de­re Gna­de wal­ten zu las­sen.«

»Das glau­be ich auch!« fiel hier Frau Vio­let dem Er­zäh­ler ins Wort. Sie war in sehr grau­sa­mer Stim­mung ge­gen die fei­gen Ab­sen­der von an­ony­men Brie­fen, und sie hat­te ja gu­ten Grund dazu.

»Ich plä­die­re den­noch für Mil­de, fuhr ich fort, und ent­wi­ckel­te auch mei­ne Grün­de da­für. Ich war über­zeugt, dass die An­dro­hung des Selbst­mor­des kei­ne lee­re Re­dens­art ge­we­sen war. Ich wies zur Be­kräf­ti­gung mei­ner Auf­fas­sung die gol­de­ne Dose mit den Cy­an­ka­li­stücken vor und füg­te hin­zu, dass ich ver­spro­chen hät­te, sie heu­te noch zu­rück­zu­stel­len.

Das dür­fen Sie nicht, Herr Da­go­bert! rief der Erz­her­zog.

Ich habe es ver­spro­chen. Kai­ser­li­che Ho­heit. Und dann – wenn ein­mal ein sol­cher Ent­schluss fest­steht, dann weiß man sich auch ohne eine sol­che Dose zu be­hel­fen. Ich wer­de den Na­men nen­nen, wenn Ihre Ho­hei­ten dar­auf be­ste­hen, al­lein ich möch­te zu­vor einen Um­stand der gnä­di­gen Er­wä­gung an­heim­ge­ben. Ho­hei­ten ha­ben ge­wünscht, dass die An­ge­le­gen­heit in al­ler Stil­le und ohne Aus­se­hen er­le­digt wer­de. Bei ei­nem Selbst­mord kann man nie wis­sen, ob nicht ein Brief zu­rück­ge­las­sen wird, der dann zu auf­se­hen­er­re­gen­den und un­er­freu­li­chen Wei­te­run­gen füh­ren könn­te. Ich habe, Ihre gü­ti­ge Zu­stim­mung vor­aus­ge­setzt, der Ver­bre­che­rin die Stra­fe der fünf­jäh­ri­gen Ver­ban­nung von Wien auf­er­legt.

Der Erz­her­zog stimm­te so­fort zu, und sei­ne ra­sche Sin­nes­än­de­rung über­rasch­te mich ei­ni­ger­ma­ßen.

Üb­ri­gens glau­be ich, sag­te er mit ei­nem Blick auf sei­ne Ge­mah­lin, dass wir hier das Ur­teil der Erz­her­zo­gin zu über­las­sen ha­ben.

Die Erz­her­zo­gin hat­te sin­nend das töd­li­che Gift in der Dose be­trach­tet, die sie mir aus der Hand ge­nom­men hat­te. Nun blick­te sie auf und sag­te: Es kommt mir nicht zu, ein To­des­ur­teil zu spre­chen.

Dann gab sie mir die Dose zu­rück, dank­te noch ein­mal mit vie­ler Wär­me und reich­te mir die Hand zum Kus­se. Wäh­rend sie sich zu­rück­zog, tipp­te mich der Erz­her­zog heim­lich auf die Schul­ter. Ich nahm das als ein Zei­chen, dass ich noch ver­wei­len sol­le, um eine ver­trau­li­che Mit­tei­lung ent­ge­gen­zu­neh­men, und hat­te mich nicht ge­täuscht.

Ei­nen Au­gen­blick noch, Herr Da­go­bert; sag­te er dann, als sei­ne Ge­mah­lin das Zim­mer ver­las­sen hat­te, ich möch­te Ih­nen noch et­was sa­gen. Ich ken­ne die Tä­te­rin. Denn ich habe mit ei­nem Bli­cke be­merkt, was so­wohl Sie als mei­ne Frau über­se­hen hat­ten. In den ver­schlun­ge­nen Or­na­men­ten auf dem De­ckel der Dose ist in win­zi­ger Aus­füh­rung und förm­lich ver­steckt ein Wap­pen an­ge­bracht, das ich ken­ne.

Ich über­zeug­te mich und schäm­te mich. Das hat­te ich wirk­lich über­se­hen!

Und doch wa­ren Sie viel klü­ger als ich, Herr Da­go­bert. Es ist ei­gent­lich eine sehr trau­ri­ge Ge­schich­te. Ich habe die­se Dame ge­liebt, und ich darf an­neh­men, dass auch sie für mich ge­fühlt hat. Es ist wohl mög­lich, dass es die Lie­be war, die hier in ihr häss­lichs­tes Zerr­bild um­schlug, und es wird ganz gut sein, wenn der Dame nun ei­ni­ge Jah­re Muße ge­gönnt wer­den, auf ih­ren Sch­lös­sern oder mei­net­we­gen in Lon­don oder Pa­ris über ihre schmäh­li­che Ver­ir­rung nach­zu­den­ken. – – –

Das, Frau Vio­let, ist die Ge­schich­te mei­nes ers­ten Fal­les mit an­ony­men Brie­fen.«

»Sie ha­ben doch die Grä­fin wie­der­ge­se­hen, Da­go­bert?«

»Na­tür­lich; noch an dem­sel­ben Tage; wie ich es ver­spro­chen hat­te.«

»Nun – und?«

»Sie war ge­fasst, auf al­les ge­fasst. Sie be­reu­te und nahm die Stra­fe auf sich.«

»Eine schö­ne Stra­fe – auf den Sch­lös­sern oder in Pa­ris!«

»Im­mer­hin eine Stra­fe, Gnä­digs­te, die Ein­kehr und Um­kehr, viel­leicht völ­li­ge Bes­se­rung mög­lich er­schei­nen ließ, wäh­rend –!«

»Sie wür­den nicht so von Hu­ma­ni­tät trie­fen, lie­ber Freund, wenn sie viel­leicht we­ni­ger hübsch ge­we­sen wäre!«

»Wohl mög­lich; man soll nichts ver­schwö­ren«, er­wi­der­te Da­go­bert, in­dem er wie­der an sei­nem Pe­trus­schöpf­chen dreh­te. »Je­den­falls war und bin ich auch mit mir in die­ser Sa­che voll­kom­men zu­frie­den. Die Grä­fin bat mich, die klei­ne Dose zum An­den­ken an sie und als Pfand ih­rer Um­wand­lung zu be­hal­ten. Auch ich sol­le an sie den­ken, da sie in un­aus­lösch­li­cher Dank­bar­keit im­mer mei­ner ge­den­ken wer­de. Ich be­hielt das Klein­od und habe es mei­ner Samm­lung ein­ver­leibt.«

»Es fällt mir nur auf, Da­go­bert, dass ich in mei­nem Le­ben noch nichts von ei­nem gräf­li­chen Ge­schlecht der Leys ge­hört habe!.«

»Ja, ha­ben Sie denn wirk­lich vor­aus­ge­setzt, mei­ne Gnä­digs­te, dass ich ir­gend­ei­nem Men­schen auf der Welt den wah­ren Na­men ver­ra­ten wür­de? Der Name war na­tür­lich er­fun­den.«

»Aber die Per­son lebt?«

»Sie lebt, und sie hat ihr Ver­spre­chen bis­her ge­hal­ten. Es ist auch we­nig Aus­sicht vor­han­den, dass sie bald oder über­haupt je­mals wie­der­keh­ren soll­te. Sie ist jetzt die Gat­tin ei­nes Pairs im Aus­lan­de und soll dort eine große Rol­le spie­len.«

»Mich in­ter­es­siert vor­nehm­lich«, nahm nun Herr Grum­bach, der bis­her schwei­gend zu­ge­hört hat­te, das Wort, »wie eine fein­ge­bil­de­te, hoch­ste­hen­de jun­ge Dame zu ei­ner so ent­setz­li­chen und ent­eh­ren­den Ver­ir­rung kom­men kann.«

»Da sind wir ja wie­der beim Aus­gangs­punkt«, ent­geg­ne­te Da­go­bert. »Ich habe die gan­ze Ge­schich­te nur er­zählt, um dar­zu­tun, dass wir uns vor vor­ge­fass­ten Mei­nun­gen zu hü­ten ha­ben. ›So schreibt kei­ne Frau!‹ hat Frau Vio­let in ka­te­go­ri­scher und fast je­den Wi­der­spruch aus­schlie­ßen­der Wei­se aus­ge­ru­fen. Ich habe ge­zeigt, dass al­ler­dings eine Frau und so­gar ein zar­tes Mäd­chen so schrei­ben kann und noch är­ger. Da­mit will ich ja nicht sa­gen, dass auch die­se Brie­fe von ei­ner weib­li­chen Hand her­rüh­ren müss­ten, ich woll­te nur zur Vor­sicht mah­nen und vor vor­schnel­lem Ur­teil war­nen.«

»Jetzt be­grei­fe ich auch«, rief nun Frau Vio­let, »warum Sie die schä­bi­ge Ele­ganz un­se­rer Brie­fe gar so sehr be­dau­ert ha­ben, Da­go­bert.«

»Sehr mit Recht, Gnä­digs­te, wie Sie se­hen. Ja, so be­quem hat man es nicht im­mer! Auf die­sem Pa­pier schrei­ben in Wien zehn- oder zwan­zig­tau­send Leu­te. Da kann ich nicht die Pa­pier­hand­lun­gen ab­lau­fen.«

»Aber Sie wer­den sich doch Mühe ge­ben, Da­go­bert?«

»Ge­wiss, Gnä­digs­te, ich wer­de mir Mühe ge­ben.«

»Sie ver­spre­chen es?«

»Ich ver­spre­che es.«

Da­go­bert nahm die Brie­fe mit sich und er bat sich bei Grum­bach ent­schie­den aus, dass nun von den etwa noch ein­lan­gen­den, ja mit Be­stimmt­heit zu er­war­ten­den, kei­ner mehr in den Pa­pier­korb ge­wor­fen wer­de. Un­ge­le­sen moch­ten sie im­mer­hin blei­ben von Grum­bach, auch Frau Vio­let täte am klügs­ten, wenn sie sie nicht läse, aber er müss­te sie alle in die Hän­de be­kom­men. Je mehr Ma­te­ri­al, de­sto bes­ser. Der Fall war ent­schie­den schwie­ri­ger als der, von dem er er­zählt hat­te, und es muss­te nun mit al­ler Sorg­falt nach An­halts­punk­ten ge­forscht wer­den. Dazu muss­te je­der ein­zel­ne Brief ge­nau durch­stu­diert wer­den. Nicht ei­ner durf­te un­be­ach­tet blei­ben.

Frau Vio­let war recht un­ge­dul­dig. Sie hät­te wo­mög­lich auch schon am nächs­ten Tage das Ge­heim­nis gern ent­hüllt ge­se­hen. Da­go­bert wie­gel­te aber ab und mahn­te zur Ge­duld. Er konn­te kei­ne be­stimm­te Zu­sa­ge ma­chen, ob es ihm über­haupt ge­lin­gen wer­de, den Schlei­er zu lüf­ten, un­ter al­len Um­stän­den wür­den aber dar­über Wo­chen, wenn nicht Mo­na­te ver­ge­hen. Schließ­lich, um Ruhe zu ha­ben, ver­bot er Frau Vio­let über­haupt, von der An­ge­le­gen­heit zu spre­chen. Er wür­de schon sel­ber an­fan­gen, wenn es et­was zu be­rich­ten gäbe. Frü­her hät­te al­les Re­den kei­nen Zweck, und könn­te gar nichts nüt­zen.

Frau Vio­let hielt auch brav Dis­zi­plin. Sie frag­te nicht mehr, aber es fiel ihr furcht­bar schwer. Denn sie war sehr neu­gie­rig und wenn sie auch die Ver­ein­ba­rung ge­treu­lich ein­hal­tend, nicht frag­te, so rich­te­te sie doch man­chen ver­lan­gen­den Blick auf Da­go­bert, wenn sie nach Tisch in ge­wohn­ter Wei­se im Rauch­zim­mer plau­dernd bei­sam­mensa­ßen, sie auf ih­rem Lieb­lings­plätz­chen beim Mar­mor­ka­min. Da­go­bert ihr ge­gen­über und Grum­bach auf sei­nem be­que­men Lehn­ses­sel mehr in der Mit­te des Zim­mers.

Nach­dem sie so meh­re­re Tage tap­fer aus­ge­hal­ten hat­te, ließ sich Da­go­bert durch ihre sehn­süch­ti­gen Bli­cke doch rüh­ren.

»Es geht lang­sam, Frau Vio­let«, be­gann er, »aber es geht doch vor­wärts. Ei­ni­ge leich­te Spu­ren hät­ten wir doch schon.«

»Ha­ben Sie wirk­lich schon et­was her­aus­ge­bracht, Da­go­bert?« frag­te sie in höchs­ter Span­nung.

»Es ist sehr we­nig, aber im­mer­hin ein Aus­gangs­punkt, viel­leicht der ar­chi­me­di­sche Punkt.«

»Was für ein Punkt?«

»Der ar­chi­me­di­sche. Den braucht man näm­lich, um die Welt aus den An­geln zu he­ben. Sie wis­sen ja, Gnä­digs­te, dass Archi­me­des –«

»Ja, ich weiß, aber nur jetzt kei­ne My­tho­lo­gie, Da­go­bert!«

»Er­lau­ben Sie, Gnä­digs­te, Archi­me­des ge­hört doch nicht –«

»Ja doch mei­net­we­gen! Las­sen Sie jetzt nur die Archi­man­dri­ten, oder wie sie hei­ßen, in Ruhe. Ich glau­be Ih­nen al­les un­be­se­hen, aber jetzt er­zäh­len Sie nur, was Sie her­aus­ge­bracht ha­ben!«

»Ei­ni­ge Klei­nig­kei­ten. Also: der Schrei­ber – ich bin näm­lich nun ziem­lich si­cher, dass es ein Schrei­ber und kei­ne Schrei­be­rin ist – ist glat­tra­siert und raucht Zi­ga­ret­ten. Be­lie­ben ein ent­täusch­tes Ge­sicht zu ma­chen. Gnä­digs­te? Es ist in der Tat recht we­nig, aber man kann wei­ter­bau­en dar­auf.«

»Sie kön­nen doch un­mög­lich alle Leu­te stel­len, Da­go­bert, die glat­tra­siert ge­hen und Zi­ga­ret­ten rau­chen!«

»Das wäre al­ler­dings ei­ni­ger­ma­ßen um­ständ­lich, wenn auch nicht gar so sehr, wie Sie sich das vor­stel­len, Frau Vio­let. Der Brief­schrei­ber – das ist er­wie­sen – kennt Sie sehr ge­nau. Sie se­hen also, dass wir da schon einen Kreis mit ganz be­stimm­ten Gren­zen ha­ben. Also gar so um­ständ­lich wäre es nicht, mir wäre es nur nicht si­cher ge­nug.«

»Also – warum glat­tra­siert?«

»Es ist nur eine Ver­mu­tung und noch kei­ne Ge­wiss­heit. Da­rum möch­te ich mich auch dar­über jetzt noch nicht äu­ßern. Ich er­bit­te also noch acht Tage Frist. Da wer­de ich Ih­nen schon mehr, viel­leicht al­les sa­gen kön­nen.«

»Und warum – Zi­ga­ret­ten­rau­cher?«

»Dar­über lässt sich re­den. Zi­ga­ret­ten­rau­cher al­lein, das wäre auch mir als An­halts­punkt zu we­nig. Ich bin in der Lage, in mei­nen Schlüs­sen et­was wei­ter zu ge­hen. Es ist ei­ner, der die Ge­wohn­heit hat, selbst­ge­dreh­te Zi­ga­ret­ten zu rau­chen. Auch da­mit ist ja noch nicht viel er­reicht, aber je­der Um­stand ist von Wert, der den Kreis en­ger zieht.«

»Wie sind Sie dar­auf ge­kom­men, Da­go­bert?«

»Bei mei­nem Ge­schäft muss man ein Klei­nig­keits­krä­mer sein. In zwei­en der vie­len Brie­fe fand ich je ein win­zi­ges Atom von Ta­bak, kaum grö­ßer als eine Steck­na­del­spit­ze, so viel eben an der ein­trock­nen­den Tin­te ei­nes Buch­sta­ben­teils hän­gen blei­ben kann. In Ta­ba­ken – das wis­sen Sie – bin ich Ken­ner. Ich nahm die Lupe, um mir zu be­stä­ti­gen, was ich so schon wuss­te. Denn ich habe gute Au­gen. Das wa­ren Par­ti­kel­chen von Sul­tan flor

»Und mit die­ser Wis­sen­schaft aus­ge­rüs­tet, wol­len Sie auf den Räu­ber­fang aus­ge­hen, Da­go­bert?«

»Sul­tan flor ist ein lang- und fein­ge­schnit­te­ner, licht­gel­ber tür­ki­scher Rauch­ta­bak. Er wird nur zu selbst­ge­roll­ten Zi­ga­ret­ten ver­wen­det und höchs­tens noch aus dem Tschi­buk ge­raucht. Da­rum muss ich mir auch noch vor­be­hal­ten, mei­ne ur­sprüng­li­che An­ga­be zu be­rich­ti­gen. Es könn­te also auch ein Tschi­bu­krau­cher sein, ob­schon sol­che bei Wei­tem nicht so zahl­reich sind, wie die Zi­ga­ret­ten­rau­cher. Sul­tan flor ist ein ganz gu­ter Ta­bak, und er ist ins­be­son­de­re den Leu­ten zu emp­feh­len, die halb­wegs an­stän­dig und da­bei doch bil­lig rau­chen wol­len. Man gibt nicht viel aus und hat doch et­was Or­dent­li­ches.«

»Se­hen Sie, das be­ru­higt mich un­ge­mein!« ent­geg­ne­te Frau Vio­let ein we­nig emp­find­lich über die Dürf­tig­keit der ihr ge­wor­de­nen Ent­hül­lun­gen, aber mehr war an je­nem Tage aus Da­go­bert durch­aus nicht her­aus­zu­krie­gen. Und da war eben wei­ter nichts zu ma­chen.

Wah­rend der nächs­ten acht Tage kam Frau Vio­let glück­li­cher­wei­se nicht dazu, sich mit der un­leid­li­chen Brie­faf­fä­re viel zu be­schäf­ti­gen. Sie hat­te den Kopf voll mit an­de­ren Din­gen, und alle Hän­de voll zu tun. Zwei große Soi­reen im Hau­se Grum­bach in ei­ner Wo­che! Da­go­bert hat­te sie an­ge­ord­net und sich da­bei hin­ter Grum­bach selbst ge­steckt. Frau Vio­let soll­te von sei­ner Ab­sicht gar nichts er­fah­ren. Er woll­te sich ein­mal den gan­zen Grum­bach­schen Kreis be­quem in der Nähe be­se­hen. Es wä­ren zu viel Leu­te ge­wor­den für einen Abend, und so wur­den denn zwei ver­an­stal­tet. Man nahm eine Tei­lung vor. Erst ka­men sei­ne Freun­de dran und dann ihre Leu­te. Zwei Soi­reen vor­zu­be­rei­ten und durch­zu­füh­ren – na­tür­lich hat­te Da­go­bert in die­ser Zeit Ruhe vor Frau Vio­let.

Als der Rum­mel glück­lich vor­über war, sa­ßen die drei ei­nes Ta­ges wie­der trau­lich bei­sam­men im Rauch­zim­mer, und Da­go­bert mach­te der Haus­frau Kom­pli­men­te über ihre bei­den schö­nen Fes­te.

»Man spricht in der Stadt da­von«, sag­te er, »und man ist ei­nig in der Be­wun­de­rung Ih­rer Haus­frau­en­tu­gen­den, Frau Vio­let.«

»Wa­ren Sie auch zu­frie­den mit mir, Da­go­bert?«

»Ich war ein­fach ent­zückt.«

»Das freut mich. Denn ich weiß, Sie sind ein stren­ger Kri­ti­ker, Da­go­bert. Ei­nen Ver­dacht aber wer­de ich doch nicht los. Mir ist näm­lich nach­träg­lich die Idee ge­kom­men, dass ich die­se Soi­reen ei­gent­lich für Sie ma­chen muss­te?«

»Für mich?!«

»Ja­wohl, zu Stu­di­en­zwe­cken. Mir ist, als hät­ten Sie die gan­zen Ver­an­stal­tun­gen in ir­gend­ei­ner Wei­se mit Ihren Un­ter­su­chun­gen in der An­ge­le­gen­heit der Brie­fe in Zu­sam­men­hang brin­gen wol­len.«

»Ich beu­ge mein Haupt, Gnä­digs­te; Sie ha­ben mich durch­schaut.«

»Nun – hat es we­nigs­tens et­was genützt?«

»Ich glau­be wohl, dass wir um einen Schritt vor­wärts ge­kom­men sind. Aus dem In­halt der Brie­fe geht her­vor, dass ihr Ab­sen­der zu den Be­kann­ten, viel­leicht zu den In­ti­men des Hau­ses ge­hört. Die­se woll­te ich nun gern ein­mal bei­sam­men se­hen. Ich hät­te es auch schon als einen Er­folg an­ge­se­hen, wenn das Er­geb­nis ein rein ne­ga­ti­ves ge­we­sen wäre, und ich die Über­zeu­gung ge­won­nen hät­te, dass der Brief­schrei­ber nicht in Ihrem en­ge­ren Krei­se zu su­chen sei.«

»Es wäre mir sehr lieb, Da­go­bert, wenn Sie zu die­ser Über­zeu­gung ge­langt sein soll­ten, und ich hät­te gar nichts da­ge­gen, wenn mei­ne Mühe eine ver­geb­li­che ge­we­sen wäre.«

»Dann müss­te ich mir Vor­wür­fe ma­chen, dass ich sie Ih­nen ver­ur­sacht habe.«

»Ha­ben Sie wirk­lich et­was ge­fun­den, Da­go­bert?«

»Ich habe mich in ei­ner Mei­nung be­stärkt, und das ist schon et­was. Ich habe mei­ne Spur, und ich glau­be, dass sie die rich­ti­ge ist.«

»Da­go­bert, das wäre groß­ar­tig, wenn Sie uns die­sen Dienst leis­ten könn­ten! Sa­gen Sie, wen Sie im Ver­dacht ha­ben.«

»Das geht nicht so schnell, mei­ne Gnä­digs­te. Mit Ver­mu­tun­gen ist uns nicht ge­hol­fen. Wir müs­sen Be­wei­se ha­ben.«

»Quä­len Sie mich nicht so, Da­go­bert! Sie wis­sen et­was; sa­gen Sie es!«

»Es tut nicht gut, vor­zei­tig zu plau­dern. Ich set­ze vor­aus, Gnä­digs­te, dass selbst­ver­ständ­lich auch Sie mit kei­nem Men­schen über die­se häss­li­che Af­fä­re ge­spro­chen ha­ben.«

»Selbst­ver­ständ­lich nicht, das heißt, ei­nem habe ich doch mein Herz aus­ge­schüt­tet, aber das ist so, als wenn ich es nie­man­dem ge­sagt hät­te. Wal­ter Fran­ken­burg –«

»Wal­ter Fran­ken­burg!«

»– ist mein äl­tes­ter Freund noch von der Büh­ne her, und er war mir schon da­mals ein wahr­haft vä­ter­li­cher Freund. Als ich hei­ra­te­te, war er mein Bei­stand vor dem Al­tar. Das ist ein Mensch, dem ich al­les sa­gen darf.«

»Ich habe Sie be­ob­ach­tet, Gnä­digs­te, als Sie mit ihm spra­chen, und ich hät­te vor­hin mei­ne Be­mer­kung nicht ge­macht, wenn ich nicht ver­mu­tet hät­te, dass Sie ihn ins Ver­trau­en ge­zo­gen ha­ben.«

»Daraus kön­nen Sie mir kei­nen Vor­wurf ma­chen. Da­go­bert. Der Mann ist ver­läss­lich.«

»Ich hät­te es für bes­ser ge­hal­ten, über­haupt nicht zu spre­chen. Ha­ben Sie ihm am Ende auch mit­ge­teilt, dass Sie mich mit den Nach­for­schun­gen be­traut ha­ben?«

»Sie wur­den nicht er­wähnt, Da­go­bert. Ich wie­der­ho­le, dass ich für Wal­ter Fran­ken­burg die Hand ins Feu­er lege. Er ist ein wahr­haft ed­ler und eh­ren­haf­ter Mensch, aber las­sen wir das jetzt. Er­zäh­len Sie lie­ber von Ihren Beo­b­ach­tun­gen.«

»Wir hat­ten also zwei Grup­pen von Gäs­ten, die Grup­pe Grum­bach und die Grup­pe Frau Vio­let. Auf die ers­te­re hat­te ich von Haus aus we­nig Hoff­nung ge­setzt. All die Gro­ß­in­dus­tri­el­len und Finanz­ba­ro­ne – die ha­ben doch ge­mei­nig­lich an­de­re Sor­gen, als sich Tag für Tag hin­zu­set­zen und an­ony­me Brie­fe zu schmie­ren. Sie ha­ben auch nicht die Zeit dazu oder sie neh­men sich sie nicht. Mehr Aus­sicht bot schon die zwei­te Grup­pe, das Künst­ler­völk­chen.«

»Ich dan­ke im Na­men der Künst­ler für das Kom­pli­ment!«

»Ich woll­te Ihre Ge­füh­le nicht ver­let­zen, Frau Vio­let. Wenn Sie dar­auf be­ste­hen, will ich Ih­nen so­gar be­stä­ti­gen, dass Neid und Miss­gunst und Ge­häs­sig­keit Un­tu­gen­den sind, die in der Schau­spie­ler­welt gar nie­mals vor­kom­men. So bin ich!«

»Ich be­ste­he nicht dar­auf.«

»Schön. Ich habe Ih­nen schon neu­lich er­wähnt, dass die Brie­fe wahr­schein­lich von ei­nem glat­tra­sier­ten Man­ne ge­schrie­ben wor­den sei­en. Ich woll­te da­mit nicht die Mei­nung er­we­cken, dass ich im­stan­de sei, das aus der Schrift zu ent­de­cken. Die Wahr­heit ist, dass ich die Brie­fe sehr ge­nau auch auf ihre sti­lis­ti­sche Aus­drucks­wei­se hin durch­stu­diert habe. Da wa­ren mir ge­wis­se wie­der­keh­ren­de Wen­dun­gen und Aus­drücke auf­ge­fal­len. Es ist – um ei­ni­ge Bei­spie­le an­zu­füh­ren – es ist zum Schrei­en – ich freue mich die­bisch – eine Bom­ben­rol­le – die ta­lent­lo­se Bes­tie – die Re­kla­me­trom­pe­te – die Bei­spie­le lie­ßen sich noch häu­fen. Nun, Frau Vio­let, fin­den Sie dar­in nicht doch einen Fin­ger­zeig?«

»Al­ler­dings, Da­go­bert, wenn man ein­mal auf­merk­sam ge­macht wird!«

»Ich durf­te also ver­mu­ten, dass ein glat­tra­sier­ter Herr der Ver­fas­ser ist.«

»Wa­rum ge­ra­de ein Herr?«

»Ich er­in­ne­re Sie an den Sul­tan flor

»Es gibt auch rau­chen­de Da­men!«

»Al­ler­dings, aber sie rau­chen nicht Tschi­buk und ge­wöhn­lich rol­len sie sich auch die Zi­ga­ret­ten nicht sel­ber. Ich habe mir also die Leut­chen bei Ih­nen gut an­ge­se­hen und beim all­ge­mei­nen Auf­bruch schloss ich mich ei­ner Grup­pe an, die mir ei­ni­ge Aus­sich­ten zu bie­ten schi­en.«

»Ich habe es wohl be­merkt, Da­go­bert. Auch Wal­ter Fran­ken­burg schloss sich Ih­nen an.«

»Er kam auch mit, und ich be­stä­ti­ge Ih­nen gern, dass er in sei­nen Krei­sen ein ho­hes An­se­hen ge­nießt. Er ist auch au­ßer­halb der Büh­ne ganz pè­re no­ble5 Wir gin­gen nach ge­wohn­ter Sit­te noch in ein Kaf­fee­haus. Na­tür­lich wur­de Ihr Abend be­spro­chen und gründ­lich re­zen­siert, Frau Vio­let.«

»Bin ich sehr stark aus­ge­rich­tet wor­den?«

»Nicht im min­des­ten, ich ver­si­che­re. Im Ge­gen­teil. Ei­nen Au­gen­blick al­ler­dings fühl­te ich mich ver­sucht, mit dem Aus­rich­ten zu be­gin­nen, um die an­de­ren zur Fort­set­zung zu ani­mie­ren.«

»Ein schö­ner Freund!«

»Ich habe es nicht ge­tan, ob schon ich mir wohl einen Er­folg da­von ver­spre­chen konn­te. In dem Brief­schrei­ber muss sich doch ein star­ker Bo­den­satz von Ge­häs­sig­keit an­ge­sam­melt ha­ben, und da­von muss­te, wenn er sich in der Ge­sell­schaft be­fand, in der Ar­g­lo­sig­keit et­was zum Vor­schein kom­men. Sei­en Sie ru­hig, Frau Vio­let; ich habe es nicht ge­tan. Man hat sei­ne Grund­sät­ze, und als A­gent pro­vo­ca­teur wür­de ich selbst im al­ler­äu­ßers­ten Not­fall nicht auf­tre­ten.«

»Um den Preis hät­ten Sie es schon tun dür­fen, Da­go­bert!«

»Nie­mals! Wir un­ter­hiel­ten uns na­tür­lich aus­ge­zeich­net. Das war noch auf Rech­nung Ihres herr­li­chen Rhein­weins und Ihres Heid­sieck zu set­zen, Frau Vio­let. Ich bot mei­ne bes­ten Ha­van­na her­um und er­bat da­für eine Zi­ga­ret­te. So­fort wur­den mir ein Dut­zend Do­sen ent­ge­gen­ge­streckt. Ich lehn­te ab. Ich hät­te jetzt zu mei­nem klei­nen Schwar­zen ge­ra­de Gu­sto auf eine selbst­ge­roll­te. Nur ei­ner in der Ge­sell­schaft konn­te die­nen. Ich nahm die Dose – Sul­tan flor!«

»Ah!«

»Wir ka­men ins Re­den. Der Mann, der mir aus­ge­hol­fen hat­te, er­zähl­te eine Ge­schich­te, und er lei­te­te sie mit den Wor­ten ein: Kin­der, es war zum Schrei­en! Die Ge­schich­te war recht ab­ge­schmackt, aber die Ein­lei­tung hat­te mich in­ter­es­siert. Dann kam er auf Sie zu spre­chen, und er er­klär­te, dass Vio­let heu­te einen Bom­ben­er­folg ge­habt habe.«

»Wer war das, Da­go­bert?«

»Las­sen Sie mich auch wei­ter­hin vor­sich­tig sein, Frau Vio­let.«

»Aber Sie schei­nen nun doch schon wirk­lich nahe dar­an zu sein!«

»Vi­el­leicht noch nä­her, als Sie glau­ben, Frau Vio­let. Ich wer­de mor­gen zu un­ge­wohn­ter Zeit bei Ih­nen sein, um zehn Uhr vor­mit­tags, und wenn wir mor­gen nicht zum Zie­le kom­men, auch die fol­gen­den Tage zur sel­ben Zeit. Ich bit­te dich, Grum­bach, auch so lan­ge zu Hau­se zu blei­ben, bis ich kom­me. Dein Büro wird dir in­zwi­schen nicht da­von­lau­fen.«

»Und jetzt wol­len Sie gar nichts mehr sa­gen, Da­go­bert?«

»Ich kann nicht. Nur eins noch: soll­te in­zwi­schen wie­der ei­ner der Brie­fe kom­men, dann bit­te, hal­ten Sie den Um­schlag schräg ge­gen das Licht. Ich hof­fe, dass Sie da eine neue Nuan­ce ent­de­cken wer­den. Ich ver­mu­te näm­lich, dass nun die Tin­te einen Me­tall­glanz aus­wei­sen wird.«

Als Da­go­bert am nächs­ten Vor­mit­tag wie­der­kam, fand er Grum­bachs schon eif­rig da­mit be­schäf­tigt, einen eben emp­fan­ge­nen Brief im­mer und im­mer wie­der schräg ge­gen das Licht zu hal­ten. Un­ver­kenn­bar; die Tin­te wies einen me­tal­li­schen, grün­gol­di­gen Glanz auf. Frau Vio­let war in großer Auf­re­gung.

»Da­go­bert«, rief sie, »Sie sind ein He­xen­meis­ter! Wie konn­ten Sie das wis­sen?«

»Ver­zei­hung, Gnä­digs­te, dass ich selbst ein we­nig un­pünkt­lich war. Ich woll­te ei­gent­lich gern selbst da­bei sein, wenn der Brief­trä­ger kam. Ich wuss­te ja nun zur Ge­nü­ge, mit wel­cher Post die­se hol­den Brie­fe zu kom­men pfle­gen, aber Sie wis­sen ja, ich bin ein un­ver­bes­ser­li­cher Lang­schlä­fer. Es tut üb­ri­gens nichts. Las­sen Sie mal se­hen. Rich­tig – der schöns­te Me­tall­glanz – wo­mit ich die Ehre habe, mich hoch­ach­tungs­voll und er­ge­benst –«

»Was, Da­go­bert – Sie wol­len doch nicht jetzt gleich wie­der da­von­ren­nen! Erst müs­sen Sie er­zäh­len.«

»Ich darf kei­ne Zeit ver­lie­ren, um die Klap­pe zu schlie­ßen, Frau Vio­let. Es gibt noch viel zu tun. Ich lade mich aber heu­te zu Ti­sche bei Ih­nen ein, und dann wer­de ich Ih­nen Rede ste­hen, so viel Sie wol­len.«

Er eil­te da­von und er­schi­en erst nach­mit­tag um fünf Uhr pünkt­lich zum Es­sen, wie er es ver­spro­chen hat­te. Er speis­te mit gu­tem Be­ha­gen, wäh­rend Frau Vio­let in ih­rer Auf­re­gung die köst­li­chen Ge­rich­te fast un­be­rührt ließ. Sie konn­te es kaum er­war­ten, sei­nen Be­richt zu ver­neh­men, aber sie wuss­te, dass er bei Ti­sche von der Sa­che nichts re­den wür­de, und sie konn­te es auch mit Rück­sicht auf die Die­ner­schaft nicht wün­schen.

Als sie sich’s aber nach dem Mah­le im Rauch­zim­mer, Frau Vio­let auf ih­rem Lieb­lings­plätz­chen, be­quem ge­macht hat­ten, da er­teil­te sie ihm so­fort das Wort.

»Die Ar­beit ist ge­tan, Frau Vio­let«, be­gann er. »Mei­ne Mis­si­on ist er­füllt. Sie wer­den mit die­sen elen­den Brie­fen nicht mehr be­hel­ligt wer­den. Und auch du, Grum­bach, wirst der Unan­nehm­lich­keit ent­ho­ben sein.«

»Was mich be­trifft«, er­wi­der­te die­ser, »so hät­te es mich bei mei­ner Metho­de auch wei­ter nicht son­der­lich ge­stört. Je­den­falls hast du mich aber wie­der ein­mal tief zu Dan­ke ver­pflich­tet, Da­go­bert.«

»Er­zäh­len Sie!« dräng­te Frau Vio­let.

»Ich weiß nicht, Gnä­digs­te, ob es nicht rät­li­cher wäre, dass Sie sich mit der Tat­sa­che der Be­frei­ung be­gnüg­ten, ohne nach den ein­zel­nen Um­stän­den zu for­schen.«

»O nein, Da­go­bert, ich will al­les wis­sen!«

»Gut. Also – den Mis­se­tä­ter hät­ten wir!«

»Wer ist es?«

»Wie ich be­reits be­merkt habe, ein Zi­ga­ret­ten­rau­cher, der glat­tra­siert ist. Wie ich dar­auf­ge­kom­men bin, wis­sen Sie. Wir wa­ren bis da­hin ge­kom­men, dass mir ei­ner Ih­rer Freun­de von sei­nem bür­ger­li­chen Sul­tan flor an­bot.«

»Wer ist das?«

»Am nächs­ten Tage mach­te ich die­sem Man­ne mei­nen Be­such, und zwar zu ei­ner Zeit, wo ich be­stimmt wuss­te, dass er nicht zu Hau­se sein wer­de. Ich konn­te das wis­sen; denn ich hat­te mich er­kun­digt. Er war zu je­ner Zeit bei ei­ner Büh­nen­pro­be be­schäf­tigt. Mein Be­such war nö­tig und nütz­lich. Ich konn­te mei­ne Vor­keh­run­gen tref­fen. Als ich Sie heu­te Mor­gen ver­ließ, fuhr ich zum Kri­mi­nal­kom­mis­sär Dr. Wein­lich. Das ist der ein­zi­ge fä­hi­ge Kopf bei un­se­rer Kri­mi­nal­po­li­zei. Wir sind be­freun­det und tau­schen ge­le­gent­lich un­se­re Er­fah­run­gen und Beo­b­ach­tun­gen aus. Ich darf wohl sa­gen, ohne un­be­schei­den zu sein, dass wir uns ge­gen­sei­tig an­re­gen und ge­gen­sei­tig von­ein­an­der ler­nen. Ich trug ihm den Fall vor und frag­te ihn, ob er be­hilf­lich sein wol­le, die be­droh­te Ehre und den Frie­den ei­nes an­ge­se­he­nen Hau­ses zu schüt­zen. Ich ver­lang­te nicht ein amt­li­ches Ein­grei­fen, er­klär­te die­ses so­gar von vorn­her­ein für aus­ge­schlos­sen. Ich brauch­te nur einen sach­kun­di­gen und ein­drucks­vol­len Zeu­gen zu der Ver­hand­lung, die ich vor­hat­te. Er war so­fort mit von der Par­tie, und wir fuh­ren zu dem Man­ne, den wir die­ses­mal – des­sen hat­te ich mich schon ver­si­chert – zu Hau­se tra­fen. Der Schwar­ze ist heu­te üb­ri­gens wie­der ganz vor­züg­lich, Frau Vio­let, und was Ihren Ko­gnak be­trifft, so woll­te ich schon längst ein­mal fra­gen –«

»Ach, Da­go­bert, las­sen Sie jetzt doch die Ko­gnak­fra­ge! Er­zäh­len Sie wei­ter!«

»Nein, wirk­lich! Für Ko­gnak, müs­sen Sie wis­sen, bin ich Ken­ner, und da –«

»Da­go­bert!«

»Also wir tra­fen den Mann zu Hau­se.«

»So sa­gen Sie doch end­lich um Got­tes wil­len, wer es ist!«

»Er emp­fing uns groß­ar­tig. Auch zu Han­se ganz – pè­re no­ble

»Da­go­bert! Sie wol­len doch nicht sa­gen – –«

»Ich will.«

»Doch nicht Wal­ter –«

»Wal­ter Fran­ken­burg, der große Mime und vä­ter­li­che Men­schen­freund.«

»Das ist ent­setz­lich!«

Er emp­fing uns also groß­ar­tig. Mich woll­te er gleich nur um­ar­me, ich wink­te aber ge­las­sen ab. Ich mach­te es kurz und ent­schie­den. Ich stell­te den k. k. Po­li­zei­o­ber­kom­mis­sär Dr. Wein­lich vor, den ich gleich mit­ge­bracht habe, da wir ei­ner ganz nie­der­träch­ti­gen Lum­pe­rei auf der Spur sei­en. Dann zog ich zwei Brie­fe aus der Ta­sche, den von vor­ges­tern und den heu­ti­gen, bei­de noch un­er­öff­net.

»Ken­nen Sie die­se Brie­fe, Herr Fran­ken­burg?«

»Nein. Man wird doch nicht glau­ben –«

»Was wird man nicht glau­ben?«

»Dass ich sie ge­schrie­ben habe!«

»Wa­rum soll­ten denn Sie sie nun nicht ge­schrie­ben ha­ben kön­nen? Es könn­te ja ihr In­halt zu­fäl­lig auch ein hoch­an­stän­di­ger sein!«

Er merk­te, dass er sich ver­fan­gen hat­te, und er­bleich­te, im­mer war er aber noch ganz der Hel­den­va­ter. Er sei hier zu Hau­se und wer­de sein Haus­recht wah­ren. Er sei nicht ge­son­nen, sich in sei­ner Woh­nung we­gen ei­ner eben­so schmäh­li­chen als un­be­grün­de­ten Ver­däch­ti­gung förm­lich ver­hö­ren zu las­sen.

»Ich war der Mei­nung«, ent­geg­ne­te ich, »dass Sie ein Ver­hör hier dem im Ge­richts­saa­le vor­zie­hen wür­den.«

»Im Ge­richts­saa­le, Herr, wer­den Sie sich zu ver­ant­wor­ten ha­ben!«

»Ich fürch­te nur, dass Sie mir kei­ne Ge­le­gen­heit dazu bie­ten wer­den. Also Sie leug­nen. Das ist Ihr Recht. Sie wis­sen aber lei­der nicht, dass ich Sie mit mei­nen Be­wei­sen wie in ei­nem ei­ser­nen Schraub­stock hal­te. Sie kön­nen zap­peln, so viel Sie wol­len, Sie kom­men nicht mehr los.«

»Die Be­wei­se möch­te ich ken­nen!«

»So­fort. Ich hat­te mir die Ehre ge­ge­ben, ges­tern bei Ih­nen vor­zu­spre­chen. Sie ha­ben mei­ne Kar­te doch vor­ge­fun­den?«

»Ja.«

»Ha­ben Sie sie noch?«

»Ja­wohl, hier ist sie.«

»Scha­de. Sie hät­ten sie ver­nich­ten sol­len. Denn sie bil­det nun ein star­kes, viel­leicht das stärks­te Be­weis­stück ge­gen Sie.«

»Was soll die Kar­te ge­gen mich be­wei­sen? Sie schrei­ben mir auf ihr, ob ich nicht in der nächs­ten Zeit im Klub der In­dus­tri­el­len et­was vor­tra­gen woll­te. Ich habe bis jetzt we­der zu­ge­sagt, noch ab­ge­lehnt. Wie soll ich da nun et­was ver­bro­chen ha­ben?!«

»Sie wol­len noch im­mer nichts zu­ge­ben. Ge­hen wir also me­tho­disch vor. Zu­nächst wäre ich also in der Lage, Ih­nen nach­zu­wei­sen, dass sich das­sel­be Brief­pa­pier, das zu die­sen an­ony­men Su­de­lei­en ver­wen­det wor­den ist, in Ihrem Schreib­ti­sche vor­fin­det.«

»Wer kann das be­haup­ten?«

»Ich. Ich bin nicht um­sonst fünf Mi­nu­ten an die­sem Schreib­tisch ge­ses­sen, wenn auch un­ter den sorg­li­chen Au­gen Ih­rer Wirt­schaf­te­rin, die mir die Hon­neurs mach­te. Hier, Herr Kri­mi­nal­kom­mis­sär, was für Par­füm ha­ben die­se bei­den Brie­fe?«

»Ich glau­be, es ist ein leich­tes Veil­chen­par­füm«, er­wi­der­te Dr. Wein­lich, nach­dem er die Brie­fe zur Nase ge­führt hat­te.

»Ei­ner­lei, was es ist«, er­klär­te ich, »je­den­falls bil­li­ge Sor­te. Für Par­füms bin ich Ken­ner. Die Haupt­sa­che ist, wol­len Sie ein­mal, Herr Kri­mi­nal­kom­mis­sär zur obe­ren Schreib­tischla­de rechts rie­chen.«

»Es ist in der Tat ge­nau das­sel­be Par­füm.«

»Das ist die Haupt­sa­che. Sie wol­len uns die Lade nicht auf­schlie­ßen, Herr Fran­ken­burg. Ich nö­ti­ge Sie nicht, ob­schon ich glau­be, dass wir dort einen Be­weis fin­den könn­ten. Al­ler­dings kei­nen ge­nü­gen­den. Das gebe ich Ih­nen zu. Sie kön­nen auch sonst be­ru­higt sein. Wir ha­ben kei­nen Haus­durch­su­chungs­be­fehl mit, kön­nen Sie also auch nicht zwin­gen. Wir könn­ten uns ja schließ­lich einen sol­chen Be­fehl ver­schaf­fen, aber wir brau­chen ihn nicht. Ich habe et­was Bes­se­res. Als ich an die­sem Ti­sche zu sit­zen die Ehre hat­te, habe ich die Ge­le­gen­heit be­nutzt, um aus die­sem Ve­xier­ring, den Sie an mei­nem Fin­ger se­hen, drei Trop­fen in Was­ser auf­ge­lös­ter Bron­ze­far­be in Ihr Tin­ten­fass zu träu­feln. Sie konn­ten den klei­nen Scherz nicht be­mer­ken, Herr Fran­ken­burg, er hat Sie aber fest­ge­macht. Die Kar­te, die ich schrieb, war das letz­te Do­ku­ment, das an die­sem Schreib­tisch mit glanz­lo­ser Tin­te ge­schrie­ben wur­de. Was spä­ter ge­schrie­ben wur­de, muss­te, wenn die Tin­te ein­mal ein­ge­trock­net war, den ver­rä­te­rischen und un­wi­der­leg­li­chen Me­tall­glanz auf­wei­sen. Ver­glei­chen Sie gü­tigst die­se bei­den Brie­fe, Herr Kri­mi­nal­kom­mis­sär. Der eine ist vor, der an­de­re nach mei­nem Be­su­che ge­schrie­ben wor­den, wie die Post­stem­pel aus­wei­sen.«

»Auch das ist un­ver­kenn­bar«, be­stä­tig­te Dr. Wein­lich.

»Tat­sa­che ist nun, dass Sie alle Schreib­ti­sche Wiens ge­richt­lich durch­su­chen las­sen kön­nen, auf kei­nem wird die­se ab­son­der­li­che Tin­te wie­der­zu­fin­den sein. Glau­ben Sie nun, Herr Wal­ter Fran­ken­burg, dass ich Sie fest­hal­te?«

»Nun, hat er ge­stan­den?« frag­te Frau Vio­let in höchs­ter Span­nung.

»Er war ge­bro­chen, gab je­den Wi­der­stand auf und al­les zu. Und nun, Frau Vio­let, rüs­ten Sie sich zur großen Ge­richts­ver­hand­lung!«

»Was fällt Ih­nen ein, Da­go­bert?! Soll ich mich viel­leicht als Zeu­gin hin­aus­stel­len und dann in den Sen­sa­ti­ons­be­rich­ten durch alle Zei­tun­gen schlei­fen las­sen!!«

»Ja, was soll ich sonst mit dem Man­ne an­fan­gen?«

»Schaf­fen Sie ihn ab aus Wien, le­gen Sie ihm sonst eine Buße auf, was Sie wol­len, aber mich las­sen Sie aus dem Spie­le!«

»Merk­wür­dig, wie man sich täu­schen kann! Ich dach­te, weil Ih­nen die­se Art der Stra­fe bei der Grä­fin viel zu mild schi­en –«

»O, das war et­was ganz an­de­res!«

»Ich weiß nicht, ob es et­was ganz an­de­res war, aber für alle Fäl­le habe ich auch ihn vom Fleck weg ver­bannt. Er wird nie mehr eine Wie­ner Büh­ne be­tre­ten, au­ßer­dem schickt er die­sen Be­trag für Ihren Wohl­tä­tig­keits­ver­ein, mei­ne Gnä­digs­te. Den Aus­weis wird er in den Zei­tun­gen fin­den. Das Schlag­wort wird lau­ten: ›Von ei­nem über­wie­se­nen Schur­ken‹, und er wird sich er­ken­nen.«

1 Ge­päck oder (fall­wei­se) Kut­sche <<<

2 beu­tel­ar­ti­ge Da­men­hand­ta­sche mit Zug­bän­dern <<<

3 (frz.) hier etwa: kom­me, was wol­le <<<

4 Früh­stück <<<

5 (franz.) Hel­den­va­ter. <<<

Detektiv Dagobert

Подняться наверх