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Umkehr

Es war ein langer Weg zurück. Länger als mein halbes Leben. Aber nun ist es nicht mehr weit.

Ich zügele mein Pferd. Unter mir, am Fuß der Hügelkette, liegt das Lager inmitten eines Meeres sanft wogenden Steppengrases. Die Sonne steht über dem Horizont und taucht die weißen Jurten in ein goldenes Licht. Tausend Jurten. Oder mehr. Dazwischen fließt ein Fluss wie eine Schlange aus glühendem Metall durch die herbstlich vergoldeten Wiesen.

Unbeweglich sitze ich im Sattel, die Hand in der Mähne meines Pferdes, den Blick auf den Horizont gerichtet.

Ich muss nachdenken. Ich muss den einen Gedanken endlich zu Ende bringen. Wie viele Jahre habe ich davon geträumt? Erst jetzt, nachdem ich in die Heimat zurückgekehrt bin, kann ich ihn zu Ende denken. Ich muss in die Steppe kommen, mich auf die Erde legen, den unendlichen blauen Himmel über mir sehen und diese große Stille um mich herum spüren. Das Lied der Steppe hören. Vielleicht werde ich dann zu einem Ende kommen. Und Ruhe finden.

Ich springe vom Pferd, steige auf einen der Hügel oberhalb des Lagers und setze mich ins sommerwarme Gras.

Über mir leuchtet der Himmel in einem unwirklichen Indigo. Unter mir liegt eine Landschaft, die mich ertrinken lässt in ihrer Unermesslichkeit. Jeder Berg, jeder Felsen, die Quellen, Seen und Flüsse atmen Lebendigkeit. Jeder Grashalm, jede Blume vibriert vor Lebenskraft. Jede Grille, jede Mücke singt ihr Lied mit einer Leidenschaft, als wäre es das letzte ihres Lebens. Die Welt ist lebendig.

Wie viele Jahre kann ein Leben haben? Meines scheint übervoll mit Erlebnissen, mehr als ein Leben. Ich war am Ende der Welt und dort, wo sie beginnt. Wie viele Leben hat ein Mensch? Ich hatte mehrere in den letzten Jahren. Eines nach dem anderen habe ich vergeudet. Ich war Khan, ich war Schamane und ich war Reisender in dem Land jenseits des Horizontes. Ich habe in meinem Leben mehr gesehen als manch anderer in hundert Jahren. Mehr als die Menschen der letzten hundert Jahre, mehr als die der nächsten hundert Jahre. Hangzhou. Samarkand. Bagdad. Delhi.

Ich ziehe die zerknitterte Landkarte des mongolischen Reiches hervor und entfalte sie. Ein paar Linien auf dem Papier. Eine Idee, die von Bagdad im Westen bis Hangzhou im Osten reicht, von der mongolischen Steppe im Norden bis zum Yangzi-Fluss im Süden. Ein Reich, erschaffen von einem Mann, der auf seiner Suche nach dem Frieden zum Schwert griff. Dschingis Khan.

Ich drehe die Landkarte um. Auf der Rückseite lese ich die mit roter Tinte niedergeschriebenen letzten Befehle Dschingis Khans. Ich kann meine eigene Handschrift kaum lesen. Nicht weil er zu atemlos diktiert hätte in der Stunde seines Sterbens, denn der Tod konnte ihn im Innersten nicht so erregen wie ich das konnte. Sondern weil ich weinte, als ich seine letzten Worte niederschrieb. Um ihn. Und um mich selbst. Um mein Schicksal, das von Dschingis Khan in seiner letzten Stunde besiegelt wurde. Ein Gott im Himmel und ein Khakhan auf der Erde. Das Siegel des Herrn der Erde: Dschingis Khan.

Soll ich mich dieses Mal seinem Befehl beugen? Soll ich tun, um was er mich mit seinem letzten Atemzug gebeten hatte?

Ich starre hinauf in den Abendhimmel, aber zwischen den feurigen Wolken gibt mir der Himmelsgott kein Zeichen. Kein Donner, der mich ermahnt, die richtige Entscheidung zu treffen, kein Blitz, der mich erschlägt, wenn ich es nicht tue. Aber wann hatte ich mich zuletzt dem Willen Gottes gebeugt?

Ich zerreiße die Landkarte, das mongolische Reich und den Willen des Khakhan in kleine Stücke, die der Wind über die Steppe weht. Mein Blick folgt den Fetzen bis zum Horizont.

Meine Gedanken folgen ihnen. In eine andere Welt. In eine andere Zeit. Nein, ich bin noch nicht zurückgekehrt aus dem Land jenseits des Horizontes. Ich bin getrennt von meiner eigenen Vergangenheit. Ich muss ganz von vorne anfangen.

Der Sohn des Himmels und der Erde

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