Читать книгу Raphaels Rückkehr - Barbara E. Euler - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеWas für ein bemerkenswerter Abend das gewesen war. Er hatte die halbe Nacht darüber wach gelegen. „Morgen …“, sagte Raphael rau und blinzelte. „Morgen …“, röchelte es zurück. Raphael grinste. An ihrer Stimme hätte er Anna heute nicht erkannt.
Als Piet nach ihrem Bericht fragte, fassten sie sich kurz. Viel Interesse schien der Chef ohnehin nicht dafür aufzubringen. Raphael grinste Anna zu. Take it easy.
Im viel zu grellen Morgenlicht pirschte er sich an die Tafel heran und nahm einen Stift aus der Rinne. Unwirsch schob er den Gedanken an Fannys Kaffee weg. Später vielleicht.
„Kannst du die weiter oben hintun?“, bat er Jan, der Fotos auf der Tafel verteilte. Schulterzuckend räumte der Kollege das Feld. „Neue Erkenntnisse, was?“ Selten hatte jemand so belustigt geklungen. Raphael schwieg und zeichnete. Jede angemessene Antwort wäre eine Ordnungswidrigkeit gewesen. Mindestens.
Konzentriert entwirrte er das Knäuel aus vagen Erkenntnissen und drängenden Fragen. Er hatte geblufft, als Fanny ihm verraten hatte, wer sich vor kurzem so auffällig für die Akte Brabantia interessiert hatte. Der Name hatte ihm nichts gesagt. Gar nichts. Raphael hatte seine ganze Schauspielkunst bemühen müssen, um nicht wie der Idiot zu wirken, als der er sich in diesem Moment gefühlt hatte. Fanny hatte den Namen ausgesprochen, als kennte ein jeder diese Person. Jeder in diesem schnieken, blitzsauberen Glaspalast, dessen Errichtung Raphael vor drei Jahren noch mitverfolgt hatte, ehe der Lkw ihn aus dem Leben löschte; dem Leben, das er gekannt hatte.
In diesem neuen Leben war er ein Fremder, immer noch.
„Der Sternekoch. Du beschuldigst den Sternekoch?“ Annas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Warum nicht, verdammt?“, ärgerlich wandte er sich wieder seiner Skizze zu. Er hatte schnell rausgekriegt, wer die Akte geholt hatte, natürlich. Als Hauptinspektor hatte er Zugang zu Informationen über jeden verdammten Kollegen in dieser geschleckten Bude, in der das einzig Kaputte außer ihm selber ein Kaffeeautomat war. Plötzlich musste er lachen. Er lachte, bis ihm die Tränen kamen. Anna reichte ihm ein Papiertaschentuch. Er schnäuzte sich und versuchte die Blicke zu ignorieren, die auf ihm lagen. „Es war nur ein Witz …“, sagte Anna erleichtert.
„Ein Witz?“ Plötzlich begriff er. „Nein, verdammt. Wieso?“ Anna schaute grimmig. „Weil du nicht einfach Dovenhofs Lieblingsfranzosen zum Mordverdächtigen erklären kannst. Es gibt überhaupt keinen Mord!“ Sie mahlte mit dem Kiefer. „Kopfweh?“, fragte Raphael. Anna schüttelte den Kopf. „Nein. Ja. Doch ... Das ist es nicht …“ Raphael lächelte ihr zu. „Dolorin? Tramorol? Hydrexan? Neuropentin?“, er fischte eine Handvoll Schachteln aus seiner Tasche. Anna schluckte. Er hatte mal was von Phantomschmerzen gesagt. Es hatte beiläufig geklungen. Verdammt beiläufig. „Danke … nicht nötig …“, stotterte sie. Achselzuckend steckte Raphael die Schachteln wieder weg.
Laila Yorinde Vandamme. Abteilung Dokumente. Hauptkommissarin. Die Frau mit dem Mata-Hari-Namen, die sich die Akte Brabantia geschnappt hatte, war ein ganz hohes Tier. Niemand, bei dem er einfach so reinschneien konnte, so: Hey, Laila, Süße, woher das plötzliche Interesse an diesem alten Kram? No way.
Abteilung Dokumente … Sie befassten sich dort mit gefälschten Papieren. Nach ein paar Bierchen wurde gerne behauptet, sie fälschten selber. Alles, was man so brauchte. Was sich gut verkaufte. Alles. Und alles in Top-Qualität. Natürlich. Sie waren Profis.
Laila Schätzchen. Wir müssen reden.
Aber erst das Machbare. Fanny. Zu den klaffenden Lücken in seiner Grafik gehörte auch der Fahrer des verdammten Lkw. Die Akten meldeten einen Namen. Nichts weiter.
Ronny Verstraeten. Das jungenhafte Gesicht hinter der Windschutzscheibe war das letzte, was Raphael gesehen hatte, ehe der Zwanzigtonner ihn zu Brei zerquetscht hatte. Raphael würgte, als der Film wieder in ihm losbrach. Die angstvoll aufgerissenen Augen. Das Geheul der Bremsen. Der brandige Geruch gequälter Reifen auf Asphalt. Und dann das Geräusch, das seine Knochen gemacht hatten. Er schloss die Augen und überließ sich dem Beben seines Körpers. Es würde vorbeigehen. Es war immer vorbeigegangen.
Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder, schweißgebadet. Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Vielleicht waren sie auch nur gleichgültig. Oder angewidert. Schweigend verließ er den Raum.
Das Wasser am Waschbecken der Behindertentoilette war lau und blieb es. Er hielt die Handgelenke unter den pisswarmen Strahl, zwei Minuten, drei. Er wusch sein Gesicht. Wann würde das endlich aufhören. Es war verdammte drei Jahre her. Erschöpft grub er nach dem frischen T-Shirt in seiner Tasche und zog sich um. Aus dem Spiegel sah ihn ein käsiges Gesicht an. Dieses verdammte Licht. Er atmete tief durch und öffnete die Tür. Niemand kam. Er war froh darüber und auch nicht.
Als Raphael an den Waschbecken im Vorraum vorbeirollte, warf er instinktiv einen letzten Blick in die Spiegel, aber er sah nur die kahle, weiße Decke darin. Vielleicht war es besser so.
Jetzt konnte er einen Kaffee gebrauchen. Einen guten, heißen, starken Kaffee. Fannys Kaffee.
Wie siehst du denn aus?, sagten Fannys Augen. Ihr Mund sagte was anderes. „Danke, gut“, antwortete Raphael rau. Seine Augen sagten auch was anderes. Fanny stellte ihm eine dampfende Tasse auf den Schreibtisch. Raphael zögerte. Eben hatten seine zitternden Hände kaum den Liftknopf getroffen. Er nahm die Tasse trotzdem, vorsichtig. Fanny lächelte. „Und?“, fragte sie, als er ein paar Schlucke getrunken hatte. „Der Fahrer. Von dem Lkw. Da muss es doch was geben“, wisperte Raphael durch den Dampf.
Fanny nickte heftig. „Ein ganz junger Kerl. Grade mal 22. Verurteilt als Schleuser mit mehrfacher Tötungsabsicht. Drei Jahre und acht Monate. Sitzt hier in Brügge ein“, schnaubte sie. Sie hatte ein gutes Gedächtnis. Und ziemlich viel Gefühl.
„Kennst du ihn?“, fragte er instinktiv.
„Muss man jemanden kennen, um Mitgefühl zu haben?“, fuhr sie ihn an. Ja. Ja. Ja, dachte er. Muss man. Wie sonst sollten sie diesen Job machen können? „Jeder kann Mitgefühl brauchen“, sagte er versöhnlich. Sie war eine nette Person und noch ziemlich neu hier.
Als er ins Büro zurückkam, legte Piet ihm die Hand auf die Schulter. Raphael nahm den Zorn aus seinem Blick, ehe er zu seinem Chef hochsah. Behutsam löste er die warmen Finger von seinem Körper. Nur Hunde berührte man so, aber Piet lernte es nicht. „Ja?“, sagte Raphael sanft.
Piet räusperte sich und legte eine Mappe vor ihn hin. „Es war Mord.“
Raphael riss artig die Augen auf. „Nein - - - Wirklich?“, sagte er in den Kreis stummer Kollegen, der ihn plötzlich umstand und ihn erwartungsvoll beäugte, als er jetzt den Bericht zu lesen begann.
Ab und zu nickte er. Als er das erste Mal bei der Leiche gewesen war, hatte er insistiert, dass sie alles nochmal prüften. Jetzt hatte man eine Einstichstelle in der Lendengegend gefunden. Der Mann hatte innere Blutungen erlitten und war bewusstlos geworden. Deshalb war er gestürzt. Deshalb war er tot.
Sie beschrieben die Tatwaffe als dünnen Spieß. Mit geschlossenen Augen fuhr Raphael noch einmal den nächtlichen Parcours durch Flors Küche ab, aber da war nichts und er wusste auch wenig von Küchengeräten. Nur Zahnstocher fielen ihm ein. Er lachte rau. Mit Zahnstochern tötete man allenfalls einen Schlumpf. Wenn überhaupt. Schlümpfe waren verdammt zäh. Als Kind hatte er einem den Kopf abzubeißen versucht. Vergebens versuchte er sich zu erinnern, warum …
Raphael hieb mit der Faust auf das Papier. Die verdammten Tabletten. Manchmal flossen ihm die Gedanken weg wie verschütteter Kaffee. Er schob sich eine Belga zwischen die Lippen und atmete tief ein. Der herbe Geruch erdete ihn. „Nicht hier“, sagte Anna mechanisch. Er bemühte sich, nicht hinzuhören. Nur zu Hunden sprach man so. Er hatte nicht vorgehabt, zu rauchen. Er ließ die Zigarette in den anderen Mundwinkel tanzen. Konnte es sein, dass sie eine solche Einstichstelle beim ersten Mal übersehen hatten? Normalerweise fanden sie Injektionsspuren. „Anna“, die Zigarette wanderte auf die andere Seite zurück. „Welche dünnen Spieße benutzt man in der Küche?“
Als keine Antwort kam, sah er auf. Die Kollegen hatten sich längst wieder an ihre Plätze vertrollt. Manche räumten bereits auf. Feierabend. „Anna“, er legte den Bericht beiseite und fuhr zu ihr hinüber.
Anna hob die Schultern. „Brochettenspieß … Teigpiekser …“ Seufzend drehte sie sich zu ihm herum. „Du kannst es nicht lassen, wie?“ Langsam nahm Raphael die Zigarette aus dem Mund. „Nein“, sagte er hart, „der Mann … Malouf Muhamad …“
„… oder wie er hieß …“, fiel Anna ihm ins Wort.
„… oder wie er hieß … er wurde in Flor Bertrands Küche gekillt“. Raphael sah, dass Anna auf seine um die Zigarette geballte Faust starrte. „Raphael …“, flehte sie. Raphael funkelte sie an. „Was?“
Er klemmte sich die Belga wieder zwischen die Lippen und rollte an seinen Platz zurück. Da hatte Dovenhofs Lieblingsfranzose ja ein echtes Groupie. Und nicht nur eines, wenn er das eifrige Schweigen um ihn her richtig deutete. „Ich werde eine Durchsuchung beantragen“, sagte er über die Schulter. „Einen guten Abend zusammen!“
Er zitterte schon wieder, als er draußen die Zigarette ansteckte. Er könnte jetzt auf seiner verdammten Couch sitzen und bei einer Vorabendserie auf Grit warten. Sie würden dann gemeinsam den Tisch decken und essen, während die Abendnachrichten liefen.
Er drückte die Kippe aus und warf sie in den Aschenbecher.
Die Leichenschauhalle des städtischen Krankenhauses AZ St. Jan verströmte die immer gleiche Kälte. Das immer gleiche grünlich fahle Licht. Die Ärztin, die ihn hereingelassen hatte, führte ihn zu der Stahlplatte, auf der der Mann lag, der vielleicht Malouf Muhamad hieß. Die Ärztin hob das bleiche Tuch und wies auf die unscheinbare Einstichstelle. Raphael biss sich auf die Lippen. An der Lende. Wie im Bericht beschrieben. Man hatte den Mann tatsächlich hinterrücks erstochen.
Raphaels Blick wanderte über die wulstige, grobstichig geschlossene Naht, die sich über den Bauch des Afrikaners zog, von unten an bis gegen den Brustraum. Er dachte an gefüllte Gans und an seinen eigenen Bauch. Das Netzwerk aus Narben, die abschwollen mit der Zeit.
Raphael seufzte. Das hier würde nicht vernarben. Nie mehr.
„Der Durchmesser der Waffe beträgt zwischen 0,8 und 1,2 Millimeter, die Einstichtiefe ca. zwölf bis fünfzehn Zentimeter“, erklärte die Frau. „Zwischen dem Stich und dem Eintritt der Bewusstlosigkeit können bis zu zwanzig Minuten vergangen sein.“
„Rechts- oder Linkshänder?“, fragte Raphael mechanisch. Die Frau sah ihn an und zuckte die Schultern. „Schwer zu sagen“, murmelte sie.
Raphael nickte und sie bedeckte den Toten wieder. Als sie den Stoff über den Kopf ziehen wollte, legte Raphael seine Hand auf ihre und sie ließ das Tuch sinken.
„Ich lasse Sie jetzt allein“, sagte sie. Raphael nickte ihr zu. „Danke“. Seine Stimme klang rau. Die verdammten Zigaretten.
Er besah das Gesicht lange. Es trug noch immer diesen kindlich erstaunten, fast beleidigten Ausdruck. Unverändert. Natürlich. Unverändert auch der Gedanke, der ihn roh wie beim ersten Mal überfiel: Einst hatte er dem Mann das Leben gerettet. Und seins dabei zerschreddert. Wozu das Ganze? Wozu? Er zog das Tuch über das graue Gesicht und fuhr nach Hause.
Nachts tigerte er durch die Wohnung und dachte nach. Da waren so viele Dinge, die er nicht verstand. Und er würde wenig Zeit haben. Irgendetwas sagte ihm, dass er wenig Zeit haben würde. Vielleicht würden sie ihm den Fall wegnehmen.
Vielleicht würde ihm was passieren.
Auf seinem Handy war es viertel nach drei. Schlechte Zeit zum Denken. Eher für das Gegenteil. Raphael nahm den Kopfhörer und suchte seinen Lieblingssong. High sein. Er stellte auf Repeat und schob den Lautstärkeregler hoch. Fucking high. Ein paar entscheidende Teile an ihm waren noch ganz, aber niemand interessierte sich dafür. Niemand außer ihm.
Drei Wochen vor dem Unfall hatte seine Freundin Schluss gemacht. In der SMS hatte was davon gestanden, dass er den Hintern nicht hochkriegte. Das war verdammt richtig. Mühsam hievte Raphael sich in eine bequemere Position und schloss die Augen. Er rief sich ihr Bild in Erinnerung, aber es gelang nur noch halb. Er knöpfte seine Jeans auf. Es würde nicht nötig sein.
Respekt, wer’s selber macht, dachte er grimmig, als er sich mit hastigen Händen hoch und höher schaukelte. Er dachte an Helen oder wie sie hieß. Grit hatte ihm ihre Nummer gegeben; Grit, die alles wusste und alles sah, und der nichts Menschliches fremd war. „Meine Patienten sagen, dass sie gut ist“, hatte Grit erklärt, als sei es das Normalste von der Welt. Helen war bei ihm gewesen, aber er hatte zu viel Angst gehabt.
Raphael wartete, bis er zu Atem gekommen war, und rollte ins Bad. Das mit Helen war eine Weile her; jetzt würde es anders sein.
Nach drei Stunden riss der Wecker ihn aus komatösem Schlaf. Im Büro begrüßte ihn angestrengte Heiterkeit. Er hatte jetzt einen Mordfall. Glückwunsch, Glückwunsch. Jemand stellte einen Becher Kaffee vor ihn hin. Raphael kniff die Augen zusammen. Nette Geste. Zu nett. Aber vielleicht wollten sie ihn nur wiederbeleben; der Untote im Spiegel war leider er selber gewesen. Er nippte von der vertrauten Plörre und versuchte dankbar auszusehen. Den halbvollen Pappbecher zwischen den Zähnen, rollte er an die Tafel und setzte sein Schreibwerk fort.
Zumindest hatte er das vorgehabt, bis er die Tafel tatsächlich sah. Verdammt.
„Wo ist meine Skizze?“, fragte er, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. Er fragte es noch zweimal, bis der erste es aufgab, den Taubstummen zu spielen. Jan räusperte sich. „Die Putzfrau …?“, bot der Kollege vage an.
Raphael wartete, aber da kam nix mehr. Langsam stellte er den Kaffee auf den Boden.
Seine Hand bebte ein wenig, als er die Kappe des Stifts abzog und sich an die jungfräuliche Fläche heranmachte. Reiß dich zusammen, Mann. Er sog den alkoholischen Geruch ein und rekonstruierte mit harten Strichen den Status Quo, der sich in schlaflosen Stunden in sein Gehirn gebrannt hatte, unauslöschlich. Es dauerte nicht lang. Dann rollte er ein wenig zurück und betrachtete das Spinnennetz, in dem sie alle hingen. Bertrand. Ronny Verstraeten. Ein leerer Kreis, den er mit Namen füllen würde, sobald er mehr über die Flüchtlinge vom Lkw wusste. Und ein Toter, der sich Malouf genannt hatte, als man ihn damals aus dem Container gefischt hatte. Keine Papiere. Das Übliche.
„Wenn es dir zu viel wird …“, säuselte eine Stimme an seinem Ohr. So schnell. Raphael fuhr herum und stieß gegen den Kaffeebecher. Er hatte verdammt recht gehabt. Aber ausgerechnet Anna. „… dann sag ich Bescheid … “, knurrte er, mühsam beherrscht, und wandte sich abrupt seinem Schreibtisch zu, während Anna den Kaffee mit einem Papierhandtuch vom Boden sog. „Sorry“, murmelte er. Das hier war erst der Anfang. Er musste seine Kräfte schonen.
Er blätterte in der Akte, die endlich von der Ausländerbehörde gekommen war. Der Afrikaner hatte seinen Fall durch alle Instanzen gepeitscht und sich seiner Abschiebung widersetzt, bis der Große Steuermann ihn aus dem Spiel nahm. Game over. Dabei war er fast am Ziel gewesen. Die Stelle bei Bertrand, die sie bei der Behörde irgendwie übersehen hatten, musste wie ein Sechser im Lotto für ihn gewesen sein. Und dafür hatte er nicht mal Pech in der Liebe gehabt: Die letzte Eintragung war ein Ansuchen auf die Bestätigung der Heiratsfähigkeit gewesen.
Raphael rollte an die Tafel zurück und wob eine weitere Person in sein Netz. Er nannte sie Braut. Vorläufig.
Sie störten ihn nicht mehr, aber die Blicke reichten. Raphael wollte „Dovenhof“ schreiben und ließ es. Er hieb die Kappe auf den Stift. Das mit der Tafel war ein verdammter Fehler gewesen. Wütend kritzelte er ein Blatt Papier voll. Zerknüllte es. Er wollte offen mit ihnen sein. Er musste offen mit ihnen sein. Er brauchte sie.
Alleine würde er das hier niemals schaffen.
Im Hof war es schattig und kühl. Raphael rieb Schweiß von der Stirn. Er ahnte zu viel und wusste zu wenig. Als er die dritte Belga aus der Schachtel klopfte, ließ das Zittern nach. Er würde auf das Boot gehen. Die Brabantia. Es gab sie immer noch. Sie war immer noch ein Flüchtlingsboot. Es gab andere Plätze für Asylanten, aber keinen, den jemand kurz vor seinem Unfall abgefackelt hatte. Neue Erkenntnisse, was? Heftig sog Raphael die Glut gegen den Filter, bis die Hitze seine Fingerkuppen traf. Er würde alleine gehen. Er war Hauptinspektor. Er war niemandem Rechenschaft schuldig.
In der Kantine heuchelten sie Normalität. Die Kinder. Die Schwiegermutter. Der Urlaub. Das Geld. Schweigend nahm Raphael das Tablett in Empfang, das die Bedienung ihm brachte. Es war verdammt erniedrigend, aber als an der Kasse zum zweiten Mal sein komplettes Menü zu Boden gegangen war, hatte er entschieden, dass es die bessere Option war. Es hatte einen Riesenstau gegeben und eine Riesensauerei; das ganze Haus hatte gegafft. Die Wiederholung war das Beste gewesen, sein ganz persönlicher Bonus-Track. Raphael piekte Pommes auf die Gabel, bis zum Anschlag. „Und wenn es doch Bertrand war?“, stichelte er mit vollem Mund. Bertrand Bastard, dessentwegen er bis zum nächsten Ersten mit einem halb fertigen Tattoo herumfahren würde. Wenigstens sah es keiner.
Keine.
„Das glaubst du doch nicht wirklich“, Anna tupfte Dressing von den Lippen. Sie hatten Piet von Topfi und Gourmetfix und Galena erzählt, aber er hatte sie ausgelacht. Alle beide. Einen Moment lang hatte Raphael geglaubt, dass Anna auf seiner Seite wäre. Trotzig tropfte er das zweite Tütchen Mayo über seine Pommes. „Gib mal“, sagte er und wischte die kräftigen Finger in Annas Serviette. Die Bedienung brachte ihm grundsätzlich keine.
Anna lachte. „Du hast eine schmutzige Fantasie“, sagte sie. Raphael grinste. Weibliche Logik. Aber verdammt zutreffend.
Zurück in der Intimität des Büros ließen die Kollegen ihre Hüllen fallen. Ein Mordfall. Das muss doch sehr belastend für dich sein. Raphael. Du brauchst das nicht zu machen, das weißt du, nicht wahr. Ein andermal vielleicht. Bestimmt. Aber doch nicht jetzt. Es ist zu früh. Zu viel. Zu schwer. Du bist doch - - - Du hast doch keine - - - Du weißt schon. Raphael.
Hektisch plapperten sie an ihn hin. Von mittäglicher Mattigkeit keine Spur. Sie mussten das beschlossen haben, als er im Hof rauchen war. Ein Wunder war das nicht. Jetzt war es ein erstklassiger Fall. Jetzt würden sie es gerne selber machen. Und zwar diskret. Raphael schüttelte schweigend den Kopf. Nicht mit ihm.
Der Durchsuchungsbeschluss ließ auch auf sich warten. Er musste mehr Druck machen. Er musste lauter sein. Er musste höher zielen. Er nahm den Stift und schrieb „Dovenhof“ in sein Spinnennetz.
Jetzt wurden sie noch hektischer. „Das kannst du nicht machen“, keuchte Piet. „Lass das. Bitte.“ Raphael verschränkte die muskulösen Arme vor der breiten Brust. „Nein“, sagte er hart. „Es gibt da eine Verbindung und du weißt es.“
„Du gehst zu weit, Raphael.“ Raphael registrierte den mühsam gezügelten Zorn in Piets ausdrucksloser Stimme. Gleich würde es losgehen. Er wartete, die Arme ruhig verschränkt. Piet hielt ihm einen Schwamm hin. „Mach das weg …“, blaffte er. Raphael starrte ihn an. Nur mit Hunden sprach man so. „Nein, verdammt!“ Jetzt war er laut. „Es ist mein Fall!“, schrie er. Plötzlich war ihm ganz heiß. Er war wieder zurückgekehrt, endlich. Er hatte drei verdammte Jahre gebraucht, um so weit zu sein. Er würde nicht aufgeben. Niemals.
Sie sahen, dass er zitterte, als er jetzt die Arme voneinander löste und sich schützend vor die Tafel stellte. Sie sahen, wie er nach Atem rang. Wie seine Pupillen zuckten. Der Quotenkrüppel. Piet biss sich auf die Lippen. Dovenhof hatte ja so recht. Was für ein billiges Theater. „Hör auf“, sagte er kalt.
Längst schaute das ganze Büro. „Geht wieder an die Arbeit!“, schnaubte Piet, ohne den Blick von dem Hauptinspektor zu nehmen, der ein erbärmlicher Polizist und ein noch erbärmlicherer Schauspieler war.
Raphael hatte zu stöhnen begonnen. Seine Hände suchten die Greifreifen der Räder und fanden sie nicht. Dann ging alles sehr schnell. Plötzlich sackte er zusammen. Ein, zwei Sekunden hing er schief in seinem Rollstuhl. Dann schlug er auf den glattgewienerten Boden hin, wo er leblos liegen blieb.
Anna stürzte zu ihm. „Raphael!“, sie schüttelte ihn. „Raphael?!? RAPHAEL!!!“