Читать книгу Der Sohn des Himmels und der Erde - Barbara Goldstein - Страница 7

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Alles ist verbunden. Nichts steht für sich allein. Alles enthält alles andere in Form der Möglichkeit in sich. Grenzenloses Wissen resultiert aus einer genauen Beobachtung von allem und der Kenntnis um die Verbundenheit aller Dinge. Alle möglichen Antworten tragen wir in uns selbst. Wir müssen nur den Mut aufbringen, nach innen zu schauen und zu erkennen.

Vielleicht war ich nicht mutig genug, die Wahrheit zu erkennen.

Kökschu hatte mir gezeigt, wie ich in die Zeit hineinsehen konnte. Aber so oft ich auch es versuchte, um zu erkennen, ob Dschamuga mein Vater war oder es in naher Zukunft werden würde, blieben die Bilder verschwommen. Aber ich sah andere Dinge, deren Bedeutung ich noch nicht verstand. Dschamuga als Khan der Mongol. Als der Gegner, der mir nach dem Leben trachtete. Als der Mensch, der mich erkennen ließ, dass mein Vater und ich uns ähnlich waren und dass der Konflikt unvermeidlich war.

Wenn die Bilder doch nur klarer gewesen wären! Wie viel Leid wäre uns allen erspart geblieben!

Am Ende des harten Winters war das Geheul der Wölfe von den Bergen schon im Ordu zu hören. Die meisten Lämmer unserer Herde wurden noch vor dem Frühlingsfest geboren. Viele von ihnen wurden von den Wölfen gerissen, die ein langer und sehr kalter Winter mutig gemacht hatte. Schon zu der Zeit, als die Eisschollen den Fluss hinuntertrieben und mit lautem Knall aufeinander prallten, stieg der Kherlen aus seinem schmalen Bett und setzte das weite Tal unter Wasser. Mit jedem Sonnentag über den Schneebergen schwoll der Fluss weiter an. Das eisige Wasser stand auf den Weiden. Der schwarze Boden war durch die Hufe der Pferdeherden aufgewühlt. Das wintergelbe Gras begann stinkend zu vergehen und quietschte, als ich mit meinen Stiefeln hindurchstapfte, um die Fohlen einzufangen.

Am Tag des Frühlingsfestes wurden alle Stuten zusammengetrieben und vom Schamanen geweiht. Ich hatte die Fohlen unserer Herde ausgesondert und ebenfalls zum Ordu getrieben. Dann band ich sie an ihren Halftern an einem gespannten Seil vor unserer Jurte fest. Meine Mutter ließ die Fohlen jeweils nur wenige Schlucke bei den Stuten trinken, dann zog ich die Jungen zur Seite und band sie wieder fest. Die Stutenmilch schäumte in den Melkeimern. Ich füllte die frische Milch in große Ledersäcke und begann die süßliche Flüssigkeit so lange zu schlagen, bis sie sauer geworden und in Gärung übergegangen war.

Am späten Nachmittag wollten Jesutai und ich die Fohlen auf die Weiden bringen. Sein Vater hatte die Stuten bereits nach dem Melken zurückgetrieben. Ich ritt hinüber zu Todas Jurte, wo Jesutai auf mich wartete. Seine Mutter hatte Aaruul-Quark und einen Schlauch mit frisch geschlagenem Airag hinter seinem Sattel aufgeschnallt.

Jesutais Brustlatz war ebenso ausgebeult wie meiner. Auch er trug eine Trinkschale bei sich.

Mit einem Trick gelang es mir bereits mit sechs Jahren, mich allein in den Sattel zu schwingen, während der sechs Monde ältere Jesutai noch immer von seinem Vater oder seiner Mutter auf das Pferd gehoben werden musste. Ich zog mich mit beiden Händen am Sattel hoch, um meinen linken Fuß in den viel zu hohen Steigbügel zu stecken. Ich hasste es, wenn mir jemand beim Aufsteigen half. Beim dritten Anlauf schwang ich mein rechtes Bein über den hohen Sattel und saß auf dem Pferd. Jesutai, der drei Fingerbreit kleiner war als ich, musste einen Baumstamm benutzen, um in den Sattel zu kommen. Ich sah nicht hin, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen.

Als wir den letzten Jurtenkreis hinter uns gelassen haben, trieben wir unsere Pferde zum Galopp an. Die Fohlen konnten uns kaum folgen. Jesutai hatte eine Pferdelänge Vorsprung, als ihm die Idee kam, ein Wettrennen zu veranstalten. »Wer zuerst bei dem Baum dort ist, darf den ersten Schnitt ausführen!«, rief er mir zu.

Ich hieb mit meiner Reitpeitsche auf mein Pferd ein. Der bezeichnete Baum stand auf einem Hügel am Horizont. Leicht wie eine Windbö galoppierte mein Pferd auf den Hügel zu. Innerhalb weniger Minuten hatte ich Jesutai überholt. Ich beugte mich tief über die Mähne und warf ihm einen triumphierenden Blick zu, als ich an ihm vorbeizog.

Doch schon wenig später befand sich Jesutais Pferd auf einer Höhe mit mir. »Glaub nicht, dass du mich abhängen kannst, Temur!«, rief mir Jesutai zu. Aber er lachte nicht. Sein Gesicht zeigte den verbissenen Ausdruck eines Menschen, der nicht verlieren konnte. Er trieb sein Pferd noch schneller an, obwohl das Tier von dem scharfen Ritt bereits schnaufte. Das Pferd schreckte jedes Mal zusammen, wenn Jesutai einen neuen Schlag mit seiner Reitpeitsche ausführte. Wusste er nicht, dass es nicht schneller galoppieren konnte?

Jesutai erreichte als Erster den Baum. Er sprang ab, schlang die Arme um den Stamm und lachte triumphierend: »Ich habe gewonnen!«

»Du hast gewonnen!«, bestätigte ich gnädig. Gewinnen ist nicht wichtig. Überleben ist wichtig.

Jesutai ergriff die Zügel meines Pferdes. Ich sprang ebenfalls aus dem Sattel. Er füllte unsere beiden Schalen mit dem starken Airag, der für seinen Vater bestimmt war. Der würde toben, wenn der Schlauch halb leer war, aber zu einer ordentlichen Anda-Zeremonie gehörte eben Airag. Wir leerten feierlich die Schalen. Das berauschende Getränk stieg mir in den Kopf, so wie Kökschus Tee. Jesutai schenkte sofort nach. Nachdem ich erneut getrunken hatte, fühlte ich mich so leicht wie ein Habicht, der nach Mäusen sucht. Ich musste mich an Grashalmen und Edelweißblüten festhalten, um nicht in den Himmel zu stürzen.

Jesutai hatte offensichtlich mehr Erfahrung mit Airag und schenkte die dritte Schale ein, die er mir reichte. Wenn meine Mutter davon erfuhr, wurde sie mich schlagen! Aber was sollte ich tun? Ich musste diese Schale leer trinken, wenn Jesutai mich nicht als Feigling bezeichnen wollte.

Der Himmel begann sich um mich zu drehen. Ich war der Mittelpunkt der Welt. Dann drehte sich auch die Welt um mich, aber irgendwie nicht in die richtige Richtung oder in der richtigen Geschwindigkeit.

Jesutai stand über mir und zog mich auf die Beine. »Bist du bereit?«

»Ich bin bereit.« Die Welt kam langsam zur Ruhe und auch die Schmetterlinge in meinem Bauch beruhigten sich wieder.

Jesutai zog seinen Dolch und reichte ihn mir. Ich ritzte mit der scharfen Klinge meinen Unterarm, während Jesutai eine vierte Schale Airag einschenkte. Dann reichte ich Jesutai meinen Dolch, damit er sich die Ader am Handgelenk öffnete. Wir ließen einige Tropfen unseres Blutes in den Airag fallen und tranken das Blut des Freundes.

»Ich schwöre feierlich, dir als meinem Anda in der Gefahr gegen Tod und Verderben beizustehen«, sagte Jesutai.

»Und ich schwöre feierlich, dir als meinem Anda in der Not gegen Hunger und Kälte beizustehen«, sagte ich. »Lass uns nie gegeneinander kämpfen, Jesutai. Nicht wie Temudschin und Dschamuga.«

»Nein, Temur, denn jetzt sind wir wirkliche Brüder.«

»Jetzt sind wir Brüder«, sagte ich dem Zeremoniell entsprechend. »Was meinst du mit wirkliche Brüder?«

»Irgendwie waren wir das vorher schon, nicht wahr? Mein Vater schläft mit deiner Mutter.«

»Woher weißt du das?«, fragte ich überrascht.

»Ich habe Augen zu sehen und Ohren zu hören. Er schleicht sich manchmal nachts aus dem Zelt, aber nicht, um nach den Pferden zu sehen«, sagte Jesutai. »Ich bin ihm ein Mal gefolgt.«

Am Ende der Zeremonie tauschten wir unsere Geschenke aus. Ich gab Jesutai meine Wurfknöchel, und er schenkte mir einen Singenden Pfeil. Dann schwangen wir uns in die Sättel und ritten mit den Fohlen zur Pferdeweide.

Toda Beki saß mit Kökschu auf einem Stein und spielte mit Knöcheln. Er erhob sich bei unserem Anblick. »Ihr seid spät dran!«, schimpfte er. »Wir haben Hunger!« Mit einem Stirnrunzeln sah er unsere verbundenen Unterarme.

Ich war überrascht, Kökschu neben Toda im Gras hocken zu sehen. Hatten sie wieder gestritten? Offensichtlich fehlte Toda sein Lieblingsfeind Munlik, denn er provozierte nun Munliks Sohn Kökschu und ließ sich mit ihm auf endlose Wortgefechte ein. Toda hatte eines Abends vergessen, Kökschu zur Ratsversammlung einzuladen. Kökschu hatte mir gegenüber vermutet, dass der Beki ihn aus dem Lager treiben wollte, weil jener ihm orakelt hatte, dass Toda keine Zukunft habe, weder mit Dschamuga noch mit Temudschin. Doch Toda hatte noch nicht alle seine Pfeile verschossen. Er beschuldigte den Schamanen, zweifelhafte Prophezeiungen zu machen, die nur deshalb eintrafen, weil ihre Auslegung durch Kökschu selbst rätselhaft und unverständlich war. Aber auch das war noch nicht das Ende ihres Krieges, dessen wertvollste Beute meine Mutter war.

Jesutai stieg nicht ab, sondern reichte seinem Vater den in ein Tuch gewickelten Aaruul und den Schlauch mit Airag vom Pferd herunter. Toda Beki sah uns beiden ins Gesicht und erkannte unseren Zustand. Aber er sagte nichts. Seine Mundwinkel zuckten, als er den Quark und den Airag entgegennahm und zu Kökschu zurückkehrte, der bereits auf die Mahlzeit wartete.

»Findet ihr den Rückweg?«, war das einzige, was Toda zu seinem Sohn sagte.

Jesutai richtete sich im Sattel auf und warf seinem Vater einen vernichtenden Blick zu. Er riss die Zügel seines Pferdes herum und stob an mir vorbei die Hügel hinauf.

Das Hüten einer Herde ist das langweiligste, was einem Sechsjährigen aufgetragen werden kann. Im Lauf der Monde hatte ich ein Spiel erfunden, das ich während der langen einsamen Stunden auf der Weide spielte. Ich ritt Angriffe gegen die feindlichen Truppen. Die weißen und grauen Hengste und Stuten waren die gegnerischen Klans, die braunen und schwarzen waren meine Verbündeten. Auf meinem Lieblingspferd galoppierte ich durch die Reihen der Weißen und Grauen, wirbelte mein hölzernes Schwert über dem Kopf und schoss im Galopp Pfeile auf die Lilien im Gras.

An diesem sonnigen Sommermorgen versuchte ich, meine Truppen in Formation zu bringen. Immer wieder ritt ich die lange Reihe der Schwarzen und Braunen ab und trieb die verdutzten Tiere vor und zurück oder zur Seite, aber erntete nur verständnislose Blicke und völlige Gleichgültigkeit. Sobald ich mich entfernt hatte, begannen die Pferde erneut, sich mit dem Gras zu beschäftigen.

Und als ich so weit war, einen Angriff auf die gegnerischen Pferde zu reiten, folgten mir meine Truppen keinen Schritt. Sie hoben nicht einmal die Köpfe. Also wendete ich im Galopp, durchbrach die eigenen Reihen, wendete erneut und trieb die erschreckten Tiere vor mir her auf die Weißen und Grauen zu. Wir lieferten uns eine erbitterte Schlacht. Den härtesten Kampf hatte ich mit dem gegnerischen Heerführer, einem wolkenweißen Hengst, dem Vater der meisten Fohlen auf der Weide. Ich provozierte ihn mit meinen erbitterten Angriffen derart, dass er mich beißen wollte. Beinahe hätte er mich verwundet, wenn ich nicht in der Hitze der Schlacht, mitten im Galopp, mein Pferd verlassen und ihn bestiegen hätte.

»Du musst deine Schlachtordnung bis zum Ende beibehalten!«, hörte ich eine Stimme hinter mir.

Überrascht sah ich mich um. Ich hatte mich unbeobachtet gewähnt. Ein Fremder hatte sich der Herde unbemerkt genähert. Nun sah er mir amüsiert zu, wie ich den weißen Hengst auf ihn zutraben ließ.

»Wenn du es nicht tust, werden sich deine Männer schnell in Einzelkämpfe verwickeln«, fügte er an, als ich nahe genug war.

»Friede sei mit Euch!« Er war weit geritten und das Pferd war müde. Ich ergriff die Zügel. »Seid Ihr heil und gesund?«

»Das bin ich«, beantwortete der andere den traditionellen Gruß. »Bist du selbst heil und gesund, mein Sohn?«

»Dank Tenger, ja. Ist Friede in Eurem Ordu?«

»Wir leben in Frieden. Noch.« Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Fremden. »Habt ihr gute Weiden?«

»Haben wir«, bestätigte ich. Nachdem die formelle Begrüßung des Fremden beendet war, konnte ich die Fragen stellen, die mich wirklich interessierten. »Woher kommt Ihr?«

»Ich heiße Subotai und komme aus Fürst Temudschins Lager.«

Jede Handbreit von Subotai war ein Krieger. Die kräftigen Schultern sprachen von täglichen Schwertübungen, die muskulösen Arme von einem mühelos gespannten Langbogen. Er bewegte sich mit der beherrschten Selbstdisziplin eines lauernden Schneeleoparden. Selbst die feinen Muskeln um die Augen und in den Mundwinkeln hatte er unter Kontrolle. Ich habe Subotai in all den Jahren niemals lächeln sehen. Niemals.

»Mein Name ist Temur. Wohin führt Euch Euer Weg?«

»In Fürst Todas Ordu. Ich habe eine Botschaft für ihn.«

»Das Lager ist eine Stunde entfernt. Ich werde Euch hinführen.«

»Kannst du deine Truppen solange allein lassen, Temur Noyan?«, fragte er spöttisch.

»Sie kommen ohne mich zurecht«, sagte ich stolz.

Ich sprang ab, ließ den Weißen traben und sattelte mein Pferd. Dann führte ich Subotai in unser Ordu.

Jesutai eilte uns entgegen, als er mich mit dem Fremden ankommen sah, und ergriff die Zügel beider Pferde. Dann nutzte ich meine Chance und huschte vor Subotai in die Jurte des Fürsten, um seinen Besuch anzukündigen. Wenn er sich selbst vorstellte, hatte ich keine Gelegenheit mehr, die Jurte zu betreten und zu erfahren, welche Nachricht Subotai dem Beki überbringen sollte. Jesutai band eilig die beiden Pferde fest und folgte ihm.

»Ich bringe Euch eine Nachricht von Eurem Cousin Temudschin«, grüßte Subotai den Beki.

»Wie geht es meinem Cousin?«, fragte Toda, der dem Gast seine Silberschale mit Arkhi füllte. Die Erwähnung des Verwandtschaftsgrades war ungewöhnlich und unnötig.

»Es geht ihm gut. Er ist gesund«, sagte Subotai, während er sich auf einem Kissen auf der Gästeseite der Jurte niederließ.

»Wie geht es seiner Gemahlin Börte?«

»Es geht auch ihr gut, Toda. Wie auch seinen Söhnen Dschutschi, Tsagatai, Ogodei und Tolei. Es geht seinen Herden gut und die Weiden sind saftig.«

Toda sah Subotai überrascht an, weil er die traditionellen Grußfragen derart unhöflich beantwortet hatte.

»Und die Zahl seiner Gefolgsleute steigt unaufhaltsam«, fügte Subotai an. Er sah Toda dabei nicht an, sondern konzentrierte sich auf den Boden seiner Trinkschale.

»Das freut mich für meinen Cousin.« Ich hörte Todas Gedanken förmlich durch die Jurte jagen.

»Temudschin wünscht Euch in seinem Ordu begrüßen zu können.« Subotais mangelndes diplomatisches Geschick wurde durch seine Menschenkenntnis und seine überragenden strategischen Fähigkeiten mehr als aufgewogen. Jedes Wort traf wie ein präzise gezielter Pfeil. »Die Bekis haben einen Kuriltai einberufen. Sie wollen einen Khan wählen.«

Toda schwieg.

»Die Fürsten Altan und Kuschar haben bereits ihre Ansprüche auf den Titel zurückgewiesen und erklärt, dass sie Temudschin wählen werden. Fürst Satscha ist noch unentschlossen, ob er verzichten soll, aber er ist kein ernstzunehmender Rivale für Temudschin.« Subotai stellte seine Trinkschale vor sich auf den Boden. Toda war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um diese Geste zu bemerken. Aber Subotai war nicht beleidigt. »Temudschin wünscht, dass Ihr, Fürst Toda, ebenfalls an diesem Kuriltai teilnehmt.«

Toda schien aus einem Traum zu erwachen. »Er wünscht es?«

»Noch ist er nicht gewählt«, lenkte Subotai ein.

»Bestehen daran noch irgendwelche Zweifel?«

»Ihr selbst könntet Eure Ansprüche anmelden, Fürst Toda. Ihr seid genauso verwandt mit der Herrscherfamilie Kutula Khans wie es Kuschar und Altan und Temudschin sind.«

»Du dienst deinem Fürsten Temudschin schlecht, wenn du mir zu diesem Schritt rätst, Subotai.« Toda schüttelte den Kopf. »Was ist mit Dschamuga? Wünscht Temudschin auch seine Anwesenheit?«

»Es wäre besser für ihn, wenn er nicht käme!« Wenn Subotais Bemerkung Toda überzeugen sollte, sich Temudschin kampflos zu unterwerfen, hatte sie ihr Ziel verfehlt.

Subotai erhob sich. »Ich soll Euch ausrichten, dass Temudschin Euch die Entscheidung überlässt, ob Ihr zum Kuriltai erscheint und Euer Wahlrecht wahrnehmt oder nicht. Aber Ihr solltet die Konsequenzen bedenken, wenn er zum Khan gewählt wird und Ihr nicht unter seinen Wahlmännern wart.«

Toda sah zu Subotai auf und machte keine Anstalten, sich zu erheben. »Was hat er vor? Will er jeden umbringen, der ihn nicht gewählt hat? Will Temudschin die Steppe mit Strömen von Blut tränken? Nicht einmal die Hälfte der Bekis steht hinter ihm. Will er Frieden oder Krieg?«, fragte Toda.

»Kommt zum Kuriltai und fragt ihn selbst!«

Toda brauchte zwei Tage, um zu entscheiden, dass er nicht an der Ratsversammlung der Fürsten teilnahm. Stundenlang hatte er sich mit seinen Kriegern beraten und die Alternativen gegeneinander abgewogen. Ein Bündnis mit Temudschin gegen Dschamuga. Ein Bündnis mit Dschamuga gegen Temudschin. Eine Allianz mit Togrul Khan von den Kereit, einem Volk im Westen, um Temudschin und Dschamuga von zwei Seiten einzuschließen. Die Verlegung des Lagerplatzes nach Süden, um allen Kampfhandlungen auszuweichen. Keine der Alternativen war wirklich erstrebenswert. Am dritten Tag nach Subotais Abreise verkündete er seine Entscheidung.

Kökschu verlieh seinem Unmut Worte: »Wenn Ihr nicht gehen wollt, Toda, dann lasst es bleiben. Ich werde gehen.«

Obwohl meine Mutter Kökschus Versuchen, in ihr Bett zu gelangen, unermüdlich Widerstand leistete, hatte sie sich entschlossen, ihn zum Kuriltai in Temudschins Lager zu begleiten.

»Wir werden Großmutter besuchen«, sagte sie, als sie mir ihren Entschluss verkündet hatte.

»Ich habe eine Großmutter?«, fragte ich überrascht.

»Natürlich, Temur. Jeder Mensch hat eine Großmutter. Meine Mutter lebt in Temudschins Ordu.«

»Habe ich einen ...?«

»Mein Vater starb vor sechs Jahren.«

Vor sechs Jahren! Was war in jenem Jahr nicht alles passiert! »Woran starb Großvater?«, fragte ich.

»An einem Schwerthieb.«

»Im Zweikampf?«, bohrte ich nach.

»Nein, Temur. Er wurde von hinten erstochen.« Sie sagte das auf eine Weise, dass ich nicht weiterfragte.

Wie groß Temudschins Ordu war! Wie viele Jurten mochten auf den blühenden Wiesen am Ufer des Kherlen errichtet worden sein? So groß hatte ich mir nach der Beschreibung der Händler aus dem Reich Chin, die hin und wieder unser Ordu besuchten, eine Stadt vorgestellt. Mir wurde heiß vor Scham, als ich mir Dschelme und Subotai vorstellte, wie sie unseren lächerlich kleinen Lager, das aus nicht mehr als zweiunddreißig Jurten bestand, besuchten, um einen stolzen Toda Beki zu einem Bündnis mit Temudschin zu überreden, der über ein Ordu regierte, das aus mehr als tausend Jurten bestand. Und wenn Dschamuga der Stärkere der beiden Fürsten war, wie groß war dann erst seine Gefolgschaft?

Die Zelte waren in einer bestimmten Ordnung auf den blühenden Wiesen errichtet worden. Straßen führten wie die Speichen eines Rades zu den Jurten der Bekis in der Mitte des Ordu. Am Rand des Lagers standen hunderte von Karren und Wagen, eine riesige Pferdeherde weidete außerhalb der Jurtenkreise. Ein Fluss, der das tiefe Blau des Himmels reflektierte, schlängelte sich durch die saftiggrünen Weiden. In der mongolischen Steppe sind alle Flüsse und Bäche und alle Seen von der Farbe des Himmels, selbst die Pfützen nach einem Gewitterregen. In Chin sind die Flüsse goldgelb wie die Erde, die sie mit sich reißen. In Khorasan sind sie silbriggrün. Der Ganga in Sindh hat die Farblosigkeit der menschlichen Asche, die er mit sich führt. Nur in den klaren mongolischen Flüssen und Seen kann sich Tenger, der Ewige Blaue Himmel, spiegeln. Aber das ist eine Erkenntnis, die ich erst Jahre später erlangen sollte, als ich an den Ufers des Hoang Ho, des Sarafshan und des Ganga gestanden hatte.

Meine Mutter ritt durch die Straßen des Ordu und fragte jeden, dem sie begegnete, nach Großmutter. Wie sollten wir sie in diesem riesigen Lager finden?

Die Jurten der Fürsten in der Mitte des Lagers waren mit bunt bestickten Borten geschmückt und bestanden aus schneeweißem Filz, als wären sie ganz neu. Die meisten Jurten hatten die üblichen vier Scherengitter und waren gleich groß. Die Zelte der Fürsten bestanden aus fünf, sechs oder noch mehr Wandelementen. Ich beobachtete das Kommen und Gehen. Der Kuriltai sollte am nächsten Morgen beginnen und noch immer waren nicht alle Vorbereitungen abgeschlossen.

Wieder hielt meine Mutter die Pferde, um sich nach Großmutters Jurte zu erkundigen. Ein Junge in meinem Alter stürzte sich mit einem gespannten Bogen auf mich, gefolgt von einem Mädchen, das etwa zwei Jahre jünger war. Auch sie hielt eine Waffe in der Hand. Der Junge blieb stehen, zielte und schoss einen Pfeil mit einer mit Filz umwickelten Spitze auf mich ab. Er traf mich am Arm. »Du bist tot! Du musst jetzt vom Pferd fallen!«

Doch den Gefallen tat ich ihm nicht. »Hat Tenger dir den Verstand genommen?«, schrie ich ihn an.

»So darfst du nicht mit mir reden!«, brüllte er zurück. Er zeigte das gleiche selbstgefällige Verhalten wie Jesutai. Ob er auch der Sohn eines Beki war?

»Ich rede mit dir wie ich will!« Ich sprang vom Pferd.

Noch bevor ich sicher auf dem Boden stand, hatte sich der Junge auf mich geworfen und schlug mit der Faust auf mich ein. Ich fiel zu Boden. Seine Schwester versuchte uns zu trennen. »Es ist doch nur ein Spiel!«, rief sie. »Dschutschi, hör sofort auf ihn zu schlagen, oder ich werde es Vater erzählen!«

Dschutschi ließ mich los, als sei er von einer Schlange gebissen worden. »Das wirst du nicht tun, Temelün!«

»Ich werde es tun. Heute Abend. Das verspreche ich dir.«

Das Mädchen half mir auf die Beine. »Du bist tapfer. Die meisten Jungen lassen sich von Dschutschi verprügeln, weil sie Vaters Zorn fürchten. Wie heißt du?«

»Ich heiße Temur. Ich lasse mich nicht verprügeln. Wer ist euer Vater?«

»Fürst Temudschin«, sagte das Mädchen stolz.

Wir fanden Großmutters Jurte am nördlichen Rand des innersten Lagerkreises.

Meine Großmutter war zierlich, beinahe zerbrechlich. Sie hatte das windgegerbte Gesicht einer Frau, die sich bei jedem Wetter draußen aufhielt. Dabei war sie so blass und durchscheinend wie ein Steppengeist. Aber was ihr an Farbigkeit fehlte, glich sie durch ihre unglaubliche Präsenz aus. Ich spürte sie mehr, als dass ich sie sah.

Großmutter freute sich sehr, nach sechs Jahren ihre Tochter wieder in ihre Arme schließen zu können. Dann wandte sie sich mir zu, hob mich hoch. »Du bist mein Enkel ...«

»Er heißt Temur, Mutter.«

Meine Großmutter sah meine Mutter verdutzt an. »Warum gerade Temur? Sein Vater ...«

»Ich habe diesen Namen nicht gewählt, sondern der Schamane!«

Meine Großmutter stellte mich zurück auf den Boden. »Ein Schamane sollte wissen, was er tut und wem er welchen Namen gibt.«

Meine Mutter begann, unsere Packpferde zu entladen und die Taschen in die Jurte zu tragen. Ich sattelte die vier Pferde ab und band sie an. Als ich in das Zelt zurückkehrte, kochte der Buttertee im Topf. Die wichtigsten Fragen des Woher, des Wielange und Wozu waren schon geklärt.

Meine Großmutter und ihre Tochter schliefen in einem Bett auf der Frauenseite der Jurte, während ich mir meine Schlafmatte auf der Westseite ausgebreitet hatte. Es war das erste Mal, dass ich nicht neben meiner Mutter einschlief. Ich war stolz, von meiner Großmutter als Mann und nicht als Kind behandelt zu werden. Außerdem war ich viel zu aufgeregt, um schlafen zu können.

Und so hörte ich die Frauen im Dunkeln miteinander flüstern. »Wirst du ihn besuchen?«, fragte meine Großmutter.

»Ganz sicher nicht! Ich will ihn nicht sehen. Und ich bin sicher, dass er sich nicht mehr an mich erinnern kann.«

»Aber warum bist du dann überhaupt hierher gekommen? Und wieso hast du Temur mitgebracht?«

»Ich wollte Euch besuchen, Mutter. Ihr sollt endlich Euren Enkel kennen lernen.«

Meine Großmutter schwieg einige Atemzüge lang.

»Dschamuga war vor einigen Wochen in unserem Ordu«, sagte meine Mutter unvermittelt. »Er hat mich besucht.«

»So?«

»Er will mich immer noch. Er hat von Heirat gesprochen ...«, deutete meine Mutter an.

»Habt ihr miteinander geschlafen?«

Meine Mutter schwieg einige Atemzüge lang, dann sagte sie: »Ich glaube, ich bin schwanger.«

Der Gedanke an einen Bruder oder eine Schwester hielt mich auch den Rest der Nacht wach. Endlich würde ich Geschwister haben wie alle anderen Jungen des Ordu. Endlich würde ich jemand haben, zu dem ich Vater sagen konnte: Fürst Dschamuga!

Am nächsten Morgen, dem Tag des Kuriltai, war ich müde und unausgeschlafen. Mit geschlossenen Augen lag ich unter meinem Fell, als ich Großmutter früh in der Jurte Feuer machen hörte. Ich stellte mich schlafend, bis der Tsaj im Topf kochte. Erst als ich sicher war, dass die beiden Frauen ihre Terlegs angezogen hatten, öffnete ich die Augen. Sie hatten sich herausgeputzt, als wollten sie heute heiraten. Und sie waren genauso aufgeregt wie ich. Heute sollte ein neuer Khan die weiße Filzdecke betreten! Die Klans hatten den letzten Khan vor dreißig Jahren gewählt!

Nach dem Morgentee eilten wir zum großen Versammlungszelt, um eine gute Beobachtungsposition zu bekommen. Bewaffnete sperrten den Zugang ab und ließen uns nicht durch. Also nahmen wir direkt vor den Wachen im Gras Platz, um die Ereignisse dieses großen Tages zu beobachten.

Ein Fürst nach dem anderen trat aus seiner Jurte und ging hinüber zum Zelt. Meine Großmutter hatte sie alle schon einmal gesehen. »Der junge Mann mit den goldenen Haaren ist Altan Beki, Kutula Khans Sohn. Der Mann, der gerade auf Waffen kontrolliert wird, ist Kuschar Beki. Und dort drüben kommt Satscha Beki.« Großmutter deutete hinter sich auf einen Mann, der mit seiner Eskorte durch die Reihen der vor dem Zelt Wartenden schritt.

»Und wer ...?« Ich deutete auf einen Mann, der trotz der friedlichen Zusammenkunft eine Rüstung trug.

»Das muss der Taidschiut sein. Targutai wagt nicht, selbst zum Kuriltai zu kommen. Er soll seinen Neffen geschickt haben.«

Targutai Beki, der Sohn Ambakai Khans, hatte Temudschin nach dem Tod seines Vaters seiner Gefolgschaft beraubt. Wenig später hatte er Jagd auf seinen Cousin gemacht und Temudschin wochenlang gefangen gehalten. Die Geschichte von Temudschins abenteuerlicher Flucht kursierte seit Jahren an den nächtlichen Herdfeuern. Ich konnte mir vorstellen, dass Targutai es vorzog, in seinem Ordu zu bleiben und einen Neffen zur Wahl zu schicken.

Ein Mann war vor die große Jurte getreten, um die Eintreffenden zu begrüßen. Bogurtschi war wie Targutais Neffe in voller Rüstung. Er kommandierte die Wachen, die für die Sicherheit der Bekis zu sorgen hatten.

Immer mehr Fürsten und Klanführer trafen ein und nahmen in der großen Jurte Platz. Die Reihen der vor dem Zelt Wartenden hatten sich während der letzten halben Stunde verdoppelt, verdreifacht. Wir saßen so eng, dass keiner von uns umfallen konnte.

Endlich erschien auch Temudschin. Er schien mit Bedacht als letzter der Bekis das Versammlungszelt betreten zu wollen. Gemessenen Schrittes, aber ohne große Eile, als würde er den Ausgang der Beratungen bereits kennen, ging er zum Versammlungszelt. Ihn durchsuchte Bogurtschi nicht auf Waffen.

Hinter Temudschin schloss sich der Eingang der Jurte. Wir begannen zu warten, wie die Bekis entschieden. Über eine Stunde lang geschah gar nichts und ich begann im Gras herumzurutschen. Wir saßen zu weit entfernt vom Zelt, als dass wir verstehen konnten, was besprochen wurde. Aber ich war sicher, dass die Stimmen im Verlauf dieser einen Stunde lauter wurden und nicht nur ein Mal durcheinander redeten. Stritten die Bekis?

Dann verließ Targutais Neffe zornig wie ein Gewittergeist das Zelt. Bogurtschi reichte ihm wortlos seine Waffen, Dschelme führte ihm sein Pferd vor. Dann ritt er aus dem Ordu.

»Kann irgendjemand hören, was gesagt wird?«, rief ein Mann hinter mir ungeduldig in die Menge.

»Sie streiten!«, rief ein Bewaffneter in der Nähe des Zeltes.

»Das ist doch nichts Neues!«, antwortete der Mann hinter mir und er hatte die Lacher auf seiner Seite.

»Seid still, ihr dort drüben! Ich verstehe nicht, was gesagt wird ...!« Sofort kehrte Ruhe in die Reihen der Wartenden ein. Dann berichtete der Bewaffnete: »Fürst Altan hat auf seine Ansprüche verzichtet.«

»Könnt Ihr etwas lauter sprechen? Wir verstehen hier hinten kaum etwas!«, hörte ich eine Frau etliche Reihen hinter mir rufen.

»Fürst Kuschar spricht jetzt ...«, sagte der Wächter.

»Was sagt er?«, fragte eine Frau neben mir.

»Er verzichtet ebenfalls!«, rief der Bewaffnete. Ein Raunen ging durch die Menge. »Fürst Satscha sagt, er lege keinen Wert auf ein repräsentatives Amt ohne Macht. Entweder werde er als Oberbefehlshaber aller Klans anerkannt, oder er wolle sich nicht wählen lassen.«

Die Stimmen in der Jurte wurden noch lauter. Bogurtschi wurde unruhig und warf einen Blick in das Zelt.

Als wieder Ruhe eingekehrt war, sagte der Mann am Zelt: »Auch er verzichtet auf das Khanat.«

Dieser Kuriltai, dachte ich, war nicht die Wahl eines Khan, sondern der Verzicht auf die Khanwürde beinahe aller Anwesenden zugunsten eines einzigen. Denn nur einer hatte bisher nicht gesprochen.

»Was sagt Temudschin?«, hörte ich jemand hinter mir rufen.

»Nichts. Wie immer.« Lachen in den Reihen hinter mir. »Ruhe! Es ist so weit ... Sie stimmen ab!«

Für einige Minuten herrschte atemlose Stille. Auch im Zelt war es ruhig geworden.

»Fürst Altan spricht! Er sagt ... Wir wollen dich zum Khan machen. Wenn du Khan bist, werden wir mit dir in den Krieg ziehen. Unsere Beute wollen wir mit dir teilen. Wenn du Khan bist, wollen wir mit dir jagen. Wenn wir uns deinem Befehl nicht unterwerfen, dann entreiße uns unseren Besitz und vernichte uns, dann werfe unsere Köpfe in die Steppe.«

»Wen haben sie denn nun gewählt?«

»Temudschin!«

»Hat er die Wahl angenommen?«, kam die Frage von links.

»Er lehnt die Khanwürde ab«, berichtete der Bewaffnete am Zelt.

»Ist er verrückt geworden?«, fragte der Mann neben mir.

»Er muss ablehnen. So will es die Tradition! Außerdem ist er mit neunundzwanzig Jahren der jüngste aller anwesenden Bekis«, wurde er sofort von seinem Nachbarn aufgeklärt.

»Das ist wohl auch der Grund seiner Wahl«, murmelte meine Großmutter. »Sie denken, sie können ihn beherrschen. Aber das hat nicht einmal seine Mutter geschafft.« Und beinahe unhörbar fügte sie an: »Und ich auch nicht ...«

Meine Großmutter bemerkte meinen erstaunten Blick über die Bemerkung, die nicht für mich bestimmt war, sagte aber nichts, lächelte nur still in sich hinein.

Bogurtschi warf erneut einen Blick in das Zelt. Dann drehte er sich um und gab ein Zeichen. Vor dem Versammlungszelt wurde ein großer weißer Filzteppich entrollt. Neben der großen Jurte brachten Schamanen feierliche Brand- und Trankopfer für den Himmelsgott Tenger dar. Ich sah Kökschu, der das Schulterblatt eines frisch geschlachteten Schafes ins Feuer legte, um daraus die Zukunft des neuen Khan zu lesen.

Dann verließen die Fürsten das Zelt und stellten sich an den Rand der weißen Filzdecke. Zuletzt verließ Temudschin die Jurte und trat in die Mitte des Filzteppichs. Ich sah ihn Bogurtschi triumphierend anlächeln. Also hatte er es gewusst! Konnte er in die Zeit hineinsehen?

Die Fürsten ergriffen den Rand der weißen Decke und hoben ihn symbolisch hoch, als wollten sie ihren Khan in den Himmel heben. Dann ließen sie den Rand der Decke los, nahmen ihre Kappen ab, lösten ihre Gürtel und legten sie zum Zeichen ihrer Unterwerfung über die Schultern, bevor sie sich neun Mal vor Temudschin verneigten. Ein Diener reichte jedem der Fürsten eine Schale mit Airag, aus denen zunächst einige Tropfen den Geistern geopfert wurden, bevor sie im Treueid geleert wurden.

Temudschins Antwort auf die Schwüre war laut und deutlich zu verstehen und niemand bat um eine Wiederholung für die letzten Reihen der Zuschauer.

Die Feier zu Ehren des neuen Khan begann bereits am Nachmittag. Das ganze Ordu war eingeladen. Airag und Arkhi flossen reichlich wie der Kherlen zur Zeit des Hochwassers, große Kessel mit herrlichen duftendem Buuds, mit Hammel und Murmeltier wurden aufgetragen. Wo der Khan um diese Jahreszeit Murmeltiere gejagt hatte, war mir ein Rätsel. Ich hatte ihn immer fragen wollen, habe es aber immer wieder vergessen. Wir hatten anderes zu besprechen.

Das ganze Ordu war bis spät nachts auf den Beinen. Hunderte von Feuern brannten zwischen den Jurten. Die Menschen aßen wie Verhungernde und tranken wie Verdurstende. Sie tanzten zu den fröhlichen Klängen der Pferdekopfgeige und sangen Lieder, die von Kabul Khan, seinem Sohn Kutula Khan und dessen Cousin Ambakai Khan handelten und deren großen Siegen über die Nachbarvölker der Kereit, der Naiman und der Tatar. Immer wieder wurde die Hoffnung geäußert, dass auch Temudschin Khan die Mongol zu großen Siegen führte. Und als die Lieder zu Ende gesungen waren, waren die Kehlen trocken.

In jener Nacht erschien Temudschin an fast jedem Feuer und setzte sich für einige Minuten zu seinen Männern, um ihre Glückwünsche entgegenzunehmen. Überall wurden ihm Schalen voller Arkhi angeboten, von denen er jeweils nur einen kleinen Schluck nahm. Viele Männer überreichten ihm himmelblaue Khadags als Zeichen ihrer Anerkennung. Es war mehr als nur Bewunderung, was aus ihren leuchtenden Augen sprach. Es war die Hoffnung auf eine bessere, eine andere Zukunft. Wie anders diese neue Zeit sein würde, konnte keiner von uns erahnen.

Temudschin hatte in jener Nacht seiner Wahl zum Khan mehr für die Mongol getan als alle Fürsten in den Jahren zuvor. Er hat uns Mongol das Gefühl der Einheit zurückgegeben, das Gefühl des Zusammenhaltes und der Freiheit. In jener Nacht waren wir keine Kiyat, keine Dschurkin, keine Taidschiut. Wir waren Mongol. Etwas, das wir noch nie zuvor waren.

Obwohl ich todmüde war, konnte ich auch in dieser Nacht nicht schlafen. Als ich lange nach Mitternacht das tiefe Atmen meiner Mutter und meiner Großmutter vom anderen Bett hörte, zog ich mich an und spazierte durch das nächtliche Lager.

Die meisten Feuer waren heruntergebrannt und die Asche glühte graurot. An vielen Feuern lagen Betrunkene auf dem Boden, die dort umgefallen waren, wo sie die letzte Schale Arkhi geleert hatten.

Meine Mutter hatte mir verboten, Arkhi zu trinken. Aber die Versuchung war zu groß, als ich einen noch fast vollen Schlauch fand. Ich wollte ihn wenigstens probieren. Ich nahm eine zu Boden gefallene Trinkschale aus Chin-Porzellan, wischte sie mit meinem Ärmel aus und schenkte mir reichlich ein. Schon der erste Schluck ließ mich husten. Wie hatte der Khan davon nur so viel trinken können, ohne auf der Stelle umzufallen? Ich setzte die Schale erneut an und trank sie in kleinen Schlucken leer. Erst wurde mir warm, dann heiß, und ich öffnete die obersten Verschlüsse meiner Terleg.

Dann setzte ich leicht schwankend den Rundgang durch das nächtliche Ordu fort. Ich ging an den Jurten der Fürsten Altan und Kuschar vorbei, in denen es bereits still geworden war. Nur aus Temudschins Zelt drang ein düsterer Feuerschein und eine nicht gerade leise geführte Unterhaltung. Ich unterschied vier Männerstimmen.

Die Wachen schliefen auf ihren Posten und ich konnte mich ganz nah an das Zelt des Khan heranschleichen. Ich hockte mich hinter der Jurte auf den Boden und lehnte mich gegen das Scherengitter. Ich konnte jedes Wort verstehen, das in der Jurte des Khan gesprochen wurde.

»Ich muss mich immer wieder an Altans dummes Gesicht erinnern, als du die Khanwürde schließlich angenommen hast. Ich dachte bis zum Schluss der Beratungen, dass deine Cousins keineswegs die Absicht hatten, einen starken Herrscher zu wählen. Sie denken wohl, sie könnten dich wie ein Hundewelpen lenken, das gestreichelt und getreten wird, ganz wie es sich seinem Besitzer gegenüber verhält. Altan wollte einen Khan wählen, der seine Privilegien schützt und ihn ansonsten in Ruhe lässt. Nach seinen anfänglichen Worten ... Ich hätte nie gedacht, dass wir dich heute noch als Khan zu Bett bringen«, lachte Dschelme. Ich erkannte seine heisere Stimme wieder.

»Noch bin ich nicht im Bett, Dschelme!« Das war der Khan.

»Aber es dauert nicht mehr lange und du bist so betrunken, dass ich dir die Decke über den Kopf ziehe!«, drohte Bogurtschi seinem Freund lachend.

»Ehrlich gesagt, habe auch ich nicht mehr an deine Wahl geglaubt, als ich Satschas Rede hörte«, gestand Dschelme.

»Du musst mehr Vertrauen haben, mein Freund!«, sagte Temudschin.

»Ich habe nicht deine Gabe, in die Zeit hinein zu sehen und die Zeichen zu deuten«, antwortete Dschelme.

»Dass Temudschin jetzt Khan ist hat doch nichts mit Zeichen zu tun, Dschelme. Es hat etwas mit Macht zu tun«, belehrte Bogurtschi seinen Freund.

Temudschin prustete los und lachte lauthals mit Bogurtschi und ich dachte, die beiden würden das ganze Lager wecken. Aber alles blieb ruhig. Nicht einmal die Wachen vor dem Zelt rührten sich.

Plötzlich wurde Temudschin ernst. »Bogurtschi?«

»Ja, mein Khan?«, antwortete Bogurtschi, immer noch lachend.

»Hör auf, mich Khan zu nennen!«, befahl Temudschin.

»Ja, mein Khan!«

»Ich will meinen Anda-Schwur dir gegenüber erneuern, Bogurtschi. Heute Nacht!«, sagte Temudschin ernst und ließ sich vom Gelächter der anderen nicht anstecken.

»Wir haben diesen Schwur vor zwanzig Jahren geleistet, Temudschin, und er hält noch immer«, wandte Bogurtschi ein.

»Ich will es so! Dschelme, reich mir deinen Dolch.« Ich hörte, wie Dschelme seinen Dolch aus der Scheide zog. »Ich schwöre, dir als meinem Anda in der Gefahr beizustehen«, sagte Temudschin.

»Ich schwöre, dir als meinem Anda gegen Hunger und Kälte beizustehen«, antwortete Bogurtschi mit den traditionellen Worten des Schwurs. »Und jetzt verrate mir endlich, warum du den Schwur heute Nacht erneuern wolltest!«

»Weil du immer noch mein Freund bist!«, prustete Temudschin los.

In das Gelächter hinein sagte Dschelme: »Wir haben uns immer noch nicht auf einen Namen geeinigt.«

»Dschelme hat Recht«, stimmte Bogurtschi zu. »Du brauchst einen Namen.«

»Ich fand Bogurtschis Vorschlag, mich Dalaijin Khan zu nennen, gar nicht schlecht«, sagte Temudschin.

»Wie wäre es mit: Bogdo Khan?«, schlug Dschelme vor.

»Klingt das nicht ein bisschen ... anmaßend?«, wandte Temudschin ein.

»Oder: Dschingis Khan?«, warf Bogurtschi ein.

Schweigen.

»Dschingis Khan klingt gut«, sagte Temudschin. »Der Name gefällt mir.«

»Hat deine Khatun hier noch irgendwo Arkhi versteckt?«, fragte Bogurtschi. Ich hörte ihn im Zelt herumlaufen und Truhen öffnen.

»Ich glaube nicht«, antwortete der Khan. »Aber ich bin auch durstig.«

Ich hörte jemanden am Zelteingang. Dann kam Bogurtschi hinter die Jurte, um nach den Pferden zu sehen. Er stand nur drei Schritte von mir entfernt und ich drückte mich in den tiefen Schatten hinter dem Zelt. Mir gefror das Blut in den Adern. Ich hörte auf zu atmen und nahm mir vor, bei einer meiner nächsten Schamanenweihen zu lernen, mich unsichtbar zu machen. Als Bogurtschi fertig war, entdeckte er mich im tiefen Schatten. Er beugte sich zu mir herunter, packte mich am Kragen meiner Terleg und zog mich auf die Beine.

»Was machst du hier, Dschutschi? Belauscht du die Gespräche der Erwachsenen?« Sein Tonfall war so scharf wie mein Dolch.

Ich brachte keinen Ton heraus. Bogurtschi zog mich hinter sich her zum Eingang der Jurte, dann schob er mich durch die Öffnung ins Innere. Als er im Feuerschein mein Gesicht erkannte, sagte er: »Du bist gar nicht Dschutschi! Im Dunkeln sahst du aus wie ... Temudschin, ist das einer deiner Söhne?« Bogurtschi drehte mich um, damit ich den Khan ansehen konnte.

Temudschin, der auf einem Kissen am Feuer lag, betrachtete mich aufmerksam im flackernden Feuerschein. »Keine Ahnung. Er ist mir noch nicht vorgestellt worden.«

»Er sieht dir verdammt ähnlich. Ähnlicher als Dschutschi ...«, sagte Dschelme, der mich ebenfalls betrachtete.

»Ich will davon nichts mehr hören, Dschelme!«, fauchte der Khan. »Ich bin die Diskussion, ob Dschutschi mein Sohn ist oder nicht, endgültig Leid! Wo bleibt der Arkhi, Bogurtschi?«

»Der Junge soll Arkhi besorgen!«, befahl Bogurtschi und ließ sich auf ein Kissen fallen.

Also verließ ich die Jurte des Khan und machte mich auf die Suche nach einem vollen Schlauch. Als ich in die Jurte zurückkehrte, war Dschelme eingeschlafen. Ich öffnete den Schlauch und schenkte dem Khan und Bogurtschi die Schalen voll. Sie tranken schweigend.

Ich sah mich in der Jurte um. Sie war groß und bestand aus sechs Scherengittern, die rot lackiert waren. Die Dachstangen waren bunt bemalt. Der Filz war frisch gewalkt und schimmerte im Licht des Feuers wie frisch gefallener Schnee. Zwischen den Dachstangen und dem Filz steckten allerlei Gegenstände: getrocknete Mistelzweige, eine silberne Trankopferschale, ein reich verziertes Schamanenmesser. Das Bettzeug lang ordentlich zusammengerollt an der westlichen Wand. An der gegenüberliegenden Wand befanden sich vier große bemalte Truhen. Die mit Silber verzierte Rüstung und der Helm des Khan wurden rechts vom Eingang aufgewahrt, Schwert, Langbogen und Pfeilköcher hingen am Scherengitter links vom bestickten Türfilz.

»Du solltest Dschamuga eine Nachricht senden«, sagte Bogurtschi bedächtig.

»Wozu?«, fragte der Khan.

»Er sollte wissen, dass du jetzt Dschingis Khan bist. Stell dir vor, seine Späher melden ihm, ein feindliches Heer nähere sich seinem Ordu und er fragt die Wächter nach dem Noyan und sie sagen ihm: Es ist Dschingis Khan. Da muss er doch wissen, dass du es bist.«

»Ich werde Dschamuga nicht angreifen.«, sagte der Khan. »Jetzt noch nicht.«

Am nächsten Morgen saß Temudschin auf einem geschnitzten Sessel auf dem weißen Filzteppich vor der großen Jurte. Neben ihm saß Börte Khatun, seine Erste Gemahlin. Ich sah Dschutschi, mit dem ich mich vor zwei Tagen geprügelt hatte, und neben ihm seine Brüder Tsagatai, ein Jahr jünger als Dschutschi, Ogodei mit vier und Tolei mit drei Jahren. Zur Rechten des Khan saßen seine Vertrauten Bogurtschi, Dschelme und Subotai, daneben die Khanbrüder sowie sein Stiefvater Munlik.

Temudschin verteilte Ämter und Würden, als wäre er der Sohn des Himmels, der im Palast von Zhongdu, der Hauptstadt von Chin, residierte: Mongol Ulus - so nannte der Khan sein Reich.

Bogurtschi, Dschelme und dessen Bruder Subotai wurden zu Noyans ernannt, zu Befehlshabern des Heeres. Bogurtschi und Dschelme nannte er seine beiden Schatten und zeichnete sie vor allen anderen aus, indem er sie zu seinen Ratgebern und engsten Vertrauten machte. Ihr Platz sollte unmittelbar zu seiner Rechten und Linken sein, vor den anderen Bekis und Noyans. Das war ein Schlag ins Gesicht für die Fürsten Altan, Kuschar und Satscha, die am Rand des weißen Teppichs knieten.

Als Satscha Beki sich erhob, um zu protestieren, wurde er auf ein Zeichen des Khan von einem von Bogurtschis Männern mit dem Schwert in die kniende Position gezwungen. Als er hörte, wie Dschingis Khan großzügig die Privilegien der Bekis bestätigte, fügte er sich in sein Schicksal. Er hatte es selbst gewählt.

»Es wird wieder Krieg geben.« Kökschu saß neben mir am Herdfeuer in seiner neuen Jurte. Wir warteten auf einen Kranken, der um eine Behandlung durch Kökschu gebeten hatte. Ich nutzte meine Anwesenheit im Ordu des Khan, um das Heilen zu erlernen.

»Ja«, sagte ich, »aber nicht heute. Außerdem weiß er es. Er wird ihn nämlich beginnen.«

»Woher weißt du das, Temur? Hast du auch in die Zeit gesehen?«, fragte Kökschu irritiert, als er den Topf mit seinem Himmelstee in die Feuerglut setzte.

»Nein, Kökschu. Ich habe es nicht gesehen, sondern gehört

»Ich hatte ihm gesagt, dass er von seinem eigenen Blut verraten wird. Zuerst wollte er mir nicht glauben, doch dann hat er selbst die Geister befragt.«

Ich starrte fasziniert auf Kökschus Schamanenspiegel, der im Licht der Feuerglut leuchtete wie die untergehende Sonne. »Der Khan hat die Geister befragt?«

»Ja, er ist ein Schamane. Er kann die Knochen deuten und mit Geistern sprechen. Einmal habe ich ihn während einer Himmelsreise sogar mit Tenger selbst sprechen hören.«

Ich schwieg beeindruckt. Kökschu begleitete den Khan auf Himmelsreisen! »Wozu braucht er Euch, Kökschu, wenn er selbst mit dem Himmel spricht?«, fragte ich frech.

»Dschingis Khan kann in die Zeit hineinsehen, wie du es kannst, Temur. Aber er kann die Zeit nicht verändern.« In diesem Punkt sollte sich Kökschu täuschen. Wenn ein Mensch die Zeit verändern konnte, dann Dschingis Khan! »Er berauscht sich an seiner eigenen Macht. Er hält sich für unbesiegbar. Gestern hat er sich mit mir angelegt. Ich habe den neunten Tschanar absolviert, er erst den sechsten, und trotzdem glaubte er, mich als Schamane herausfordern zu können.«

»Ihr habt Eure Kräfte mit dem Khan gemessen?«, fragte ich.

»Nein«, meinte Kökschu, »ich habe ein wenig mit ihm gespielt und ihm die Grenzen seiner Fähigkeiten gezeigt.«

»Und dann hat er Euch den Krieg erklärt«, lachte ich.

»Zwei Schamanen in einem Ordu können nicht friedlich miteinander leben. Genauso wenig wie zwei Khane das gleiche Volk beherrschen können. Einer von beiden ist der Stärkere. Als mein Stiefbruder das erkannt hat, ernannte er mich zum Obersten Schamanen.«

Der Kranke betrat das Zelt und nahm respektvoll auf einem Kissen in der Nähe des Eingangs Platz, um von dem Schamanen untersucht zu werden. Ich war ebenso überrascht wie der Mann, als Kökschu mir die Behandlung überließ. Er ließ mich dabei nicht aus den Augen. Ich untersuchte den Kranken mit meinen Händen und mit Worten, fühlte seinen Puls und stellte ihm unzählige Fragen. Er litt unter unerträglichen Schmerzen in seiner Brust, sein Herz fühlte sich an wie ein Stein, der ihm den Atem nahm.

»Nun, Temur, wie lautet deine Diagnose?«, fragte Kökschu.

»Der Mann leidet an Engherzigkeit.«

Kökschu lächelte zufrieden. Er hatte mich dieses Wissen gelehrt.

»Ich kann ihm nicht helfen«, fuhr ich fort, ohne die Hand des Kranken loszulassen.

Kökschu sah mich überrascht und irgendwie enttäuscht an. »Woher willst du das wissen, wenn du ihm keine Medizin gibst?«

Kökschu hatte mich gelehrt, wie ein Schamane dem Kranken während einer gemeinsamen Seelenreise hilft, die Wirklichkeit zu erkennen, seine Krankheit, sein Leiden. Er zeigt ihm, dass er in seinem Kampf gegen das Leiden und den Tod nicht allein ist. Er überträgt ihm seine Kräfte und überzeugt den Kranken, dass er bereit ist, sein eigenes Selbst zu opfern, um ihm zu helfen. Dieses Opfer verpflichtet den Kranken, zusammen mit dem Schamanen zu kämpfen, um sich selbst zu retten.

»Ich kann ihm nicht helfen,» wiederholte ich. »Nur er selbst kann sich helfen.«

»Was muss ich tun?«, drängte der Kranke atemlos. Die Schmerzen in seiner Brust schienen unerträglich.

»Weint«, sagte ich ruhig, »denn Ihr werdet sterben.«

Der Kranke sah mich ebenso entsetzt an wie Kökschu. »Ich soll weinen

»Vergießt alle Tränen, die Ihr in Euch habt! Denn Euer Schicksal, das Tenger für Euch festgelegt hat, ist unabwendbar!«, sagte ich, während Kökschu kopfschüttelnd Schlafmohnpulver gegen die Herzschmerzen in ein Stückchen Reispapier abfüllte.

Ich weiß nicht, ob es die Schmerzen und meine Worte waren, die ihn seine Selbstbeherrschung vergessen ließen, aber der Mann begann tatsächlich zu weinen. Zuerst liefen nur ein paar Tränen über seine Wangen, die er sich mit dem Ärmel seiner Terleg aus den Augen wischte, doch dann rannen die Tränen, als hätte er in eine scharfe Zwiebel gebissen. Er lag auf dem Boden und stöhnte, er heulte, er schrie in seinem Schmerz über das eigene unabwendbare Schicksal, und es dauerte lange, bis er sich wieder beruhigte.

Kökschu saß fasziniert neben mir und hielt immer noch das gefaltete Reispapier mit dem Schlafmohnpulver in der Hand.

Der Kranke war zur Ruhe gekommen. Ruhig atmend lag er auf dem Filzteppich. Ich beugte mich über ihn. »Habt Ihr Schmerzen?«

Der Mann antwortete nicht sofort. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und schien nach innen zu horchen. Dann begann er zu lachen. »Nein! Ich habe keine Schmerzen mehr.« Schließlich prustete er los und lachte, bis ihm erneut die Tränen in den Augen standen. Er lachte noch immer, als er die Jurte verließ.

Kökschu sah mich erstaunt an, als wir allein waren. »Deine Behandlungsmethoden sind ... ungewöhnlich, Temur. Weinen als Therapie! Das ist ...«

»Das Weinen hat ihn entspannt, Kökschu. Das Lachen hat ihn befreit«, unterbrach ich Kökschu. »Aber geheilt hat er sich selbst, indem er die Unabwendbarkeit seines Schicksals akzeptiert hat.«

»Für dich scheint Tengers Wille keine Gültigkeit zu haben, Temur«, sagte Kökschu ernst. »Wenn das Schicksal des Kranken wirklich unabwendbar gewesen wäre, hättest du ihn sterben lassen müssen. Du hast dich gerade mit Tenger angelegt!«

Es war ein befriedigendes, ekstatisches Gefühl, einen Kranken geheilt zu haben. Ein Gefühl grenzenloser Macht. Nur mir selbst konnte ich nicht helfen, in all den Jahren nicht, weil ich mein Leiden noch nicht erkannt hatte: die Unvermeidlichkeit des Schicksals.

»Wo ist Mutter?«, fragte ich meine Großmutter, als ich zwei Rebhühner auf den Boden der Jurte warf. Ich hatte am Nachmittag in einem Birkenwald in der Nähe des Ordu gejagt.

Sie sah von ihrer Näharbeit auf. »Spazieren.« Sie besserte meine Terleg aus, die ich mir auf der Pferdeweide aufgerissen hatte.

Ich sah sie überrascht an. »Allein

»Nein. Mit Mukali.« Meine Großmutter ging mit Informationen so sparsam um wie mit Salz in der Suppe.

»Wer ist Mukali?«, fragte ich.

»Temur, wenn du in den letzten Tagen öfter mal hier gewesen wärst, statt dich mit den Söhnen des Khan zu prügeln, hättest du Mukali hier schon zum Tee begrüßt.« Sie sah nicht auf und konzentrierte sich auf die Naht, als wollte sie Geister beschwören.

Woher wusste meine Großmutter, dass ich Dschutschi und seinem Bruder Tsagatai vor zwei Tagen draußen auf den Weiden begegnet war? Woher wusste sie, dass sich Dschutschi angesichts seiner Niederlage vor wenigen Tagen erneut auf mich gestürzt hatte, und dass Tsagatai seinem älteren Bruder zu Hilfe gekommen war, als ich Dschutschi einen Fausthieb verpasste, der seine Nase bluten ließ?

Ich nahm auf meiner zusammengefalteten Schlafdecke Platz und wartete auf weitere Erklärungen. Großmutter warf mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Sie lächelte in sich hinein.

»Wer ist Mukali?«, wiederholte ich meine Frage.

»Er ist ein Krieger des Dschurkin-Klans. Und seit vorgestern der Geliebte deiner Mutter.« Meine Großmutter sagte das in einem Tonfall, als würde sie mir erzählen, dass eine der Stuten gefohlt hatte. »Auch das wüsstest du, wenn du die letzten beiden Nächte in deinem Bett geschlafen hättest. Es war nicht zu überhören, dass die beiden Gefallen aneinander gefunden haben.«

»Sie haben miteinander geschlafen

»Das tun Verliebte gewöhnlich, Temur.«

Ich war sprachlos. Meine Mutter war schwanger von Dschamuga. Seit über zwei Jahren besuchte Toda nachts unsere Jurte. Und jetzt eine Affäre mit diesem Mukali? Ich sehnte mich nach einem Vater - nicht nach drei!

»Mukali wird heute Abend mit uns essen. Rupf die Rebhühner!«, befahl sie mir. »Es gibt heute Abend Chuuschur mit Rebhuhnfüllung, wilden Zwiebeln und Kräutern.«

Der Geliebte meiner Mutter musste meiner Großmutter gefallen, sonst würde sie kein solches Festessen zubereiten.

Sobald wir die Hierarchie unter uns geklärt hatten, kamen Mukali und ich gut miteinander aus. Er wusste, dass er an mir nicht vorbeikam, wenn er meine Mutter für sich gewinnen wollte. Und er wusste, dass ich das wusste und auszunutzen gedachte. Aber es schien ihm nichts auszumachen.

Er hatte mit meiner Mutter zusammen das Zelt betreten und mich als das männliche Oberhaupt meiner Familie begrüßt, obwohl ich erst sechs Jahre alt war und er schon einunddreißig. Und er nahm, anders als Dschamuga, auf der Seite der Gäste Platz.

An Mukali war alles ungewöhnlich. Die Länge der schwarzen Haare, die ihm in zwei geflochtenen Kaskaden über die breiten Schultern bis zum silberverzierten Gürtel hinunterfielen. Die tibetischen Silberohrringe mit den Türkisen, die ihm ein fremdländisches Aussehen gaben. Aber vor allem seine geheimnisvoll dunklen Augen, die ganz nach seiner Stimmung jede Farbe annehmen konnten, von feurig bis eisig.

Mukali lebte allein. Er hatte seine einzige Frau vor drei Jahren im Winter verloren. Mukali konnte viel essen und noch mehr trinken. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich seine Trinkschale mit Arkhi füllte. Mukali konnte Geschichten erzählen wie ein Märchenerzähler in den Straßen von Samarkand. Wir lachten und wir weinten mit ihm. Am besten erinnere ich mich an seine Geschichte vom verirrten Steppengeist. Mukali erzählte die Geschichte mit einer todernsten Miene und wir anderen lagen lachend auf dem Boden.

Mukali konnte ebenso gut singen und auf der Pferdekopfgeige spielen wie Kökschu. Er sang für uns die Legende von Alankoa, einer Frau von großer Schönheit, die schon jung zur Witwe wurde. Eines Nachts, als Alankoa in ihrer Jurte schlief, fiel ein Lichtstrahl durch den Dachkranz und weckte sie. Im Licht erkannte sie die Gestalt eines Mannes mit hellen Haaren und blauen Augen, der sich ihr in eindeutiger Absicht näherte. Mukali musste seinen Gesang unterbrechen, als ich zu lachen begann. Als ich mich wieder beruhigt hatte, sang er weiter. Das Lichtwesen kam wieder zu Alankoa und sie gebar ihm drei Söhne, die alle das helle Haar und die blauen Augen ihres nächtlichen Besuchers hatten. Als man im Ordu über Alankoa zu reden begann, erklärte sie ihren Klanmitgliedern die näheren Umstände ihrer Affäre mit dem Lichtwesen, aber niemand glaubte ihr.

Wieder begann ich zu kichern.

Mukali legte das Instrument beiseite und sah mich streng an. »So kann ich nicht singen, Temur.«

»Die Legende ist purer Unsinn, Mukali. Kein Wort davon ist wahr! Alankoa hatte einen Geliebten und ist schwanger geworden.«

»Und warum glaubst du, Temur, führen wir Mongol unsere Abstammung auf die Söhne des Lichts zurück?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Und warum haben wir, ob wir nun Dschurkin oder Kiyat oder Taidschiut sind, blaue Augen?«

»Wer hat ...?«

»Ich habe blaue Augen. Deine Mutter auch. Altan und Kuschar und Satscha ebenfalls. Und Temudschin. Bogurtschi hat blaue Augen, wenn auch graublaue. Und selbst das schwarze Schaf der Klans, Targutai von den Taidschiut, hat blaue Augen, wenn auch grünblaue.«

Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, welche Farbe Dschamugas Augen hatten und schwieg.

Jesutai legte einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens, spannte, zielte und ließ los. Der Pfeil schnellte über das Gras und streifte die Blüte einer Lilie, die beinah hundert Schritte entfernt über das hohen Halme hinausragte. Seit meiner Rückkehr aus dem Ordu des Khan vor über einem Mond übten Jesutai und ich mit scharfen Pfeilen.

Als Jesutai den Bogen gesenkt hatte, spannte ich. Ich zielte auf einen Baum, der zweihundert Schritte entfernt auf einer Anhöhe stand.

»Der Baum ist viel zu weit entfernt«, sagte Jesutai, der hinter mir stand und mein Zielen beobachtete. »Den triffst du nie!«

Ich ärgerte mich über seine Bemerkung. Jesutai war fast eine Handbreit größer als ich und sechs Monde älter, aber das gab ihm nicht das Recht, mich zu bevormunden und zurechtzuweisen. Das Recht gestand ich ihm nicht einmal als Sohn des Beki zu.

»Wir werden sehen!«, murmelte ich und konzentrierte mich. Dann zog ich den Pfeil auf der Bogensehne zu meinem rechten Ohr.

»Du zielst zu tief!« Jesutai versuchte mit Absicht, mich zu stören.

»Das weißt du erst, wenn der Pfeil seinen Flug beendet hat, Jesutai!« Ich warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und spannte erneut den Bogen. Ich konzentrierte mich auf den Flug des Pfeils wie Kökschu mich gelehrt hatte. Ich war der Pfeil. Nichts existierte außer mir und dem Pfeil, nicht das wogende Sommergras, nicht der Duft der Steppenkräuter, nicht das feine Wispern des Windes zwischen den Edelweißblüten, nicht einmal die Spannung der Bogensehne. Dann ließ ich los und ich hörte Jesutai durch die Nase einatmen. Der Pfeil flog in einem hohen Bogen über die Weide. Dann stürzte er zur Erde zurück. Jesutai hielt den Atem an. Der Pfeil steckte im Stamm des Baumes.

Als Jesutai sich vordrängte, um den Schuss ebenfalls zu versuchen, bemerkten wir einen Reiter, der sich von Osten näherte. Er schien es eilig zu haben. Ich war erstaunt, denn das einzige, was es in der Steppe im Überfluss gab, war Zeit.

Ich ging dem Reiter entgegen. »Mukali!«, rief ich und vergaß alle Höflichkeitsfragen. Ich hatte ihn seit unserem Aufbruch im Lager des Khan vor wenigen Wochen nicht mehr gesehen und begrüßte ihn wie einen älteren Bruder.

»Ich bin auf dem Weg in Dschingis Khans Ordu und euer Lager liegt auf meinem Weg. Da dachte ich, ich besuche dich und deine schöne Mutter.«

Das war eine glatte Lüge. Nicht dass meine Mutter nicht schön war, aber unser Lager lag von Mukalis Sommerlager aus nicht auf dem Weg zum Ordu des Khan. Mukali hatte einen Umweg von drei Tagen gemacht, um meine Mutter zu besuchen.

»Mutter ist bei den Stuten. Wir haben nicht mit Euch gerechnet! Was wollt Ihr im Lager des Khan, Mukali?«

»Dschingis Khan will ein Fest veranstalten. Satscha ist schon bei ihm. Sie erwarten mich.«

Mukali hatte sich nach einem mehrtägigen Aufenthalt in unserem Ordu und im Bett meiner Mutter bereit erklärt, mich mit ins Lager des Khan zu nehmen und nach dem Fest wieder bei meiner Mutter abzuliefern. Als Mukali und ich im Lager des Khan eintrafen, waren die Vorbereitungen für das Fest in vollem Gang. Überall roch es nach Hammel und frischgeschlagenem Airag. Vor den Jurten hockten Frauen und Kinder, die Wild zerlegten oder frischen Käse zum Trocknen in die Sonne legten.

Am nächsten Morgen zelebrierte Kökschu die Riten des Festes. Er trug jetzt ein anderes Gewand, aufwändiger noch als das alte. Die Deel war ganz aus chinesischem Brokatstoff, der golden in der Sonne schimmerte. Darüber waren unendlich viele geflochtene Schnüre aus Pferdehaar und noch mehr bunte Bänder befestigt. Vor seiner Brust hing der Schamanenspiegel, der bei jeder Bewegung des Schamanen mit einem metallischen Geräusch gegen ein Amulett schlug. Man konnte Kökschu nun nicht mehr überhören.

Den ganzen Vormittag waren aus den umliegenden Ordus weitere Gäste eingetroffen, deren Pferde in einen Pferch außerhalb der Jurtenkreise geführt wurden. Temudschins Bruder Belgutai und der Dschurkin Buriboko, der für seine Kraft und Geschicklichkeit als Ringer berühmt war, bewachten gemeinsam die Pferde. Als Mukali und ich am Pferch vorbeigingen, führten Belgutai und Buriboko gerade den Adlertanz auf, mit dem traditionell ein Ringen begann. Ich hatte schon unzählige solcher Kämpfe zwischen Kriegern gesehen, die sich damit auf den Pferdeweiden die Zeit vertrieben. Doch Mukali nahm meine Hand und hielt mich zurück. »Gleich wirst du etwas erleben, Temur!«, flüsterte er mir zu. »Buriboko wird gewinnen!«

»Woher wisst Ihr das, Mukali?«

»Er hat noch nie verloren. Er kann ein Fohlen hochheben und umwerfen, um ihm die Beine zu fesseln.«

Ich sah Buriboko zweifelnd an. »Der Bruder des Khan sieht auch sehr kräftig aus.«

»Kraft allein reicht beim Ringen nicht aus, mein Sohn. Schnelligkeit und Geschicklichkeit sind mindestens genauso wichtig, wenn du deinen Gegner in die Knie zwingen willst.«

Dschingis Khan begrüßte die geladenen Gäste auf der weißen Filzdecke vor dem großen Zelt. Neben ihm saß Satscha Beki, der den Klanführern hoheitsvoll zunickte. Viele der Bekis waren mit ihren Frauen gekommen. Mukali jedoch war allein.

Er verbeugte sich vor dem Khan und ließ meine Hand nicht los.

»Mukali!«, rief Dschingis Khan erfreut. »Ich freue mich, dass du meiner Einladung gefolgt bist. Mit einem so tapferen Dschurkin-Krieger in meinem Ordu kann uns nichts mehr passieren.«

Mukali lächelte höflich. »Ich danke Euch für die Einladung, mein Khan.«

Die himmelblauen Augen des Khan richteten sich auf mich. »Deine Eskorte ist noch sehr jung ...«

Mukali grinste. »Keine Leibwache, mein Khan. Temur ist mein Sohn.« Ich muss ihn ziemlich überrascht angesehen haben, denn der Khan begann zu lachen. »Nun, Temur wird in wenigen Wochen mein Sohn sein. Wenn ich seine Mutter überredet habe, zu mir zu ziehen«, ergänzte Mukali eilig.

»Dann hoffe ich auf eine Einladung zu deiner Hochzeit, Mukali.«

»Lasst uns nicht während der Schlacht vom Sieg sprechen, mein Khan.«

Temudschin nickte. Meine Mutter hatte Mukalis Antrag offensichtlich abgelehnt. Aber warum?

Nachdem der Khan und Satscha alle geladenen Gäste begrüßt hatten, nahmen wir am Rand der großen Filzdecke Platz.

Dschingis Khan, seine Gemahlin Börte Khatun, seine Mutter und dessen Gemahl Munlik nahmen auf der uns gegenüberliegenden Seite der Decke Platz. Munlik winkte mir zu. Auf unserer Seite der Decke saßen Satscha Beki und seine Frauen und Mukali. Auch die anderen Klans waren durch Fürsten vertreten. Dschingis Khans Brüder sowie seine Freunde Bogurtschi, Dschelme und Subotai saßen zwischen den beiden Reihen der Klanführer.

Das Essen war wunderbar. Es gab Murmeltier, Ziege und Hammelfleisch, dazu fette Fleischbrühe und Fladenbrot. Der Khan war in den letzten Tagen auf der Jagd gewesen und hatte außerdem Unmengen von Rebhühnern und Hasen erlegt.

Ich stopfte das köstliche Fleisch in mich hinein, als sei ich nach einem langen und harten Winter halb verhungert. Immer wieder spießte mein Vater Mukali mir ein Stück Fleisch auf und reichte es mir. Und auch der Khan verteilte mit seiner Dolchspitze immer wieder kleine Stückchen Braten als Auszeichnung an seine Gefolgsleute. Sogar ich erhielt ein Stück!

Plötzlich erhob sich der Khan und bat mit einer herrischen Handbewegung um Ruhe. Die Musik und der Gesang versiegten wie ein Flusslauf im Sand der Wüste. »Ich will etwas sagen«, kündigte er an. Dann horchte er in sich hinein, als wüsste er noch nicht genau, was er sagen wollte. Es wurde still.

»Ich habe einen Traum«, begann er und sah in die erwartungsvollen Gesichter seiner Gefolgsleute. Der Khan lief auf der Filzdecke zwischen den Schüsseln mit Fleisch hin und her und stieg über die Brotkörbe hinweg. Dabei hatte er die Trinkschale mit Airag hoch erhoben. »Dieser Traum lässt mich die Gegenwart vergessen.« Ich sah in die Gesichter der Gäste: der Khan – ein Träumer? Satscha runzelte die Stirn, Mukali verfolgte den Flug eines Adlers am Himmel. »Dieser Traum lässt mich die Zukunft ertragen. Er gibt mir Hoffnung, denn er zeigt mir, dass ich die Zukunft verändern kann«, fuhr der Khan mit geschlossenen Augen fort, als wollte er sich von den zweifelnden Blicken seiner Gefolgsleute nicht beirren lassen. »Mein Traum zeigt mir das Volk der Mongol, das in Frieden seine Herden weidet, das in Frieden Handel treibt, das in Frieden reich wird.« Die Anwesenden sahen ihn erwartungsvoll an. Frieden? Welche Reaktion hatte der Khan von seinen Gefolgsleuten erwartet? »Frieden. Das ist der Zustand, wenn wir uns nicht gegenseitig die Zelte niederbrennen«, erläuterte er. »Wenn wir nachts ruhig bei unseren Frauen und Kindern schlafen können und die Herden nicht bewachen müssen.«

Alle lachten. Verunsichert, wie mir schien. Wann war zuletzt Frieden? Wann hatte nicht ein Klan den anderen überfallen, um Beute zu machen oder die eigenen Herden zu vergrößern? Um die Macht zu sichern?

Der Khan ging zu seinem Freund Bogurtschi hinüber, der als Zeichen seines Amtes als Befehlshaber der Leibwache des Khan einen Köcher mit Pfeilen hinter sich liegen hatte. Der Khan ergriff sechs Pfeile und zog sie aus dem Köcher. Dann kehrte er an seinen Platz zurück, verfolgt von einem unsicheren Blick seines Andas.

Dschingis Khan hob einen der Pfeile hoch. »Ein Pfeil ist eine starke Waffe, nicht wahr?« Die Männer in der Runde nickten zustimmend. »Noch stärker ist der Pfeil, wenn er auf der gespannten Bogensehne liegt.« Die Männer lachten.

Mit einer schnellen Bewegung zerbrach der Khan den Pfeil und hob die beiden Stücke hoch, damit jeder sie sehen konnte. »So gefährlich die Spitze des Pfeils auch ist, er kann zerbrochen werden!«

Ich grinste, denn der Khan spielte mit der Aufmerksamkeit seiner Gefolgsleute wie ein Wolf mit seiner Beute. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er zuschlug.

Der Khan hob den nächsten Pfeil hoch. »Das hier sind die Klans der Dschurkin und der Kiyat. Wir sind jetzt wie ein Pfeil, nicht wahr, Satscha?« Satscha sagte nichts und starrte den Khan an. Dschingis Khan hob den nächsten Pfeil. »Das hier sind die Taidschiut.« Kein Widerspruch aus der Runde. Die meisten schienen erleichtert, dass der Khan die verfeindeten Taidschiut nicht zum ersten Pfeil rechnete. Der Khan hob den dritten Pfeil: »Das hier sind die Kongkotat und die Arulat.« Bogurtschi nickte zustimmend. Er war ein Arulat. Der Khan hob den vierten Pfeil, der wie der fünfte die restlichen Klans symbolisieren sollte.

Dann legte der Khan bedächtig die fünf Pfeile nebeneinander und fasste sie zu einem Bündel zusammen, das er mit seiner Faust umschloss. Während er zu Satscha Beki hinüberging, sagte er: »Fünf Pfeile sind noch viel gefährlicher als ein Pfeil, nicht wahr?«

Zustimmendes Nicken. Satscha sah den Khan erwartungsvoll an, als dieser ihm das Pfeilbündel hinhielt.

»Diese fünf Pfeile sind der Mongol Ulus, des Volk der Mongol, das in Frieden zusammenlebt. Diese fünf Pfeile symbolisieren meinen Traum. Zerbrich die Pfeile, Satscha! Zerbrich meinen Traum!«, befahl der Khan dem Beki.

»Das kann ich nicht, mein Khan«, sagte Satscha, der sich das Gelächter ersparen wollte, wenn er es nicht schaffte, die Pfeile zu zerbrechen.

»Woher weißt du es, wenn du es noch nicht versucht hast?«

»Ich kenne die Stärke mongolischer Pfeile, mein Khan.« Satscha hatte die Lacher auf seiner Seite und der Khan war unter ihnen.

Dschingis Khan trat einen Schritt zurück und stieß dabei beinahe eine Schüssel mit Buuds um. Er hob das Pfeilbündel in den Himmel über sich und sah in die Runde. »Wer will versuchen, die Pfeile zu zerbrechen? Wer kann die Mongol vernichten? Du, Mukali?«

»Ich kann es auch nicht, mein Khan«, sagte er.

»Wer könnte es?«, fragte Dschingis Khan in die Runde. »Bogurtschi, lass Buriboko holen! Er soll die Pfeile zerbrechen.«

Wenige Minuten später kam Bogurtschi mit Buriboko zurück. Er sah verschwitzt aus und hatte offenbar mehrmals mit dem Khanbruder Belgutai gerungen.

Der Khan hielt Buriboko das Pfeilbündel hin. »Zerbrich die Pfeile!«, befahl er dem Dschurkin.

Wortlos nahm Buriboko die Pfeile entgegen, spannte seine muskulösen Schultern an und versuchte, sie zu zerbrechen. Dann versuchte er, die Pfeile über seinem Knie zu brechen, aber auch das gelang ihm nicht. Er gab das Bündel an Temudschin zurück.

»Seht ihr? Niemand kann die Mongol schlagen!«, rief der Khan.

»Ich kann es!«, rief ich und sprang auf. Mukali sah mich überrascht an.

Der Khan drehte sich zu mir um. Seine opalblauen Augen funkelten belustigt. »Du kannst es, Sohn des Mukali?«

»Auf zwei verschiedene Arten, mein Khan.« Ich hielt seinem Blick stand.

»Zeig es mir, junger Krieger. Zeig mir, wie du das Volk der Mongol besiegen kannst.« Der Khan hielt mir das Pfeilbündel hin.

»Es wird wehtun«, warnte ich ihn.

Er lachte. »Wem? Dir oder mir?«

»Uns beiden«, sagte ich, während ich die erste Pfeilspitze ergriff und den Pfeil mit einer schnellen Bewegung aus dem Bündel zog. Die Faust des Khan schloss sich mit eiserner Kraft um die verbleibenden vier Pfeile, aber ich war schneller und entzog ihm einen weiteren Pfeil. Als ich die beiden Pfeile in der Hand hielt, blutete meine rechte und seine linke Hand. Ich ergriff nacheinander die beiden Pfeile und zerbrach sie.

Der Khan sah mich nachdenklich an. »Sehr gut! Du hast uns allen gezeigt, was passiert, wenn die Mongol uneinig sind. Sie sind leicht zu vernichten.« Dann legte er mir die Hand auf die Schulter und fragte: »Und die zweite Art, die Pfeile zu vernichten?«

»Ich hätte die Faust verwundet, die die Pfeile zusammenhält. Die Faust hätte sich geöffnet und die Pfeile wären zu Boden gefallen. Die Faust seid Ihr, mein Khan«, sagte ich mutig.

»Dein Sohn ist ein Stratege!«, sagte der Khan anerkennend zu Mukali. »Wenn ich nicht schon Bogurtschi und Dschelme zu meinen Beratern gemacht hätte, würde ich deinen Sohn ernennen.«

Mukali verbeugte sich spöttisch vor dem Khan, während Dschingis Khan über die Filzdecke zurück zu seinem Platz ging. Die zerbrochenen Pfeile warf er in hohem Bogen ins Gras. »Ich habe euch von meinem Traum erzählt, dem Traum von einem vereinigten Mongol Ulus. Von Frieden und Reichtum ...«

»Wir träumen einen anderen Traum, mein Khan. Einen Traum von Beute, von schönen Frauen, von großen Herden. Einen Traum von Ehre im Kampf und von der Vernichtung unserer Feinde!«, sagte Satscha ungeduldig. »Ich habe nie von einem Volk der Mongol gehört. Es gibt die Kiyat, die Dschurkin und die Taidschiut und verschiedene andere Klans. Die Mongol gibt es nicht. Zeigt mir ihre Weidegründe, mein Khan! Wo leben sie?«

Der Khan schüttelte den Kopf. »Du hast den Traum nicht verstanden, Satscha.« Ich sah die Enttäuschung in Dschingis Khans Augen. In welcher Welt lebte er? In einer Welt, die wir anderen erst Jahre nach ihm betreten sollten. Eine friedliche Welt.

»Ich bin nicht sicher, ob ich Euren Traum verstanden habe, mein Khan«, sagte Mukali. »Was ist mit Dschamuga? Ist er auch Mongol?«

»Dschamuga? Er lebt noch? Sag mir Bescheid, wenn sich das geändert haben sollte«, sagte der Khan in das Gelächter seiner Gefolgsleute hinein. »Um deine Frage zu beantworten, Mukali: Dschamuga ist kein Mongol. Mongol ist man nicht von Geburt an, sondern man wird dazu. Diesen Schritt wird Dschamuga niemals gehen. Er wird immer ein Dschalair bleiben. Und Satscha, so scheint mir, wird immer ein Dschurkin bleiben«, sagte der Khan.

Satscha antwortete nicht.

»Ich brauche Gefolgsleute, die meine Interessen vertreten«, sagte der Khan an niemand Bestimmtes.

Jetzt brauste Satscha auf wie ein Frühjahrssturm. »Ich habe einen Khan gewählt, der meine und die Interessen meines Klans vertritt! Ich habe Euch nicht gewählt, um Eure Interessen vertreten zu dürfen, Cousin Temudschin. Von einem Mongol Ulus war nie die Rede gewesen!« Satschas Worte prasselten wie faustgroße Hagelkörner auf den Khan herab.

»Es ist nicht mein Interesse, die Mongol zu einem großen und starken Volk zu machen, Satscha«, sagte er überraschend ruhig.

»Ach nein?« Satschas Bemerkung war wie ein eisiger Windstoß.

»Nein, Satscha. Es ist dein Interesse.«

»Vielleicht bin ich zu blind, um zu sehen, mein Khan, aber ...«

»Du wirst mir auf Knien danken, wenn ich dir mit einem starken mongolischen Heer zu Hilfe komme, wenn du von den Tatar überfallen wirst und sie deine Töchter und Herden entführen. Und du wirst mir mit deinem Gürtel über den Schultern danken, wenn ich Gerechtigkeit für deine im Kampf gefallenen Söhne übe.«

Satscha Beki schwieg. Er schäumte vor Wut wie ein Topf Milch auf dem Feuer. Mukali legte ihm die Hand auf den Arm und flüsterte ihm einige Worte zu, die ich nicht verstehen konnte.

»Lasst uns auf den Frieden trinken!«, forderte der Khan seine Gefolgsleute auf und gab Dschelme ein Zeichen, die halbleeren Schalen mit Arkhi aufzufüllen.

Dschelme eilte hinter den Gästen umher, die ihm die Schalen entgegenhielten. Keiner wagte es, dem Trinkspruch des Khan nicht Folge zu leisten. Nur Satscha Beki hob seine Schale nicht und seine Gemahlin folgte mit zusammengekniffenen Lippen seinem Beispiel. Ich weiß nicht, ob es ein Versehen Dschelmes war oder nicht, aber ihm passierte das Missgeschick, dass er die Frauen Satscha Bekis in der falschen Reihenfolge bediente, nachdem er vergeblich auf die Schale der Ersten Gemahlin gewartet hatte.

Satschas Gemahlin warf erst ihrem Ehemann, dann dem Khan einen wütenden Blick zu und griff nach ihrer Reitpeitsche, die hinter ihr auf dem weißen Filzteppich lag. Damit schlug sie auf Dschelme ein, der sich gegenüber der Frau des Beki nicht zu wehren wagte und nur die Arme schützend über den Kopf hob. Sie verlieh ihrer Wut über die Anmaßung des Khan und die Schwäche ihres eigenen Gemahls vehementen Ausdruck. »Das hat Dschelme mit Absicht getan, um uns zu beleidigen!«, kreischte sie.

Bogurtschi saß reglos und wagte nicht einzugreifen. Satscha Beki, dem es zugekommen wäre, seiner wütenden Gemahlin Einhalt zu gebieten, blieb vor Überraschung stumm, während Dschingis Khan ihm nicht vorgreifen wollte, um das Feuer nicht weiter anzufachen.

Die ersten Schläge erduldete Dschelme wortlos, doch dann sprang der Khan auf und stellte sich vor seinen Freund. »Verschwinde, Dschelme!«, befahl er und sah Satschas Gemahlin in die Augen. »Schlag zu! Wenn du einen meiner Freunde schlägst, legst du dich mit mir an!«

Sie ließ die Reitpeitsche sinken. Dem eisigen Blick des Khan konnte sie nicht standhalten. Dschingis Khan geleitete sie quer über die Filzdecke zurück zu ihrem Platz und schenkte ihr und Satscha eigenhändig die Trinkschale voll. Satscha sah ihm dabei schweigend zu.

»Nun lasst uns endlich auf den Frieden trinken, bevor wir uns heute Abend noch die Köpfe einschlagen«, scherzte der Khan und ergriff seine Trinkschale, die er in einem Zug austrank.

Bogurtschi und Dschelme waren die ersten, die ihre Schalen geleert hatten, Satscha und Mukali brauchten dazu etwas länger, aber sie tranken mit dem Khan.

Das Festmahl wurde schweigend fortgesetzt. Niemand wagte ein Wort zu sagen. Niemand wollte die Flamme sein, die das Feuer zum Lodern brachte. In diese gespannte Stille hinein brach der Bruder des Khan, Belgutai. Er blutete an der Schulter und atmete schwer. Offenbar war er vom Pferch hierher gerannt. »Diese verdammten Dschurkin!«

Der Khan war aufgesprungen, als er seinen Bruder sah. »Du blutest, Belgutai. Was ist passiert?«

»Ein Dschurkin wollte das Zaumzeug deines Pferdes stehlen. Das mit den Silberbeschlägen, das Togrul Khan von den Kereit dir bei deinem letzten Besuch geschenkt hatte. Ich habe ihn erwischt.«

Der Khan sagte nichts und sah Satscha Beki an, der den Blick gesenkt hielt.

»Buriboko hat gesehen, wie ich mich mit dem Dschurkin gestritten habe und kam ihm zu Hilfe. Er zog sein Schwert!«, erklärte Belgutai.

Der Khan stand wie versteinert auf der Filzdecke und sein Bruder sah ihn erwartungsvoll an. Er erinnerte sich an seine Worte von vorhin: Wer einen meiner Freunde schlägt, legt sich mit mir an.

Mukali rutschte unruhig auf seinem Platz herum. Er warf jedem der Anwesenden einen scharfen Blick zu.

Dschingis Khan begann langsam die Verschlüsse seiner Terleg zu öffnen. Dann schlüpfte er aus den Ärmeln und ließ das Gewand zu Boden gleiten. Nun wurde auch Bogurtschi unruhig. Dschelmes Hand griff zum Dolch, mit dem er zuvor Hammelstücke aus dem Topf gefischt hatte. Die Hand seines Freundes gebot ihm Einhalt.

Der Khan stand nur mit seinen weiten Hosen und den Stiefeln bekleidet auf der Filzdecke. Bedächtig drehte er sich um und ging zu einem Schlauch mit Airag, in dem noch der Schlegel steckte. Jeder nahm an, das er den Anwesenden wieder einschenken wollte, wie er es zuvor getan hatte. Aber Dschingis Khan zog den schweren Stock aus dem Sack und wog ihn in der Hand.

Dann erhob sich auch Bogurtschi und entledigte sich seiner Terleg. Er grinste und schien zu ahnen, was sein Anda vorhatte. Auch er zog einen Schlegel aus einem Airag-Schlauch.

Blitzschnell, noch ehe Satscha sich erheben konnte, schlugen die beiden Freunde auf den Dschurkin ein. Mukali hob die Arme und musste einige Schläge von Bogurtschi einstecken, bevor er sich wehren konnte. Satscha hatte seinen Dolch gezogen, der ihm aber vom Khan aus der Hand geschlagen wurde. Nun sprang auch Dschelme auf und begann auf die Dschurkin und ihre Frauen einzuprügeln. Satschas Gemahlin ergriff erneut ihre Reitpeitsche und begann, den Khan damit von ihrem Gemahl abzulenken. Aber Dschingis Khan nahm ihre Schläge überhaupt nicht wahr.

Und so kam es, dass Dschurkin gegen Kiyat kämpften. Ich stand hilflos inmitten dieser nächtlichen Schlacht, die minutenlang hin und her wogte. Der Khan hatte Satscha zu Boden geschlagen und hieb nun mit den Fäusten auf ihn ein. Mukali wehrte sich gegen Bogurtschi und Dschelme.

Die Kiyat prügelten die Dschurkin innerhalb weniger Minuten aus dem Ordu. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und so stand ich immer noch an meinem Platz, als der Khan und seine Freunde wieder Platz nahmen. Dschingis Khan schenkte sich selbst die Schale mit Arkhi voll und leerte sie in einem Zug. Dann sah er mich interessiert an. »Sohn des Mukali! Du bist immer noch hier?«

Ich nickte.

»Warum? Die Dschurkin schlafen heute Nacht nicht im Lager.«

»Ich bin kein Dschurkin«, sagte ich.

»Nein? Was bist du dann? Ein Kiyat?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich will ein Mongol sein.«

Der Rückweg zum heimatlichen Ordu dauerte zwei Tage. Mukali und ich ritten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, rasteten ohne Feuer zu machen und ritten im Schein der Dämmerung noch zwei weitere Stunden. Auf jeder Hügelkuppe wendete Mukali sein Pferd und beobachtete aufmerksam den Horizont. Aber bis wir das Ordu erreichten, hatte er keine Verfolger entdecken können.

Tagsüber ging Mukali während der beiden Wochen seines Aufenthaltes in unserem Ordu seiner Lieblingsbeschäftigung nach: der Jagd nach Murmeltieren und Rebhühnern mit Pfeil und Bogen. Nachts widmete sich Mukali seiner zweiten Lieblingsbeschäftigung: der Jagd nach einer anderen, willigeren Beute. In der ersten Nacht hatte meine Mutter ihren Verehrer abgewiesen und Mukali schlief enttäuscht auf der anderen Seite der Jurte, während ich mich an die Brüste meiner Mutter kuschelte. Doch schon in der zweiten Nacht intensivierte er seine nächtlichen Bemühungen. Er kam zu uns herüber und kroch unter unsere Decke. Seine Hand begann sich unter dem Filz zu bewegen und meine Mutter drehte sich auf den Rücken. »Hört auf damit, Mukali! Ihr werdet meinen Sohn wecken«, flüsterte sie.

»Er schläft fest!«, hauchte er in ihr Ohr, gerade laut genug, dass ich seine Worte verstehen konnte. Seine Hand setzte die Wanderung unter der Decke fort. »Ich will dich. Jetzt!«

Sie antwortete nicht. Stattdessen begann sie, seine Küsse zu erwidern. Sie schlang die kräftigen Arme um seinen Nacken und zog sein Gesicht zu ihren Brüsten herunter. Was er dort tat, wusste ich genau. Sie stöhnte leise.

Mukalis Hände waren überall. Mehr als ein Mal streifte seine Hand meine Schulter. Aber er schien es nicht zu bemerken.

Meine Mutter drehte mir nun den Rücken zu und hob ein Bein, um es auf Mukalis Hüfte zu legen. Das war bequemer für sie, denn ihr Bauch rundete sich bereits. Ein leiser Ruck ging durch ihren Körper, als Mukali in sie eindrang und mit seinen lustvollen Bewegungen begann.

Ahnte Mukali, dass er nicht der Vater des Kindes war?

Mukali und meine Mutter schliefen fest ineinander verschlungen, als ich in der Morgendämmerung erwachte. Obwohl das Dungholen und das Feuermachen Frauenarbeit war, übernahm ich an diesem Morgen freiwillig diese Aufgaben, denn es war über Nacht kalt geworden. Ich setzte in einem Kessel Wasser, das ich vom Fluss geholt hatte, auf das erwachende Herdfeuer und warf eine Handvoll grüne Teeblätter in den Topf. Dann hockte ich mich neben das Feuer und sah dem Tsaj beim Kochen zu. Als er fertig war, siebte ich ihn zwei Mal durch, füllte den Tee in drei Schalen, fügte reichlich Yakbutter und eine Prise Salz hinzu und stellte die Schalen neben die beiden Schlafenden. Nicht einmal das Geklapper der Kelle im Topf oder das Klirren der Porzellanschalen hatte die Erschöpften wecken können.

Ich genoss die Tage mit Mukali. Wir gingen zusammen auf die Jagd, schleppten Murmeltiere und zwei Antilopen ins Ordu, die wir gemeinsam zerlegten. Wir lagen nebeneinander am Ufer des Flusses und starrten in den blauen Himmel und beobachteten die Wildgänse, die vor dem Winter nach Süden flohen.

Als der Tag unseres Aufbruchs ins Herbstlager gekommen war, half Mukali meiner Mutter und mir, die beiden Jurten und unsere Kisten und Truhen auf die Karren und Lastkamele zu verladen. Dann verabschiedete er sich und ritt davon. Ich sah ihm nach, bis er hinter dem Horizont verschwunden war.

Wir hatten einen kurzen Herbst. Die Zeit verging schnell und es war vor dem Winter unglaublich viel zu tun. Meine Mutter und ich streiften durch die Steppe und sammelten in großen Körben trockenen Dung, den ich hinter unserer Jurte zu einem Haufen aufschichtete. Dann schnitten wir große Mengen von Heu, das ich mit Wollschnüren bündelte. Das trockene Gras würde wahrscheinlich nicht ausreichen, um unsere Herden über den unbarmherzigen Winter zu bringen, aber es war alles, was wir tun konnten. Das Heu hatte noch in keinem Winter gereicht. Was die Tiere umbrachte, war nicht die fehlende Nahrung, die sie gefroren unter dem tiefen Schnee finden konnten, sondern die brutale Kälte, die ihre Kräfte aufzehrte. Und keine noch so große Menge Heu half gegen die Kälte. Wir hatten einen heißen und trockenen Sommer und die Pferde und Yaks waren gut genährt. Viele würden die Kälte überleben. Ich baute aus den Scherengittern und Dachstangen von Kökschus Jurte einen Pferch für die Tiere, um sie durch ihre Körperwärme gegen die Kälte zu schützen.

Ich schlug Airag, bis mir die Schultern schmerzten, und deponierte die Ziegenschläuche hinter unserem Zelt, wo sie über Nacht einfroren. Zwei Wochen später war es so kalt, dass weder das gelagerte Murmeltier- und Hammelfleisch noch unsere Airagvorräte wieder auftauten. Das würde bis zur Schneeschmelze so bleiben.

Ich war traurig, dass ich Mukali dann erst wiedersah. Falls überhaupt. Meine Mutter hatte ihm kein Versprechen gegeben.

Achtzehn Tage vor Tsagaan Sar, in der kältesten Nacht des Winters, gebar meine Mutter Dschamugas Sohn. Kein Schamane stand ihr während der schweren Geburt bei und so brachte ich das Kind in die Welt. Kein Schamane fand einen Namen für den Kleinen. Sie nannte ihn meinen Bruder.

Ich war eifersüchtig auf ihn, weil ich keinen Platz mehr an den Brüsten meiner Mutter hatte. Er trank alles, was sie ihm zu geben hatte. Und selbst das reichte ihm nicht. In einigen Nächten schickte mich meine Mutter in die eisige Dunkelheit, um die Ziegen zu melken. Die warme Milch füllte ich dann in einen Topf, um sie abzukochen und meinem Bruder mit einem kleinen Löffel einzuflössen. Manchmal war meine Mutter trotz seines Geschreis so müde, dass sie bereits wieder eingeschlafen war, als ich in die Jurte zurückkam.

Mein Bruder war unausstehlich, wenn er hungrig war. Und er war immer hungrig. Wenn ich ihm den Löffel mit der warmen Ziegenmilch hinhielt, drehte er unwillig den Kopf weg oder stieß den Löffel von sich, sodass die Milch verschüttet wurde.

Meine Mutter wurde immer schwächer. In einigen Nächten wurde sie nicht einmal durch das Geschrei geweckt. Zwei Nächte später ging es ihr so schlecht, dass ich ohne zu zögern Kökschus Vorräte an Heilkräutern zu durchsuchen begann. Ich hatte darauf bestanden, seine Kisten mitzunehmen, als wir ins Herbstlager gezogen waren. Unmengen von kleinen Dosen stapelten sich in einer großen Holztruhe. Ich öffnete jedes dieser Gefäße und roch am Inhalt. Einige der Düfte erinnerten mich an Sommerblumen und Gräser, andere kannte ich nicht.

Ich erinnerte mich an den Teebeutel, in dem Kökschu den Tee für unsere gemeinsamen Himmelsreisen aufbewahrte. Tatsächlich fand ich den Beutel zwischen den Küchengeräten, die er zurückgelassen hatte. Aus dem Pulver bereitete ich meiner Mutter einen Tsaj, den sie nur widerwillig trank. Er stank wie ein verwesender Yak. Der Tee schien aber zu wirken, denn ihr Gesicht entspannte sich, als ob Mukali auf ihr lag, und sie schlief für zwei Tage und drei Nächte.

Am Tag vor Tsagaan Sar konnte sie wieder aufstehen. Sie wusste, dass ich Kökschus Kräuter benutzt hatte, und dass ich entgegen ihrem Verbot beim Schamanen die Heilkunde erlernt hatte, aber sie hat mich nie darauf angesprochen.

Am Vorabend des Neujahrsfestes lud sich Toda Beki selbst in unsere Jurte ein. Er schleppte Jesutai hinter sich her wie eine Stute ihr Fohlen. »Ich bin gekommen, um meinen Sohn zu sehen.«

Mein Bruder war an dem Wiegenbrett festgebunden, das neben dem Herdfeuer vom Scherengitter hing. Toda sah meinem Bruder in das kleine, vom Schreien verkniffene Gesicht. »Das ist nicht mein Sohn!«, sagte er.

»Nein«, bestätigte meine Mutter.

»Wer ist der Vater? Mukali?«, fragte Toda.

»Nein. Nicht Mukali.«

Toda dachte nach. Dann fiel ihm ein, wer kurz vor dem Frühlingsfest meine Mutter besucht hatte. »Dschamuga?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Tenger stehe uns allen bei, wenn das der Khan erfährt!«

»Wenn er was erfährt, Toda?«

»Dass Dschamuga seinen Samen in eine Kiyat verspritzt hat.«

»Ich werde es ihm nicht erzählen«, meinte meine Mutter ruhig.

Ich habe nie herausgefunden, wer dem Khan von Dschamugas Sohn im Kiyat-Klan erzählt hatte. Dschingis Khan soll sich den Bericht ruhig bis zu Ende angehört haben, das hat mir Bogurtschi später erzählt. Der Khan habe auch nicht nach dem Namen der Mutter oder dem meines Bruders gefragt. Ohne von seiner Tätigkeit hochzublicken – er hatte gerade seinen Sattel geflickt – habe er die Anweisung gegeben, meinen Bruder zu töten.

Die Krieger des Khan trafen in den frühen Morgenstunden in unserem Ordu ein. Ich war gerade gegangen, um nach den Pferden zu sehen, als ich zwei Männer in unsere Jurte eindringen hörte. Zwei weitere waren nicht einmal abgestiegen und warteten mit den Pferden vor unserem Zelt. Es war dunkel und ich warf mich auf den verschneiten Boden, damit ich nicht entdeckt wurde. Ich trug eine Dacha aus hellgrauem Wolfspelz und war so im Schnee nicht zu erkennen. Mein Bruder begann zu schreien, als würde er lebendig aufgespießt werden, dann rief meine Mutter etwas, was ich nicht verstehen konnte.

Als die beiden Krieger die Jurte verließen, war es still im Zelt. Mein Bruder schrie nicht mehr. Nie mehr.

Dann verschwanden die Krieger des Khan wie sie gekommen waren. Meine Mutter und ich begruben den kleinen Leichnam auf der Pferdeweide, damit er nicht als Geist über die verschneite Steppe irrte. Ich hatte ein kleines Loch ausgehoben, was im vereisten Boden sehr mühsam war. Ich grub nicht sehr tief, gerade tief genug, um meinen Bruder der Mutter Erde zurückzugeben und Erde und Schnee über dem Loch aufzutürmen. Dann trieb ich unsere Herde über das Grab, um den Grabhügel unkenntlich zu machen.

Mein Bruder ruhte in Frieden. Meine Mutter nicht. Sie begann den Khan zu verfluchen.

Wenn Dschamuga von der Geburt und der Hinrichtung seines Sohnes überhaupt erfahren hatte, so ließ er es uns zumindest nicht wissen. Auch an sein Versprechen, meine Mutter zu sich zu holen, um sie zu heiraten, erinnerte er sich nicht.

Sie war so verbittert über den Erzeuger und den Vernichter ihres Sohnes, dass sie selbst Mukali bei seinem Besuch kurz vor dem Frühlingsfest einen Schlafplatz außerhalb unserer Jurte zuwies.

»Was ist mit ihr los, Temur? Deine Mutter ist sehr verändert, seit ich euch im Herbst verließ.«

Ich antwortete nicht und half Mukali, seine Schlafmatte neben unserer Jurte auszurollen.

»Hast du auch die Sprache verloren, Temur?«, bohrte er nach.

»Nein, Mukali. Sie hat mir verboten, mit Euch darüber zu sprechen.«

»Worüber?«

»Das darf ich Euch nicht sagen.« Niemand außer meiner Mutter und mir wusste, was in jener Nacht geschehen war. Toda und den anderen hatten wir gesagt, dass mein Bruder plötzlich in der Nacht gestorben war. Einen letzten Schrei habe er getan und dann seine kleine Seele ausgeatmet. Niemand hatte Fragen gestellt, denn im Winter starben oft die Kleinsten.

»Als ich euch verließ, war deine Mutter schwanger.«

Ich antwortete nicht.

Mukali nickte, als er sich die nicht gestellte Frage selbst beantwortete. »Wann wurde das Kind geboren?«

»Kurz vor Neujahr«, murmelte ich möglichst unverständlich.

»Und wo ist es jetzt?«, fragte er.

Ich deutete auf die Pferdeweide, wo über dem Grab das erste blaugrüne Gras zu sprießen begann.

Mukali schloss die Augen zu einem kurzen Gebet zum Himmel. Er nahm wohl an, dass mein Bruder sein Sohn gewesen war. Ich tat nichts, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

In jener Nacht fügte sich Mukali dem Willen meiner Mutter und schlief vor unserer Jurte. Noch nach Mitternacht hörte ich ihn draußen sich unruhig auf seiner Schlafdecke wälzen. Er dachte wohl an seinen Sohn, den er nie kennen gelernt hatte.

Leise stand ich auf und schleppte meine Filzdecke neben Mukalis Schlafplatz. Er hatte mich kommen gehört, hob die Decke und ließ mich neben sich unter das Fell kriechen. Eng aneinander geschmiegt schliefen wir, bis meine Mutter das Zelt verließ, um Teewasser zu holen.

In der nächsten Nacht kam Mukali gegen Mitternacht in unsere Jurte. Ich hörte ihn sein Fell hereinschleppen und neben Mutters Schlafmatte ausbreiten. Dann legte er sich neben sie ohne sie zu wecken und verbrachte den Rest der Nacht in der Nähe des Feuers. Es dauerte fünf Nächte, bis sie ihn unter ihre Decke ließ.

Mukali blieb drei Wochen bei uns, denn zum Frühlingsfest wurde er in seinem Ordu zurückerwartet. Zum Abschied schenkte er mir seinen Sattel, der mit Silber verziert war. Er ging von uns, ohne von meiner Mutter die erwartete Antwort erhalten zu haben.

Der Frühling ging unmerklich in den Sommer über, der in diesem Jahr der Ratte (1192) sehr kühl war. Es regnete fast ununterbrochen und die Steppe verwandelte sich in einen Sumpf.

Von der Welt außerhalb unseres Ordu hörten wir fast nichts, da nur wenige Boten im Schlamm des Sommers unterwegs waren. Wir hörten nur von einem Überfall auf ein Lager der Dschurkin. Wir konnten aber nicht herausbekommen, wessen Lager überfallen worden war. Mukali hatte versprochen, im Sommer wiederzukommen, aber er kam nicht und so begannen Mutter und ich zu fürchten, dass sein Lager vernichtet worden war. Ich beruhigte sie mit den Worten, dass das Reisen während der unablässigen Regenfälle und der Überschwemmung der Flüsse nicht möglich war.

Der Sommer flog vorüber wie ein Falke, der Beute erspäht hat. Sobald der Boden trocken war und das Gras sich aufgerichtet hatte, setzte der erste Frost ein. Im neunten Mond hatten wir den ersten Schneesturm, im zehnten Mond lag der Schnee so hoch wie noch nie. Gerade noch rechtzeitig hatten wir das Herbstlager erreicht und unsere Vorräte für den langen Winter vorbereitet.

In diesem Jahr überwinterte ein chinesischer Händler in unserem Ordu. Der frühe Schnee hatte ihn und seine Karawane überrascht, als er vom Lager des Khan nach Süden ziehen wollte. Bis zum ersten Schnee hatte er mit seinen Begleitern die Grenze der Gobi erreichen wollen. Ich half ihm, die Lastkamele zu entladen. Meine Mutter zeigte sich den Chinesen gegenüber gastfreundlich und ließ sie in Kökschus Jurte schlafen, die wir innerhalb einer Stunde in dichtestem Schneetreiben errichtet hatten.

Der Chin war umsichtig genug, für unsere Hilfe großzügig zu bezahlen. Er schenkte uns ein Teegeschirr mit zehn gleichen Tassen. Ich wusste zwar nicht, was wir mit so vielen Trinkschalen anfangen sollten, aber wir nahmen sein Geschenk an. Ich fragte den Chin, der unsere Sprache leidlich gut sprach, nach der großen Zahl der Tassen, die alle gleich aussahen und er erklärte mir, dass das Geschirr in einer Manufaktur hergestellt wurde. Und er erzählte mir noch viele andere erstaunliche Dinge aus Chin. Dass die Chin mehrmals im Mond badeten und ihren Körper mit Duftwasser einrieben, um nicht nach sich selbst zu riechen. Dass die Chin nicht auf dem Boden schliefen, sondern auf Holzgestellen und weichen Matratzen. Dass die Chin Krankheiten mit Nadeln heilen konnten, die sie in die Haut des Kranken bohrten. Dass das Reich Chin in verschiedene Provinzen aufgeteilt war, von denen jede einzelne größer war als der gesamte Mongol Ulus, von dem der Khan träumte. Und dass das riesige Reich von einem Kaiser in Zhongdu beherrscht wurde, der sich Sohn des Himmels nannte. Und dass dieser mächtige Kaiser über mehr Beamte verfügte, als das Volk der Mongol Menschen zählte. Ich war beeindruckt.

Dem Chin schmeichelte mein Wissensdurst. Er bezeichnete mich als einen Schwamm, der alles Wissen in sich aufsaugt. Als ich ihn fragte, was ein Schwamm sei, lachte er. Als er mir zeigte, wie man mit den hölzernen Essstäbchen aus Chin umging, fragte ich: »Warum isst man mit Stäbchen, wenn das Fleisch doch herunterfällt, wenn man es nicht vorher klein schneidet?« Als er mir eine Schriftrolle zeigte, die über und über mit Strichen und Punkten bedeckt war, fragte ich: »Wozu muss man lesen und schreiben können, wenn man keine Bücher besitzt?« Aber als er begann, mir ein paar Worte seiner Sprache beizubringen, fragte ich ihn nicht, wozu ich sie lernen sollte. Ich wusste es. Ich wollte nach Chin reisen. Ich wollte mir all das ansehen, von dem der Händler mir erzählt hatte. Irgendwann.

Den ganzen Winter über ritt ich zur Jagd, wenn Schnee und Kälte es zuließen. Der Chin-Händler tauschte seine gesamten Waren gegen schöne Pelze ein. Ich schleppte ihm Dutzende von Hermelin- und Fuchspelzen an, die im zweiten und dritten Wintermond besonders dicht und schimmernd waren, und erhielt dafür so exotische Dinge wie ein Schreibset, bestehend aus einem Pinsel mit langen Marderhaaren, einem Tintenfass, einem schwarzen Tintenstein und einer Rolle Reispapier. Ich konnte zwar nicht schreiben, aber ich wollte den Pinsel und das Papier besitzen. Außerdem tauschte ich mehrere Ballen Seidenstoff ein, damit meine Mutter uns neue Deels daraus fertigen konnte. Für meine Mutter erwarb ich einen großen Kupferkessel, schwarzes Schminkpulver für die Augen und einen Kamm aus Elefantenzahn. Ich musste den Händler mit großen Augen angesehen haben, als er mir beschrieb, wie ein Elefant aussah.

Noch vor der Schneeschmelze des Büffeljahres (1193) verabschiedeten sich der Chin-Händler und seine Begleiter und zogen mit ihrer Lastkarawane weiter nach Süden. Ich wäre gerne ein Stück mit ihnen geritten, denn die geheimnisvollen Worte des Händlers hatten mich neugierig gemacht. Auf Chin. Und auf alle Länder jenseits des Horizonts.

Der Sommer war lang und trocken und heiß. Die Pferde und Yaks gediehen prächtig. Die Schafe und Ziegen weideten schnell das trockene Gras ab, sodass wir in diesem Jahr früh ins Herbstlager umzogen, wo wir nur zwei Monde blieben, um erneut weiterzuziehen. Das Winterlager schlugen wir weit im Süden auf und hofften auf einen milderen Winter als im letzten Jahr. Meine Mutter und ich bereiteten uns auf eine lange Schneezeit vor, sammelten Dung und Heu, schlugen Airag und Arkhi, bauten einen Pferch für die kleinen Tiere und schlugen Kökschus Jurte auf, um in den kältesten Schneenächten die Lämmer und Zicklein dort unterzubringen.

Trotz aller Vorbereitungen wollte der Winter noch nicht kommen. Im elften Mond hatte es noch immer nicht geschneit. Es war zwar so kalt, dass ich meine neue Dacha aus Wolfspelz über die seidene Deel zog und mir auch meine Malgaj aufsetzte, aber es war nicht Winter.

Kurz vor Tsagaan Sar kam die Kälte dann mit aller Macht. Über Nacht begann es in dicken Flocken zu schneien und hörte bis zum Ende des ersten Mondes nicht mehr auf. Es war nicht so kalt wie in den Wintern zuvor, aber dafür lag der Schnee so hoch, dass die Pferde und die Yaks tief nach gefrorenem Gras graben mussten.

Im zweiten Mond stand der Schnee so hoch, dass unsere beiden Jurten nur noch aus einem Dach zu bestehen schienen. Immer wieder musste ich den Schnee vom Filz herunterfegen, obwohl er den Innenraum gut isolierte. Aber die Schneelast war zu schwer und drohte das leichtgebaute Holzgestell der Jurte zu zerdrücken.

Die Katastrophe begann im dritten Mond und endete erst kurz vor dem Frühlingsfest. Die ersten Frühlingsstürme brachten den Sand der Gobi bis zu uns und färbten den Schnee vor unserer Jurte rostrot. Ich wusste, was das bedeutete. Es würde ein warmer Frühling werden, die Schneemassen schmolzen innerhalb von wenigen Tagen, die Flüsse schüttelten ihre Eisschollen ab wie ein Wolf seinen eisbedeckten Pelz. Für drei Wochen war die Steppe überschwemmt und das Schmelzwasser sammelte sich in den Senken, sodass unser Ordu von einer in der Sonne glitzernden Seenlandschaft umgeben war. Es war ein herrlicher Anblick.

Ich genoss den Anblick hungrig, denn durch die überflutete Steppe konnte ich nicht zur Jagd reiten. Die Murmeltiere waren in ihren Höhlen ertrunken, die größeren Tiere hatten sich rechtzeitig auf die für mich unerreichbaren Berge geflüchtet. Wir schlachteten nur wenige Tiere und ernährten uns den ganzen Frühling über von Aaruul, Airag, Trockenkäse und Joghurt.

Nach dem Frühlingsfest dieses Tigerjahres (1194) ritten Jesutai und ich in die Steppe, wo in einiger Entfernung vom Ordu eine Herde Wildpferde gesichtet worden war. Wir waren mit der Urga bewaffnet, mit der wir täglich in der eigenen Herde geübt hatten und hatten genug Proviant für mehrere Tage in den Satteltaschen.

»Ich will den weißen Hengst!«, rief Jesutai, auf einem Stück Dörrfleisch herumkauend. Mein Anda hatte sich wie immer für des stärkste und größte Tier der Herde entschieden.

Ich sagte nichts und traf meine Wahl im Stillen. Ich kaute auf einem steinharten Stückchen trockenen Käses herum, als ich wieder in den Sattel stieg und meine Urga entrollte.

»Und du? Welches Pferd willst du fangen?«, fragte Jesutai misstrauisch, weil ich ihn nicht in meine Pläne eingeweiht hatte.

»Warte es ab!«

»Wenn du mir den Weißen abjagst, verprügele ich dich!«, drohte mir mein Anda mit der Faust. Er lächelte nicht zu seinen Worten.

»Den Weißen kannst du haben, Jesutai. Ich will ihn nicht. Ich will Krieger werden. Kein toter Krieger.«

Jesutai sah mich erstaunt an. Von meinen Plänen hatte ich ihm noch nichts erzählt. »Ein weißer Hengst bringt Glück«, sagte er, »auch im Kampf.«

»In einer Weißmondnacht bringt er den Tod, Jesutai. Ich bin doch nicht wahnsinnig. Fang du ihn dir!«

Mit dieser Bemerkung hatte ich Jesutai vollends verunsichert und er sah von mir zum weißen Hengst und wieder zurück. Und nur aus Trotz sagte er: »Ich will ihn trotzdem!«

Ich gab meinem Pferd die Peitsche. Jesutai folgte mir und überholte mich nach wenigen Pferdelängen. Er hielt direkt auf den Weißen zu und schwang seine Urga schon, bevor er ihn überhaupt erreicht hatte.

Die Wildpferde stoben auseinander wie eine Lämmerherde vor dem hungrigen Wolf. Ich hatte mich für einen Hengst entschieden, dessen Fell die Farbe eines rostigen Schwertes hatte. Seine wohlgenährten Flanken waren kräftig, der Rücken gerade, die Hufe leicht. Er war zwar nicht der Leithengst, dafür hatten viele Fohlen der Herde seine feurig rote Farbe. Ein herrliches Reittier!

Ich duckte mich tief über die Mähne meines Pferdes und hielt die Urga locker in der rechten Hand, während ich mit der linken die Zügel hielt. Das Feuerpferd wich mir aus und galoppierte in die Nachmittagssonne hinein, sodass ich ihn vor mir kaum erkennen konnte. Das Gras war so trocken, dass er eine feine Staubwolke aufwirbelte. Ich kniff die Augen zusammen und nahm die Verfolgung auf.

Das Feuerpferd war schnell, denn er hatte keinen Reiter zu tragen. Aber er hatte nicht mit meinem Willen gerechnet. Irgendwann blieb er stehen und sah sich um, ob ich aufgegeben hatte. Ich lächelte. Ich zügelte mein Pferd und näherte mich im Schritttempo. Gerade als ich die Urga über dem Hals des Roten schwang, um ihn einzufangen, senkte er den Kopf und stürmte los. Ich galoppierte hinter ihm her. Wir kehrten zur Herde zurück.

Vor mir sah ich Jesutai die Urga über dem Hals des Weißen schwingen. Der Hengst bäumte sich auf und biss wild um sich. Jesutai fluchte und rollte die Urga wieder auf. Dann setzte auch er wieder zur Verfolgung seiner Beute an.

Wieder war das Feuerpferd vor mir stehen geblieben und sah mich erwartungsvoll an. Er war ein schlauer Kerl und ich würde einen ganzen Tag opfern, um ihn zu bekommen. Ich wusste, dass er wusste, dass er schneller war als mein Pferd mit mir im Sattel. Ich konnte ihn also nicht hetzen und dann müde ins Ordu führen.

Ich stieg vom Pferd und setzte mich ins Gras. Ich richtete meinen Blick auf die Linie zwischen der grünen Erde und dem blauen Himmel und knabberte an einem Stück Käse herum. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie der Rote mich beobachtete. Als ich mich nicht bewegte und ihn auch keiner Beachtung würdigte, begann er zu grasen. Aber immer wieder hob er den Kopf, um zu sehen, was ich tat. Ich grinste. Ein misstrauisches Pferd!

Als ich die Grashalme bis zum Horizont gezählt hatte, ließ ich mich auf die warme Erde sinken und starrte die Wolken an. Und dann begann ich dem Wildpferd von meinen Plänen zu erzählen. Ich hatte viele Pläne. Zunächst erzählte ich meinem künftigen Reittier, dass ich es am nächsten Tag in unserem Ordu einreiten wollte. Ich beruhigte das Tier, indem ich ihm klar machte, dass ich mit meinen Pferden sehr sorgsam umging und wenn möglich die Peitsche nicht benutzte. Ich erzählte ihm von dem saftigen Heu, das ich im Herbst schneiden und wie leicht der Sattel war, den ich ihm auflegen würde.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie das Feuerpferd nähergekommen war, um den seltsamen Menschen anzusehen, der im Gras lag und in die Zeit hineinblickte. Der Hengst schnaubte, schüttelte die Mähne, als wollte er nicht glauben, was er sah und setzte das Grasen fort.

Jesutai stieß einen Triumphschrei aus. Offenbar hatte er den Weißen eingefangen. Jetzt würde er ihn mit einem Pflock und einem Seil festbinden und dann zu mir herüberkommen.

»Du hast wirklich Glück, dass du mich zu deinem Herrn haben wirst«, erklärte ich dem Feuerpferd. »Jesutai nennt sein Pferd nicht seinen Freund.« Dann erzählte ich dem Hengst von den Schlachten, die ich schlagen und von den Naadam-Pferderennen, die ich gewinnen wollte. Die Erwähnung des Naadam interessierte den Roten, denn er war noch näher gekommen. Vielleicht wollte er auch nur sehen, wovon ich abbiss.

Ich hörte das Hufgetrappel, als Jesutai sich näherte. In weitem Bogen galoppierte er um mich und meinen Roten herum. »Was tust du, Temur? Schläfst du?«

»Verschwinde!«, rief ich ihm zu. »Du störst! Wir unterhalten uns!«

»Du bist verrückt, Temur!« Lachend ritt Jesutai zurück.

Der Rote graste noch an der gleichen Stelle. Er bemühte sich um einen desinteressierten Gesichtsausdruck aber ich wusste, dass er zu gerne den Käse probiert hätte. Ich richtete mich auf, pfiff meinen Hengst heran und gab ihm zur Belohnung ein kleines Stück. Dann schickte ich ihn wieder fort. Er trabte einige Schritte und begann zu grasen. Das Feuerpferd beobachtete uns.

»Das kannst du auch haben, mein Schöner«, sagte ich. »Du musst nur herkommen und es dir abholen.«

Ich hatte keinen Hunger, aber ich biss erneut in den Käse.

Das Feuerpferd kam zwei Schritte näher. Nicht mehr und nicht weniger.

Er täuschte vor, mehr am Gras interessiert zu sein als an mir oder meinem Käse, aber er fraß nicht, sondern beobachtete mich.

»Und wenn du dich auf mich einlässt, dann muss dir klar sein, dass ich die Regeln mache, nicht du.«

Jetzt sah ich den Hengst zum ersten Mal direkt an. Als er meinen Blick erwiderte, bohrte ich meine Gedanken tief in seine Seele. Kökschu hatte mich diesen Blick gelehrt.

Das Wildpferd kam drei weitere Schritte näher und war jetzt nur noch eine Pferdelänge von mir entfernt. Er zögerte. Er ahnte wohl, dass er seine Freiheit für ein Stück Käse aufs Spiel setzte. Ich wollte ihm seine Entscheidung erleichtern und hielt ihm den Käse in der offenen Hand hin. Die Urga-Schlinge lag unsichtbar im tiefen Gras. Bedächtig näherte er sich dem Käse in meiner Hand.

Der erste Huf stand in der Schlinge, als die Lippen des Pferdes meine Hand netzten. Ich zog die Hand etwas zurück, sodass das Feuerpferd ihr folgen musste, wenn er erneut den Käse kosten wollte. Dann war auch der zweite Huf in der Schlinge. Ich hielt dem Hengst meine Hand mit dem Käse hin, mit der anderen umfasste ich die Urga, die sich unmerklich zuzog. Er nahm sich das ganze Stück und begann es mit seinen Zähnen zu zermahlen. Ich strich ihm liebevoll über die Mähne und klopfte beruhigend seinen Hals.

»Ich werde dir nicht wehtun! Reg dich nur nicht zu sehr auf, wenn du dich gleich erschreckst. Es wird bald vorbei sein!«, flüsterte ich ihm ins Ohr und zog vorsichtig die Urga weiter zu. Mit der rechten Hand griff ich in die Mähne.

Dann zog ich mit einem Ruck die Schlinge zu und fesselte die beiden Vorderbeine des Pferdes. Er sah mich überrascht an und versuchte einen Schritt zu machen. Dabei stolperte er fast. Ich nutzte seine Unsicherheit und schwang mich auf seinen Rücken. Das lange Ende des Seils legte ich in einer Schlaufe um seinen Hals.

Er dachte nicht daran, sich kampflos in sein Schicksal zu fügen und stieg in den Himmel, um mich abzuwerfen. Ich hielt mich auf seinem Rücken und krallte beide Hände in seine dichte Mähne. Er begann zu springen und sich wie wild zu drehen, aber ich saß wie festgenagelt auf seinem Rücken. Die Schlinge war nicht weit genug zugezogen, um ihn in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken und schnell konnte er ein Bein befreien. Er begann zu galoppieren, stehen zu bleiben und Sprünge zu machen. Aber er wurde mich nicht los. Stattdessen zog ich die Schlinge zu und zerrte am Seil. Damit zog ich sein linkes Vorderbein bis zum Bauch hoch und das Feuerpferd begann nun auf drei Beinen zu hüpfen wie eine Springantilope.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass mir dieses Spiel Spaß bringen würde. Wohl eine halbe Stunde tobten wir über die weite Ebene, bis er sich meinem Willen unterwarf. Dann ließ ich sein Bein zurück auf den Boden und wir trabten zu Jesutai hinüber, der mein Pferd inzwischen eingefangen hatte.

Der Weiße war angepflockt und graste, als ob nichts passiert wäre. Jesutai saß im Gras und beobachtete mich. »Ich hätte nicht gedacht, dass du ...«

»Ich wollte ihn und er wollte mich«, unterbrach ich Jesutai in seiner Einschätzung der Situation. »Ich musste ihn nur von seinem eigenen Wollen überzeugen.«

»Hast du ihn verzaubert?«, fragte Jesutai.

»Ich habe ihm seine Möglichkeiten erläutert. Und ich habe ihm erzählt, was passiert, wenn er sich mit mir anlegt.«

Jesutai erhob sich kopfschüttelnd. »Du bist wirklich verrückt!«

»Ich habe Bogurtschi zwei Mal gefragt, ob ich richtig gehört habe«, sagte Dschingis Khan, als Mukali und ich seine Jurte betraten. »Ich wollte es nicht glauben, als er sagte, Mukali sei gekommen, um mich zu sprechen.«

Noch während der Schneeschmelze des Hasenjahres (1195) war Mukali in unser Ordu gekommen. Trotz des sumpfigen Geländes hatte er den weiten Weg auf sich genommen. Ich hatte mich sehr gefreut, ihn nach fast zwei Jahren wiederzusehen.

Unter dem Vorwand, für das Wohlergehen seiner Gefolgsleute zu sorgen und ihnen im Notfall sofort zu Hilfe eilen zu können, hatte der Khan angeordnet, dass ihm jeder Klan regelmäßig über die bemerkenswerten Ereignisse zu berichten hatte. Diese Forderung war den Fürsten zunächst wie eine Bevormundung vorgekommen, aber der Khan bewirtete und beschenkte die Boten derart großzügig, dass sich die Männer bald darum prügelten, das Lager des Khan aufsuchen zu dürfen, um ihm den nächsten Lagerumzug anzukündigen, gute Weiden oder die Ankunft von Handelskarawanen aus Chin zu melden. Das gab den Männern, die seit Monden keinen Kampf mehr gefochten hatten, Gelegenheit, das heimatliche Ordu zu verlassen, die Schnelligkeit ihrer Pferde mit der anderer Krieger zu messen, die Schärfe ihrer Schwertklingen zu vergleichen, mit Freunden zu trinken oder mit anderen als den eigenen Frauen zu schlafen. Mukali war erfreut, als ich ihn bat, ihn ins Ordu des Khan begleiten zu dürfen.

Mukali verneigte sich vor Dschingis Khan und wartete vergeblich auf sein Zeichen, sich setzen zu dürfen. »Ihr habt richtig gehört, mein Khan. Ich bin hier.«

»Du bist mutig, Mukali!«

»Nicht mutiger als Ihr, mein Khan. Ihr habt Euch bei jener Prügelei vor drei Jahren die Dschurkin zu Feinden gemacht. Das war immerhin die Hälfte Eurer Verwandtschaft ...«

Den Funkenflug zwischen Dschingis Khan und Mukali konnte ich fast sehen. »Du bist Dschurkin, Mukali. Bist du mein Feind?«, fragte der Khan.

Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Bogurtschis Hand zum Schwertgriff fuhr. Mukalis Blick war auf den Khan gerichtet, der wie ein gereizter Schneeleopard in der Jurte herumlief. »Nein, mein Khan. Ich bin nicht Euer Feind.«

»Aber mein Freund auch nicht, nicht wahr?«

»Wir sind verwandt. Meine Freunde suche ich mir selbst aus.«

Dschingis Khan war stehen geblieben auf seiner Wanderung durch die Jurte. Bogurtschi hatte den Schwertgriff nicht losgelassen und wartete auf ein Zeichen seines Anda. Der Khan stellte sich direkt vor Mukali und sah ihm in die Augen. »Und wann wirst du deine Freunde wählen?«

»Schon bald, mein Khan«, sagte Mukali mit einem Lächeln. »Wenn wir einige Dinge zwischen uns besprochen haben.«

Der Khan kehrte zu seinem geschnitzten Sessel zurück und nahm auf den Leopardenfellen Platz. »Haben wir denn etwas zu besprechen, Mukali?«

»Ja, haben wir«, sagte Mukali und setzte sich auf den Filzteppich vor dem Khan, ohne auf die Erlaubnis hierzu zu warten. Ich hockte mich neben ihn. Mukali berichtete dem Khan von einer Gesandtschaft aus Chin, die vor wenigen Wochen durch seine Weidegründe gezogen waren, um Togrul Khan von den Kereit aufzusuchen. »Die Gesandtschaft hielt sich nicht lange bei Togrul Khan auf und ist bereits auf dem Rückweg. Aber die Pferde der Chin kommen wegen des sumpfigen Geländes nicht schnell voran. Wir könnten sie abfangen.«

Der Khan nickte nachdenklich. »Um was zu tun?«

»Um sie hierher in Euer Ordu zu bringen, mein Khan.«

Der Khan schien zu wissen, was Mukali vorhatte, bevor er seinen Plan in Worte gegossen hatte. »Ich nehme nicht an, dass du mir rätst, den chinesischen Gesandten zu entführen. Ich hoffe doch, dass ich ihn einladen soll, mich zu besuchen.«

»Ich spreche die Sprache der Diplomatie nicht besonders gut.«

»Das musst du nicht, solange du die Sprache des Schwertes beherrscht.« Er gab Bogurtschi ein Zeichen. »Dschelme soll Boten zu den Chin senden. Der Gesandte soll hergebracht werden.«

»Und wenn er den weiten Weg nicht auf sich nehmen will?«

»Er wird wollen, Bogurtschi. Er sammelt Informationen über uns Wilde nördlich der Großen Mauer, die er seinem Himmelssohn überbringen kann. Er wird kommen.«

Der Khan schenkte eine silberne Trinkschale mit Airag voll, während Bogurtschi die Jurte verließ, um Dschelme zu suchen. Dann reichte er die Schale an Mukali weiter, der einen Schluck trank und sie dann an mich weiterreichte. »Was haben die Chin deiner Meinung nach mit Togrul Khan besprochen?«

»Die Tatar unter Fürst Megudschin haben sich gegen Chin erhoben«, sagte Mukali in einer Tonlage, als wäre er sicher, dass der Khan davon gehört hatte. »Der Himmelssohn ist mit seinen Verbündeten unzufrieden. Die Tatar fielen in Chin ein, um Beute zu machen.«

Falls der Khan über den Beutezug der Tatar überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. »Und?«

»Der Himmelssohn Zhang Zong hat beschlossen, dass die Tatar bestraft werden sollen. Fürst Megudschin hat dem chinesischen Gesandten wohl einige undiplomatische Worte an den Kopf geworfen. Ich glaube, dass die Gesandtschaft Togrul Khan um Unterstützung bitten soll. Die Tatar können den Chin auf ihren Pferden schneller ausweichen als die Chin vorrücken können. Togrul soll sie in die Arme der chinesischen Generäle treiben.«

Der Khan nickte nachdenklich. Mit seinen Gedanken war er schon drei Schritte weiter. »Die Tatar haben meinen Vater ermordet«, murmelte er. »Togrul Khan ist der Anda meines Vaters.«

Ich konnte fast hören, welche Gedanken in seinem Kopf hin und herflogen wie Schwalben auf der Jagd nach Mücken. Mukali saß höflich abwartend neben mir und trank einen Schluck Airag.

Als Bogurtschi und Dschelme das Zelt betraten, hatte Dschingis Khan den Feldzug fertig geplant. »Dschelme, du sendest heute noch einen Boten an Togrul Khan. Ich werde dem Anda meines Vaters meine Hilfe bei dem bevorstehenden Feldzug gegen die Tatar anbieten.« Dschelme nickte. »Dann wirst du Boten zu den mir ergebenen Bekis senden, die ihre Ordus in der Nähe des Tatarenlandes aufgeschlagen haben. Sie sollen ihre Sommerlager unauffällig möglichst weit in den Osten verlegen. Ich will regelmäßige Berichte durch Pfeilboten über die Lagerplätze und die Kampfstärke der Tatar.« Dann wandte sich der Khan Mukali zu. »In welche Richtung wirst du dein Sommerlager verlegen, Cousin Mukali?«

Mukali grinste über die vertrauliche Anrede des Khan. »Im Osten gibt es gute Weiden, habe ich gehört. Ich werde so weit nach Osten ziehen, bis meine Pferde tatarisches Gras fressen.«

Der Sohn des Himmels und der Erde

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