Читать книгу Raphaels Rückkehr - Barbara E. Euler - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеLangsam tastete er den Kopfverband ab. Die Kanüle an seiner Hand. Er sollte jetzt die Augen aufmachen. Später vielleicht. Schmerz rollte heran, wie Brecher auf Sand, bis der Schlaf ihn wieder aufs Meer hinaustrug.
Seit die Haie ihm vor Madagaskar beide Beine abgebissen hatten, war er der König der Piraten. Es war sein Schiff, das unter vollen tiefschwarzen Segeln durch südliche Meere schoss. Es waren seine Leute, die seine blutigen Verbände wechselten und ihm Rum und Brandy einflößten. Die letzte Schlacht war heftig gewesen. Irgendwann kam ein Boot. Piet stand darin. Er kam näher. Er sagte, wie leid es ihm tue, und richtete Grüße von Dovenhof aus. Raphael wollte ihn ins Wasser stoßen, aber dann fiel er selber rein. Was für ein beschissener Traum. Er machte die Augen auf. Da waren Blumen. Raphael fingerte nach der Karte. Die Vase fiel um. Jetzt war er wirklich nass. Er hob die durchtränkte Karte von der Bettdecke. „Gute Besserung. P. Dovenhof“. Dieser Arsch.
„Immer diese Wörter … Wann werden Sie endlich entlassen?“, fragte eine schwache Stimme. Raphael versuchte seinen massigen Körper auf den Ellenbogen zu stützen und das im Nebel tanzende Gesicht im Nachbarbett zu fokussieren. „Wie lange bin ich hier, verdammt?“
„Zu lange. Viel zu lange. Bitte hören Sie auf zu fluchen“, murmelte der Mann.
„Wie lange, ver… Wie lange?“
„Zwei Tage. Zwei Tage zu viel.“ Der Mann drückte auf den Klingelknopf. Als die Schwester kam, wies er stumm auf das überschwemmte Bett neben ihm. „Lassen Sie ihn gehen“, flehte er, als Raphael mit Hilfe eines robusten Pflegers zittrig in seinen Rollstuhl kroch, damit sein Bettzeug erneuert werden konnte. „Gute Idee“, sagte Raphael. Dann erbrach er sich. Der letzte Becher Rum war wohl zu viel gewesen.
Als er sauber gewaschen in seinem frischen Bett lag, kam er das erste Mal richtig zu sich. Zwei Tage. Seine großen Hände fuhren über den eingewebten Schriftzug in den Laken. „AZ St. Jan“. Zwei Tage, in denen er nicht an seinem Fall gearbeitet hatte. Er nicht und vermutlich auch sonst niemand. Jedenfalls nicht in seinem Sinne. Verdammt.
„Sorry“, sagte er, als der Nachbar wieder zu jammern begann, „Ich bin schon so gut wie weg!“ Ein paar Stockwerke unter ihm lag ein Toter mit einer Stichverletzung in der Lende und einer klaffenden Kopfwunde. Einem Namen, der vermutlich falsch war. Und einer Braut, die hoffentlich echt war. Er musste sie finden. Raphael versuchte sich aufzusetzen und ließ sich würgend zurücksinken. Vage erinnerte er sich an einen Arzt, der was von Gehirnerschütterung und Kreislaufzusammenbruch gesagt hatte. Und von einer Platzwunde an der Stirn. Matt drehte er den Kopf zu seinem Nachbarn. „Haben Sie eine Zigarette?“
In diesem Moment ging die Tür auf. „Erst mal Fiebermessen“, erklärte eine Stimme, die ihm furchtbar vertraut vorkam.
Mühsam wandte er den Kopf zur Tür. Grit. Grit, die unschuldig lächelnd auf ihn zukam und vergnügt ein Fieberthermometer schwenkte.
Widerstrebend hob Raphael den Arm und ließ die Schwester gewähren. „Man begegnet sich immer zweimal“, sagte er lahm. Grit sagte nichts. Grit wartete. Endlich musterte sie das Thermometer und zog Handschuhe an. „Bitte umdrehen“, sagte sie und zippelte ein Zäpfchen aus einer Blisterpackung. Schon wieder. Raphael seufzte. Mehr als einmal war er aufgewacht, weil ihm wer so ein verdammtes Ding reingeschoben hatte. „Was machst du hier?“, murmelte er gegen die Wand, während sie ihm die Hose runterzog. „Mir wurde gekündigt“, sagte sie lapidar. „Job und Wohnung. Es wird jetzt ein bisschen kalt. So. Schon geschafft.“ Raphael unterdrückte einen Fluch und zerrte die Hose hoch.
In diesem Moment kam Fanny reingestöckelt. „Hallöchen, Kollege!“, flötete sie fröhlich. Grit warf die Decke über ihn, schmiss die Handschuhe in den Abfallbehälter und wandte sich wortlos zum Gehen.
Raphael ballte die Fäuste. „Grit …“, sagte er mit erstickter Stimme. Er war so ein verdammter Loser. Auf einmal hörte er, wie die Schwester stehen blieb. „Haddock“, flüsterte sie. Dann schloss sie leise die Tür.
Raphael hielt den Atem an. Haddock war ein Codewort. Das Codewort. Sie hatten das ausgemacht. Für wenn es am schlimmsten war. Kapitän Haddock war seine Lieblings-Comicfigur, ein unbedachter Draufgänger und lieber Kerl, der göttlich fluchte und mit einem Alkoholproblem zu kämpfen hatte. Ein Held. Langsam drehte Raphael sich zu Fanny herum und lächelte.
Haddock hieß: Nicht aufgeben. Nicht jetzt.
Fanny lächelte zurück. Stumm zog sie Zeitungsausschnitte aus einer Mappe, einen um den anderen, und begann, sein Bett damit zu bedecken. Raphael drückte sich mühsam höher und begutachtete die papierene Pracht. Fanny unterbrach ihre Tätigkeit und schob ihm das Kopfkissen im Rücken zurecht. „So?“ Er nickte. Dann nahm er einen Ausschnitt von der Bettdecke und las.
Schwerer Unfall auf der N32
Brügge, 20. Juli. Ein Schwerstverletzter und ein gutes Dutzend leicht Verletzte – das ist die Bilanz einer Verfolgungsjagd, die sich Beamte der Lokalen Recherche Brügge mit einem Lkw lieferten, der mit illegalen Einwanderern Richtung Zeebrugge unterwegs war. Der 20 Tonnen schwere Kühlwagen kippte um und begrub einen 39-jährigen Hauptinspektor unter sich, der mit schwersten Verletzungen per Helikopter abtransportiert wurde. Ein weiterer Beamter erlitt leichte Verletzungen. Der 23-jährige Fahrer des Lkw, ebenfalls leicht verletzt, wurde verhaftet, einige der Illegalen wurden ins Krankenhaus St. Jan verbracht und unter Polizeibewachung gestellt. Andere nutzten die Gelegenheit zur Flucht. Der Lkw war verschweißt. Die Polizeiaktion bewahrte die Menschen vor dem sicheren Erstickungstod. Der schwerst verletzte Beamte kämpft nach einer mehrstündigen Notoperation um sein Leben.
Raphael legte den Ausschnitt weg und fuhr sich über das Gesicht. Nach einer Weile nahm er den nächsten. Illegale immer noch flüchtig, schrieb das Dagblad. Brügge/Zeebrugge, 21. Juli. Auch am Tag, nachdem ein brutaler Schleuser eine Gruppe Illegaler dem sicheren Tod in einem luftdicht verschweißten Kühl-Lkw ausgeliefert hatte, bleiben die Entkommenen flüchtig. Eine Gruppe Beamter der Lokalen Recherche Brügge hatte den Lkw nach einer filmreifen Verfolgungsjagd durch das Hafengebiet gestoppt. Bei der Befreiungsaktion waren mehrere der Illegalen geflüchtet. Der Zustand des 39-jährigen Hauptinspektors, der mit seinem Motorrad unter den umgekippten Zwanzigtonner geraten war, bleibt unverändert kritisch. Nach mehreren Operationen schwebt er noch immer in Lebensgefahr.
Und das waren nur zwei von vielen Ausschnitten. So vielen.
Fanny legte ihre Hand auf seine, als Raphael die Augen schloss. Merkwürdige Laute krochen aus seiner Kehle hoch. Wehrlos ließ er es geschehen.
„Sie können nicht alles löschen“, hörte er sie sagen. Er nahm das Kleenex, das sie für ihn aus der Schachtel neben seinem Bett gezogen hatte. Durch einen Schleier sah er, wie sie die Ausschnitte wieder in die Mappe zurücklegte. Normalerweise hätte er gefragt, wie sie das gemeint hatte. Und warum sie all diese Ausschnitte aufgehoben hatte. Jetzt war er zu müde dazu. „Danke … danke …“, stammelte er. Sie war noch nicht aus der Tür, da schlief er, Glück im Gesicht.
Irgendwann erwachte er wieder. Draußen war es dunkel. Drinnen waberte grünliches Licht. Leichenhallengrünlich. Vorsichtig betastete er seinen dröhnenden Kopf. Der Verband war weg. Da war nur noch ein dickes Pflaster. Das war gut. Dass er es verschlafen hatte, auch. Außer wenn Grit es gemacht hatte. Verdammt. Er zog Rotze hoch. Nein, Raphael. Nicht.
Haddock.
Hadock. Haddock. Haddock. Haddock.
Raphael holte tief Luft. Er stöpselte den Schlauch ab und betrachtete die Kanüle, die in seinem Handrücken steckte. Irgendwas tropfte aus dem Schlauch auf die Bettdecke. Er pulte das Pflaster ab, das die Kanüle hielt. Langsam zog er die dicke Nadel raus und legte sie neben die Cloche mit seinem Abendessen. Blut quoll. Er presste Kleenex auf die Einstichstelle. Ruhig wartete er, bis das Blut geronnen war. Er sah sich um. Seinen Rollstuhl hatten sie in eine Ecke geschoben. Einen Augenblick überlegte er, den Mann im Nachbarbett zu wecken. Dann ließ er sich bäuchlings von der Bettkante auf den Boden gleiten, wo er lange sitzen blieb. Der verdammte Kreislauf. Endlich zog er sich mit den Armen über das glatte Laminat zu seinem Rollstuhl.
Normalerweise kam er locker vom Boden hinein. Aber nicht heute. Verdammt.
Vom Bett aus würde es einfacher gehen. Mühsam bugsierte er den Rollstuhl neben das hohe Krankenhausbett und schöpfte Atem. Sein Blick fiel auf einen Schalter unter dem Bettgestell. Er drückte einen Knopf. Das Kopfteil surrte hoch. Einen anderen. Der war für das Fußteil. Als der Mann im Nachbarbett unruhig wurde, hörte er auf. Man konnte die Höhe nicht verstellen. Er musste so hinein.
Aber erst die Klamotten. Er kroch zum Schrank und bekam ihn auf und fand eine große Plastiktüte, die er mit sich zerrte und auf das Bett warf. Beim dritten Versuch gelang es ihm, hinterher zu klettern. Erschöpft legte er sich hin. Er tastete nach dem Handy in seiner Jacke, aber der Akku war leer.
Seiner auch.
Endlich zog er sich an, langsam, mit Unterbrechungen. Dann hievte er sich in seinen Rollstuhl und fuhr auf den menschenleeren Gang hinaus, zum Lift, in die Eingangshalle und zur Türe hinaus. Eine Uhr zeigte 22.49 h. Niemand hielt ihn auf.
Draußen warteten Taxis. Es war ein großes Krankenhaus. Raphael zündete eine Belga an und nahm einen tiefen Zug. Der aufsteigende Brechreiz trieb ihn zu einem Papierkorb, neben dem er minutenlang keuchend wartete. Nichts geschah. Sein Magen war leer. Endlich nahm er ein Taxi zum Polizeigebäude und ließ sich vor der Schranke des Personalparkplatzes absetzen. Neben der Schranke war ein Durchgang für Fußgänger. Raphael rollte zu seinem Wagen und fuhr durch die nächtliche Stadt nach Hause. Er kam erst nach Ewigkeiten an, weil er einen Riesenumweg zu einem Drive-In gemacht und einen Burger gekauft hatte. Die Frau am Schalter hatte erschrocken geschaut. Die verdammte Hand. Er hatte kein Pflaster gehabt. In der Wohnung nahm er drei oder vier Tabletten und fiel in Schlaf. Das Blut würde er später wegmachen.
Das fröhliche Geplapper, das am nächsten Morgen durch die Bürotüre auf den Gang hinausperlte, erstarb jäh, als Raphael hereinkam. Mit gesenkten Köpfen beobachteten die Kollegen, wie er die Glastüre hinter sich schloss und auf seinen Schreibtisch zurollte.
Raphael verhielt ab und zu und biss in den kalten Burger, den er im Auto gefunden hatte. „Morgen“, murmelte er zwischen zwei Bissen. Alles tat ihm weh, aber er war gut darin, es zu verbergen. „Morgen“, murmelte es vereinzelt zurück. Sie waren alle furchtbar beschäftigt.
„Aspirin reicht nicht, oder?“ Anna. Die kühle Anna, die ihm eine Schachtel hinhielt. Er schüttelte den Kopf. „Ich hab alles“, sagte er leise. „Ich weiß. Es tut mir leid“. Anna lächelte. Sie konnte verdammt nett sein.
„Und?“, fragte er. Stumm wies Anna auf die Tafel. Ich war’s nicht, sagten ihre Augen. Er wünschte, er könnte ihr glauben.
Dovenhof war raus. Bertrand war raus. Raphael starrte auf sein verhunztes Diagramm. „Wer macht jetzt den Fall?“, blaffte er in die Runde. Piet kam auf ihn zu. „Du natürlich. Willkommen zurück.“ Allgemeines Gemurmel. Raphael nickte. „Du willst mich verarschen, oder?“ Er hatte das ziemlich leise gesagt. Piet hob die Brauen „Was?“
Raphael schluckte den letzten Bissen hinunter. „Ihr wollt mich alle verarschen“. Langsam ballte er das Burger-Papier zusammen. Auf einmal fühlte er sich vollkommen ruhig. Wie ein Nilpferd, dem man einen Narkosepfeil verpasst hatte. Bedächtig ließ Raphael den Papierball von einer Hand in die andere gleiten. Sie hatten verdammt starkes Zeug in diesem Krankenhaus. Er zielte sorgfältig und schoss das Knäuel in Jans Papierkorb, dass der Kollege zusammenschrak.
Jo. Raphael griff in die Reifen. Er würde jetzt einen Kaffee trinken gehen. Einen guten, starken, heißen Kaffee.
„Fühlst du dich besser?“, fragte Fanny, als er hereinkam. Dann sah sie genauer hin. „Nein …“, sie lächelte mitfühlend. „Mach es dir bequem … wenn das geht …“ Raphael nickte. Sie war verdammt direkt. Das war gut. „Geht schon“, sagte er und nahm seinen Stammplatz hinter dem Schreibtisch ein. Er beobachtete, wie sie mit der Kaffeemaschine hantierte, und dachte, dass er gar nichts von ihr wusste. Es machte ihm nichts aus. Gerade jetzt machte es ihm nichts aus.
Er schloss die Hände um die Tasse, die sie ihm gebracht hatte. Es war Sommer, aber die Wärme tat gut. Besonders, wenn alles, was man in den letzten 24 Stunden zu sich genommen hatte, ein kalter Burger und ein Liter Tranquilizer war. „Kalt?“, fragte Fanny. Sie konnte Gedanken lesen. Vielleicht war sie einfach nur clever. Vielleicht sollte er mal darüber nachdenken. Er nippte an seinem Kaffee. „Nicht mehr“, sagte er. Er fühlte sich nackig. Es störte ihn nicht.
Fanny musterte ihn aus dem Augenwinkel, während sie Mappen in einen Wagen sortierte. „Was guckst du?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. „Nichts.“ Dann machte sie weiter. Raphael trank seinen Kaffee und versuchte den Grund seines Herkommens zu formulieren, aber es war schwierig, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Er fuhr sich über die bepflasterte Stirn. Er dachte an Grit und wie viele Zäpfchen er schon verpasst hatte. Grit. Er seufzte zu laut und räusperte sich.
„Du wusstest gar nicht, wer sie ist, nicht?“ Fanny sortierte angelegentlich ihre Mappen. „Was?“ Raphael nahm die Hände von der Tasse. „Die Vandamme. Die die Akte Brabantia geholt hat“. Fanny drehte sich zu ihm um. „Inzwischen weißt du es“, konstatierte sie. Raphael schnaubte. Nackig. Das war er.
Fanny kam langsam näher. „Ich wollte erst nichts sagen ... Ich bin mir nicht sicher ... Sie ist ein hohes Tier …“ Raphael schob die Tasse weg. „Was redest du, verdammt?“
„Raphael …“
„Sorry, das sind die verd… Sorry … “ Er knispelte eine Tablette raus und spülte sie mit Kaffee runter.
„Schmerzen?“
„Hm …“ Er ließ das Stempelkarussell kreiseln.
„Also pass auf. Die Vandamme …“, sie sah ihn prüfend an. „Laila Yorinde Vandamme“, schob sie sicherheitshalber nach. Raphael stoppte die Stempel hart. „Ja, verd… Ja! Was?“ Fanny biss sich auf die Lippen. Was für ein Arschloch. Aber sie hatte keine Wahl.
„Ich glaube, sie hat an der Akte rumgemacht“, erklärte sie so ruhig wie möglich. Raphael nickte. Das war die Antwort auf die Frage, derentwegen er hergekommen war. „Du hast es geahnt?“, fragte Fanny. Das Stempelkarussell begann wieder zu kreiseln. „Vielleicht“, sagte Raphael. Wer fragte hier wen aus, verdammt? Das Karussell stoppte. „Was hat sie gemacht, Fanny?“ Er zog die Akte aus der Tasche hinter sich und warf sie auf den Schreibtisch.
„Ich bin mir nicht sicher“, wiederholte die Frau. Wie die meisten Leute im Archiv war sie keine Polizistin. Sie hatte keinerlei polizeiliche Befugnisse. Raphael wollte etwas sagen. Dann hielt er den Mund. Die Frau lehnte sich ganz schön weit aus dem Fenster. Vielleicht für ihn. Vielleicht wegen was anderem. Jedenfalls riskierte sie was. Er nickte ihr ermutigend zu.
Langsam öffnete Fanny die Mappe. „Da war so ein Vermerk“, wisperte sie. „Ich erinnere mich, weil …“ Sie sog hart die Luft ein. „Ich erinnere mich.“
Raphael wartete. Er hatte schon genug verdorben.
„Da stand …“, Fanny fuhr mit nervösen Fingern über das Papier. „Da am Rand. Da stand: „Protokoll Zeugenaussage Werner H. folgt“ So mit Kuli. So schräg rüber.“ Sie knetete die Finger im Schoß. „Und das steht da jetzt nicht mehr …“, sagte sie kaum hörbar.
„Danke.“ Raphael legte seine breite, starke Hand auf ihre, die schmal und mager war. Das Protokoll, raste es durch sein Hirn, was zum Teufel ist mit diesem verdammten Protokoll passiert? Wann verdammt wirst du es mir sagen? Werner H. Wer ist das, verdammt? Was hat er gesehen? Wer das Boot abgefackelt hat? Dovenhof? Und warum? Spuren beseitigen? Spuren wovon? War das damals der Anfang vom Ende? Vom Ende der Unschuld? Des Rechts? Von meinem Ende …?“
„Raphael …“
Er rieb sich die Stirn, die Augen, beides nass.
Fanny gab ihm das Dossier zurück. „Ich weiß nicht, wer Werner H. ist“, sagte die junge Frau. Sie sprach konzentriert, beinahe angestrengt. „Ich habe dieses Protokoll nie gesehen … Ich habe gewartet und gehofft und gesucht …“, sie brach ab. Stand auf. Zwang sich zu lächeln.
„Pass auf, ich zeig’ dir was!“
Raphael folgte ihr.
Auf ihrem Computer klebten Blümchen. Schmetterlinge. Marienkäfer. „Nett!“, sagte Raphael und meinte es auch. Er konnte jede Erheiterung gebrauchen.
Fannys schlanke Finger tanzten auf der Tastatur. Der frische Kaffee, den sie Raphael gebracht hatte, war kalt geworden. Ungläubig beobachtete der Hauptinspektor, wie Fanny sich gekonnt von Meldung zu Meldung klickte. Raphael starrte auf die zahllosen Zeitungsartikel. Das hier waren die verborgenen Ecken der Verlagsarchive. Verloren geglaubtes Terrain. Mühsam beherrscht las er. Über die Illegalen, die entkommen waren. Den verschweißten Kühlwagen. Über die stundenlange Bergungsaktion, die gefolgt war. Den jungen Schleuser. Über sich. Wie er den Lkw gestoppt hatte. Seine Harley. Wie sie ihn im Helikopter abtransportiert hatten. Ihn operierten. Zweimal las er, er sei tot. Raphael schüttelte den Kopf. Rieb seine Beinstummel. Fuhr sich übers Gesicht.
„Sie können nicht alles löschen“, wiederholte Fanny sanft.
Raphael nickte abwesend. Wer war diese Frau? Sie sah nicht so aus, als wüsste sie, wie man einen E-Mail-Anhang öffnet, und spazierte in fremden Servern ein und aus wie ein Freier in einem Puff. „Du solltest das beruflich machen“, murmelte er und ließ das Stempelkarussell kreiseln.
Sie lachte und sagte wohl auch was, aber er hatte auf einmal Mühe, zu folgen, weil Müdigkeit wie eine schwere, dunkle Wolke über ihm zusammenschlug. Ohne Vorwarnung sank sein Kopf auf den Tisch. „Nicht hier …“, flüsterte Fanny, ganz nah an seinem Ohr. „Komm …“, und sie richtete ihn auf und schob ihn, schob ihn, irgendwohin, weit weit weg. Da war ein Sofa. So ein braunes Ledersofa wie es die Eltern hatten. Alle Eltern. Shabby chic, dachte er noch, als er beim Umsetzen das rissige Leder unter den Händen fühlte. Dann war er weg.
„Ja. Nein. Wir kämpfen uns durch. Er ist sehr gründlich. Ja. Komplizierte Sache. Ja. Ich sage ihm Bescheid. Ja. Tschüß.“ Das war Fanny. Fanny, die mit jemandem telefonierte. Raphael schob die Decke weg, die über ihn gebreitet war, und setzte sich auf. Sein Kopf war jetzt ganz klar. Er schwang sich in seinen Rollstuhl und fuhr zu Fanny hinüber. „Wer ist sehr gründlich?“ Fanny lachte. „Du siehst besser aus. Und nein …“, sie sah ihm in die Augen, „ich habe nichts in deinen Kaffee getan. Das war nicht nötig.“ Raphael biss sich auf die Lippen. Nackig. Immer noch. Er zog sein Handy raus. „Zwei Stunden, verd...“ Fanny grinste. „Das war nötig!“
Raphael atmete tief aus. Er war wieder da. Richtig da. Und er hatte Hunger. Als Fanny ihm gesagt hatte, dass sie da oben längst ohne ihn in die Kantine gegangen waren, hatte er gemerkt, wie hungrig er war. Er rief den Pizzadienst an, redete italienische Brocken, lachte. „Einmal vegetarisch?“, fragte er Fanny, die überrascht nickte. „Pretagliate per favore. Sì. Va bene. Politiehuis. Al portiere. Sì. Ciao.“
„Du kannst Italienisch?“, fragte Fanny kauend, als sie wenig später über ihren Kartons saßen. „Nein.“ Raphael quetschte sich das letzte Stück Familienpizza in den Mund. „Nicht mehr …“. Seine Ex war Italienerin. Sizilianerin. Sie waren verdammte zwei Jahre zusammen gewesen.
„Isst du das noch?“, fragte er ein bisschen zu forsch.
Fanny schüttelte den Kopf und schob ihm ihren Karton rüber. „Sie warten da oben auf dich“, sagte sie vorsichtig. „Du hast sehr intensiv recherchiert.“ Raphael nahm das frische Pflaster, das sie für ihn aus ihrer Handtasche hervorgekramt hatte, und spülte den Rest Pizza mit kaltem Kaffee runter. „Du hast sehr intensiv recherchiert“, berichtigte er.
Sie hielt den Finger auf die Lippen. „Schsch. Du gehst jetzt besser. Und wechsel dein Pflaster. Ciao!“
„Bist du weiter gekommen?“, fragte Anna ohne Spott. Raphael stoppte und sah die Kollegin an. „Die alte Akte, Brabantia. Sieht aus, als hätte die Van… als wäre da dran …“ Er verstummte. Idiot. Einen Augenblick lang hatte er darauf vertraut, dass sie auf seiner Seite wäre. „Sieht gut aus“ haspelte er und floh an seinen Schreibtisch, wo er sich in seine Mails vertiefte. Agenturmeldungen. Die Einsätze der letzten Stunden – einmal Fahrerflucht, dreimal Taschendiebstahl und ein brennender Papierkorb. Personalwechsel im Revier Brügge Zentrum. Und ein Rundschreiben zur Arbeitssicherheit. „… Bitte tragen Sie ab sofort nur noch die neuen Sicherheitsschuhe.“
„Ich muss noch mal weg“, sagte Raphael und zog mit den Zähnen eine Belga aus der Schachtel.