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Ein Strohhalm

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Die zarte, hellhäutige Mädchenhand, durch die die feinen Adern bläulich schimmerten, lag in seinen dunklen, kräftigen Fingern, denen keine Regung ihres Körpers verborgen blieb. Der Ventilator an der Decke zerteilte surrend die Hitze des indischen Nachmittags, an dem sich Valentina in der Ayurveda-Praxis von Dr. Kalyan Lukas eingefunden hatte.

Sie saßen sich gegenüber an dem wuchtigen schwarzen Holztisch, auf dem sie ihren linken Arm gestützt hielt und von dem der helle Spitzenrand ihres cremefarbenen Baumwollkleides bis zum knöchernen Ellenbogen zurückgeschoben war. Mit ruhiger Aufmerksamkeit, durchdrungen vom jahrtausendealten medizinischen Wissen seiner Vorväter, tastete Dr. Kalyan ihren Puls, der Anlass zur Sorge gab.

„Herr Doktor, wie lange wird es noch dauern?“ Zitternd, müde, mit wenig Hoffnung war die Frage hervorgebracht, mit der Valentina trauernd in die klugen Augen ihres Kollegen sank.

„Mindestens ein ganzes Jahr!“, konstatierte Kalyan und erhob sich vom Schreibtisch, um aus dem Glasschrank dahinter die passenden Kräutertabletten zu nehmen, nicht ohne zuvor Valentinas erschrockenen Blick aufgefangen zu haben.

„Beobachten Sie die Natur und Sie werden von ihr Geduld lernen!“, sagte Kalyan mit ruhiger Stimme, aus der kaum Basstöne mitschwangen. Er schob drei schmale Packungen über den Tisch zu Valentina. Ein Lächeln huschte über ihr mageres Antlitz. Sie hatte verstanden. Aufmerksam nahm sie Kalyans kleine, drahtige Gestalt wahr, die den lichtdurchfluteten Raum füllte und ihr Sicherheit anbot. Mit seinen 50 Jahren war er erstaunlich jung geblieben. Der weiße Arztkittel ließ seinen dunklen Kopf mit den kurzen Haarwellen hervorstechen, offensichtliche Falten hatte er keine.

„Lassen Sie die Schlafmittel weg und nehmen Sie drei Mal pro Tag von diesen Kräutertabletten!“ Das war ein Befehl, dem sich Valentina nicht widersetzen mochte, zu sehr hatte ihr Kalyans durchdringender Blick und seine Hände versprochen, dass sie gesund werden konnte. Sie nahm die Medizin und setzte ihren weitkrempigen Strohhut auf die blonden Locken. Sie waren alles, was ihr an Lebendigkeit geblieben war.

Valentina wusste wohl, dass sie sich hier in Kerala im südindischen Paradies befand, während in Europa der Große Krieg tobte. Doch konnte sie die Oase nur erkennen, aber nicht als solche fühlen. Was sie spürte, war vielmehr Angst, die sich zur Panik steigerte, wenn die Wellen des Ozeans heranrollten. Der Anblick des hellen Strandes, der sich bis ans Ende der Welt zu ziehen schien, bedrückte sie. Sein bleicher Sand umfing warm ihre Füße und ließ sie durch seine heitere Gelassenheit ihr eigenes düsteres Innere noch schmerzhafter spüren. Die Menschen waren freundlich und wussten gar nicht, dass sie Valentina ihren Irrtum zeigten, der darin bestand, dass sie die Wirklichkeit gegen sich selbst richtete. Sie wollte nicht mit ihnen sprechen; mit schwindenden Kräften verließ sie auch die Neugierde, die sie in früheren Zeiten angetrieben hatte. Nur in dem von hohen Palmen umsäumten Anwesen von Dr. Kalyan, in dessen grünem Garten die üppigsten Pflanzen und Heilkräuter gediehen, fasste sie unmerklich Vertrauen und versuchte, das unbekannte Terrain als Zuhause zu betrachten.

Nur mit einem weißen Lendenschurz bedeckt lag Valentina auf dem schwarzen Holztisch, dem man seine jahrzehntelange Nutzung ansah. Er war von einer schmalen Rinne begrenzt, die das Massageöl auffing. Er wirkte so gediehen wie die dunkel gemaserten Wände, die den nach Rosen duftenden Raum wie das Innere eines Baumes umschlossen. Valentinas Augen lagen tief in ihren Höhlen und verfolgten jeden der eleganten Handgriffe der Frau mit straff geknotetem Haar, die im senffarbenen Sari aussah, als hätte sie einen Termin beim Photographen. In konzentrierter Stille schwenkte sie das schlichte Gefäß aus Messing über die in Falten gelegte Stirn Valentinas; aus dem Behältnis rann beständig ein dünner Sesamöl-Strahl, der glänzende Spuren auf der müden Haut zeichnete – hin und her wie ein Pendel, das sich noch nicht im Klaren darüber war, wann es zur Ruhe kommen wollte. Valentinas Atem ging tiefer, bis der angstvolle Widerstand in ihrem Brustbein zu bröckeln begann. Mit wohligem Erstaunen begrüßte sie die lang vermisste Schläfrigkeit, die sich ihren Weg durch ausgemergelte Glieder bahnte und die trüben Augen schloss.

Die Pfeile der Gedanken nicht mehr spüren müssen, die Vergangenheit in jeder ihrer Ausprägung verblassen und die Zukunft sterben lassen, das wäre ihr jetzt am liebsten gewesen. Doch es ist die Natur des Geistes, die unaufhörlich nach Farben, Formen, Tönen, Gerüchen, Empfindungen und Ideen verlangt: Indien! „In diese exotische Ferne musste ich reisen, um Heilung zu finden.“ Das waren Valentinas gedachten Worte, bevor sie in die furchtbare Erinnerung tauchte, die sie nach Wien, in ihre Heimatstadt schleuderte.

Das himmlische Banquet

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