Читать книгу Der Sohn des Himmels und der Erde - Barbara Goldstein - Страница 8

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Durch einen Boten des Khan erfuhr Mukali während seines Aufenthaltes in unserem Lager, dass General Wan Yen Siang, der Oberkommandierende der chinesischen Truppen am Liao Ho, Dschingis Khan um Unterstützung gegen die Tatar gebeten hatte. Der Khan sei zufrieden. Wan Yen Siang hatte die Tatar unter Megudschin Beki überrannt und ihre Ordus niedergebannt. Megudschin war mit seinen Kriegern geflohen.

Der Pfeilbote hatte Mukali und Toda auf der Weide getroffen, wo sie die Pferde aussuchten, die Jesutai und ich während des Naadam-Rennens reiten sollten. »Mukali, ich soll Euch vom Khan noch ausrichten, dass er Euch in sein Ordu bittet. Togrul Khan ist bereits dort eingetroffen«, sagte der Bote zu Mukali.

»Hat der Khan auch eine Nachricht für mich?«, fragte Toda, der den Worten, die der Bote auswendig gelernt hatte, zugehört hatte.

»Nein, Fürst Toda. Der Khan gab mir keine Nachricht für Euch. Er bittet Mukali an seine Seite.«

»Er bittet?« Toda glaubte sich verhört zu haben. »Das ist doch sonst nicht seine Art.«

»Ich habe ihm bisher keinen Treueid geleistet«, erklärte Mukali.

»Und warum tanzt Ihr nun zu seiner Musik?«, fragte Toda.

»Weil mir diese Musik gefällt!«

Mukali verließ uns noch vor dem Naadam. Noch während er eilig sein Pferd sattelte, versprach er meiner Mutter, sie zu holen, sobald er zurückkam. Sie stimmte der Heirat zu. Ich war erleichtert. Endlich würde ich einen Vater bekommen!

Als wir das Herbstlager errichtet hatten, hörten wir von Händlern, dass Dschingis Khan und Togrul Khan gegen die Tatar gezogen waren. Fürst Megudschin war im Gefecht getötet worden. Dann trafen sich die beiden verbündeten Khane mit Wan Yen Siang, der im Namen des Himmelssohnes in Zhongdu dem Kereit Khan den chinesischen Titel Wang, König, verlieh. Dschingis Khan erhielt ebenfalls einen chinesischen Titel. Er durfte sich fortan Zhao Tao - Bevollmächtigter zur Sicherung des Friedens an der Grenze - nennen.

Ich konnte mir vorstellen, wie amüsiert der Khan über diesen aus seiner Sicht nichtigen Titel war. Denn viel wichtiger war ihm, dass die Mongol zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder vereint, unter seinem Befehl, in den Kampf gezogen waren und einen Sieg errungen hatten. Die Rache an den Tatar war dabei wohl nur ein befriedigender Anlass gewesen.

General Wan Yen Siang kehrte nach Zhongdu zurück und überließ das Schicksal der Tatar Dschingis Khan. Als Dschingis Khan im Sommer des Drachenjahres (1196) in sein Ordu am Onon zurückkehrte, erwartete ihn eine unangenehme Überraschung. Sein nur von wenigen Kriegern bewachtes Lager war wenige Wochen zuvor von Satscha Beki überfallen worden. Etliche Männer waren im Kampf gegen die Dschurkin gefallen, die reiche Beute in ihr Ordu geschleppt hatten.

Ich wartete vergeblich auf Mukalis Rückkehr. Dann hörte ich von einem Pfeilboten, der auf dem Weg in den Süden in unserem Ordu übernachtete, dass Mukali sich im Lager des Khan aufhielt.

»Seid Ihr sicher?«, fragte ich den Boten, der leicht angetrunken aus Todas Jurte gekommen war.

»Ganz sicher, Junge. Ich kenne Mukali, denn er hat meine Tausendschaft während des Feldzuges angeführt. Und wenn du eine Schale Arkhi auftreiben kannst, erzähle ich dir auch von der Hochzeit mit der Tatar-Frau. Sogar der Khan war zu Gast.«

Mukali hatte geheiratet? Ich war wie vom Blitz getroffen. Der Pfeilbote war nüchtern genug, um meine Reaktion zu sehen.

»Mach dir nichts draus, Junge. Sie ist hübsch und noch dazu von hohem Rang. Sie hat vorher Fürst Megudschin gehört, glaube ich. Ist ja auch egal. Jedenfalls werden die beiden viel Spaß miteinander haben.«

Ich war so empört, dass ich noch in jener Nacht aufbrach. Ich wollte Mukali an sein Versprechen erinnern.

Ich traf an dem Tag im Ordu des Khan ein, als Bogurtschi mit seinem Gefangenen Satscha Beki zurückkehrte. Ich zügelte Gal und gab den Weg zwischen den Jurten frei, als der Noyan mit seiner Eskorte an mir vorbeitrabte.

Ich folgte den Reitern bis zum Zelt des Khan in der Mitte des Lagers. Wenn überhaupt, dann würde ich Mukali hier finden. Tatsächlich trat er hinter Dschingis Khan aus der Jurte, gefolgt von Dschelme und Subotai, als Bogurtschi vom Pferd sprang.

»Wie ich sehe, war die Jagd erfolgreich, Bogurtschi.«

Der Noyan nickte. »Es war leichter als Murmeltiere jagen.«

Satscha wurde vor den Khan geführt, der seinem Cousin und ehemaligem Gefolgsmann in die Augen sah. Der Dschurkin wandte den Blick ab.

»An deinen Treueschwur muss ich dich wohl nicht erinnern, da du ihn bereits gebrochen hast!«, sagte er zu Satscha, der keine Reaktion zeigte. »Du erinnerst dich sicher noch, was du mir vor fünf Jahren geschworen hast?« Satscha nickte. »Du und Altan und Kuschar und die anderen, ihr habt mir gesagt, dass ihr mich zum Khan machen wollt. Ihr habt geschworen, mir als Khan in den Krieg zu folgen. Ihr wolltet eure Beute mit mir teilen. Ihr wolltet mit mir jagen.« Satscha schloss die Augen. »Es war nicht die Rede davon, einen Kriegszug eigenmächtig abzubrechen und mir in den Rücken zu fallen, indem mein Ordu geplündert und meine Frauen vergewaltigt werden.«

Die Stimme des Khan war sehr leise, sodass die Krieger hinter mir ihn schon nicht mehr verstehen konnten. »Was hat er gesagt?«, hörte ich hinter mir. »Ruhe!«, flüsterte ein anderer.

Dschingis Khan trat ganz nahe an seinen Cousin heran, als wollte er ihn zum letzten Mal beriechen. »Du weißt, wie der Schwur weitergeht?« Er flüsterte die Worte Satscha fast ins Ohr. »Sag mir, was du vor fünf Jahren geschworen hast, Satscha. Du hast dich nie an deinen Schwur gehalten. Sag es mir, denn ich habe es vergessen!«

»Wenn wir uns deinem Befehl nicht unterwerfen, dann entreiße uns unseren Besitz und vernichte uns, dann werfe unsere Köpfe in die Steppe«, zitierte Satscha.

»Ich habe als Khan deinen Treueschwur akzeptiert. Ich habe dir als meinem Gefolgsmann gegenüber eine Verpflichtung. Nicht wahr, Satscha?«

»Ja«, krächzte der Fürst. »Ja, Ihr habt eine Verpflichtung mir gegenüber, mein Khan.« Dann kniete er nieder und verneigte sich, als wollte er dem Khan durch Koutau huldigen wie dem Himmelssohn in Zhongdu.

Dschingis Khan wandte sich zu Mukali um und gab ihm ein Zeichen. Mukali war sehr blass. Er wusste wohl, warum der Khan gerade ihn ausgewählt hatte. Satscha sah ihn an, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen. Mukali trat hinter ihn und zog sein Schwert.

Er brauchte nur einen einzigen Schlag. Satschas Kopf rollte dem Khan vor die Füße.

Gerade noch rechtzeitig erreichte ich eine ruhige Stelle zwischen zwei Jurten, wo mich niemand sehen konnte. Ich hustete und würgte minutenlang, bis ich wieder Luft bekam. Dann sank ich ins Gras und starrte in den blauen Himmel hinauf. Jeden Augenblick erwartete ich, Tengers Unwillen in Form von Blitz und Donner zu sehen, aber nichts geschah. Auch die Erde bebte nicht, um den Khan in einem feurigen Inferno in sich aufzunehmen. Als ich mich aufsetzte, sah ich wie Mukali einen blutigen, haarigen Gegenstand wegtrug, um ihn in die Steppe zu werfen. Satschas Lippen waren verzerrt, als wollte er noch etwas sagen.

Als Mukali zurückkehrte, sah er mich hinter der Jurte des Khan auf dem Boden hocken. Er erkannte mich nicht gleich, aber dann kam er doch zur mir herüber. »Temur! Was bei allen Geistern tust du hier?«

»Ich wollte Euch besuchen. Und Euch an Euren Schwur erinnern.«

»Du hast eben zugesehen?«, fragte er und setzte sich neben mich. »Satscha war ein Verräter. Der Khan duldet keinen Verrat. Weder bei den Feinden noch in der eigenen Familie.«

»Wenn er jeden umbringt, der ihm als Khan gefährlich werden kann, hat er viel zu tun«, sagte ich. »Altan, Kuschar, Buriboko, Toda, Ihr selbst ...«

»Ich kann ihm vielleicht gefährlich werden, Temur, aber ich habe ihm den Eid geschworen.«

»Ich habe davon gehört.«

»Mein Cousin Buriboko beschränkt sich darauf, der beste Ringer im Mongol Ulus zu sein und seine Gegner in die Knie zu zwingen. Aber er würde sich nie mit Dschingis Khan anlegen. Und Toda spielt seit Jahren den Taubstummen.« Er schwieg für einen Augenblick. »Welchen Schwur meinst du, Temur?«, fragte er, als Bogurtschi zu uns trat und Mukali zum Khan rief. Mukali erhob sich. »Warte in meiner Jurte auf mich, Temur. Ich werde bald kommen.«

Ich wartete bis zum Morgengrauen. Als er endlich ins Zelt torkelte, war ich längst eingeschlafen. Mukali und Bogurtschi, der ihn zu seiner Jurte gebracht hatte, machten einen furchtbaren Lärm, als sie lachend zusammen auf Mukalis Schlafmatte fielen. Ich entzündete an der glühenden Asche den Docht einer Butterlampe und sah die beiden Betrunkenen an.

»Wir haben ein wenig Arkhi getrunken«, erklärte Mukali.

»Das sehe ich«, sagte ich. »Aber es war wohl mehr als nur ein wenig

»Temudschin war noch betrunkener als wir. Wir haben ihn ins Bett gebracht«, verteidigte sich Mukali. Als ich nicht antwortete, sagte er: »Er hat geweint über den Tod seines Cousins Satscha.«

Als Mukali hinter sich griff und einen Schlauch voll Arkhi zu sich heranzog, um seine Trinkschale damit zu füllen, nahm ich ihm Schlauch und Schale aus der Hand. »Ihr solltet jetzt schlafen, Mukali!«, befahl ich und bemühte mich um einen Ton, der keine Diskussionen aufwarf.

Bogurtschi begann zu lachen. »Wirst du wohl gehorchen, Noyan? Dein Sohn befiehlt dich ins Bett.« Mukali fiel in das Lachen ein.

»Noyan?«, fragte ich. Wollte Bogurtschi mich verspotten?

»Der Khan aller Mongol ...«, begann Bogurtschi.

»... ob sie nun von ihm gehört haben oder nicht ...«, unterbrach Mukali.

»... der Herrscher der Steppe«, fuhr Bogurtschi fort.

»... oder eines winzigen Teiles derselben ...«, ergänzte Mukali.

»... genannt Dschingis Khan, hat Mukali vor einer Woche zum Noyan ernannt und ihm ein Kommando übertragen«, erklärte Bogurtschi.

»Und weil er gerade einmal guter Laune war, hat er Bogurtschi auch gleich zu seinem Adjutanten gemacht. Weiß der Himmel, warum!«, murmelte Mukali und griff erneut nach der Trinkschale.

»Ich weiß warum!«, sagte Bogurtschi. »Er wollte meine Erfolge ... meine erfolgreichen Eroberungen in fremden Betten und meine Angriffsformation zwischen den tatarischen Schlafdecken auszeichnen.« Die beiden Betrunkenen prusteten los. »Dabei hat der Khan selbst die meisten Siege im Stellungskrieg errungen!«

»Ihr beide solltet jetzt schlafen!«, befahl ich.

»Dein Junge hat keinen Respekt vor hohen militärischen Rängen, Mukali«, beschwerte sich Bogurtschi, als ich ihm auf die Beine half, um ihn zu seinem Zelt zu bringen.

Mukalis erstes Lebenszeichen am nächsten Tag war ein Stöhnen. Ich kniete mich neben ihn und reichte ihm eine Schale Airag, die er in einem Zug leerte. Dann ließ er sich auf das Lager zurücksinken und starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne, die durch den Dachkranz schien. »Wie spät ist es?«

»Mittag«, sagte ich.

Er erhob sich. »Koch uns was. Ich habe Hunger.«

»Kochen? Ich kann nicht kochen. Wo ist Eure ...«

»Dann lerne es, Temur! Krieger müssen kochen können, wie sollen sie sonst überleben?« Damit verschwand er, um nach den Pferden zu sehen. Als er zurückkehrte, hatte ich einen Topf aufgesetzt und begonnen, das Dörrfleisch aus meinen Satteltaschen in das kochende Wasser zu werfen.

»Nicht gerade ein Festmahl«, sagte er mit einem Blick in die Fleischbrühe. Dann setzte er sich neben mich und schenkte sich eine Schale Airag ein. »Du wolltest mich gestern an mein Versprechen erinnern, Temur.« Ich wartete auf weitere Erklärungen und rührte die Brühe um. »Ich werde es halten, mein Sohn. Aber jetzt noch nicht.«

Ich starrte ihn an. »Was meint Ihr mit jetzt noch nicht

»Du bist noch zu jung. Du bist doch erst zehn Jahre alt.«

»Zu jung wofür, Mukali?«

»Um Krieger zu werden.«

»Deswegen bin ich nicht hier. Ich bin gekommen, um Euch an Euer Versprechen meiner Mutter gegenüber zu erinnern. Ihr wolltet wiederkommen und sie heiraten.«

»Ich wollte kommen, Temur. Wir sind doch gerade erst vom Feldzug gegen die Tatar zurückgekommen ...«

»Stattdessen erzählte mir ein Bote von einer Hochzeit mit einer Tatar!«, unterbrach ich ihn. »Sogar Dschingis Khan sei zu Gast gewesen.«

»Ich habe doch nicht geheiratet«, begann er mit seiner Verteidigung, »sondern Bogurtschi. Temudschin hat ihm die Witwe des Fürsten Megudschin zur Frau gegeben.«

»Ihr seid also nicht verheiratet?«, fragte ich misstrauisch. »Und Ihr wollt meine Mutter immer noch heiraten?«

»Wenn sie mich noch will ...«

Der Khan hatte Mukali das große Versammlungszelt aus Brokatseide zur Verfügung gestellt, denn die Zahl der Gäste war groß und alle hätten in Mukalis Jurte unmöglich Platz gefunden. Meine Mutter thronte auf einem Sessel, als sei sie die Khatun.

Immer neue Gäste trafen ein und wurden von Mukali vor der Jurte begrüßt. Er reichte den Reitern eine Schale Airag, deren erste Tropfen den Geistern geopfert wurden. Erst wer die Schale geleert hatte, durfte absteigen und wurde von Mukali zu seinem Platz geführt. Ich war erstaunt, als Mukali die Fürsten Altan, Kuschar und Buriboko, Satschas Nachfolger als Anführer der Dschurkin, ins Zelt führte.

Immer wieder trafen Gäste ein und Mukali hatte vor der Jurte beide Hände voll zu tun, die Airag-Schalen auf die Pferde zu reichen und den Gästen beim Absteigen zu helfen. Durch den offenen Zelteingang sah ich die Ankunft des Khan und der Khatun, die von ihren Jurten herübergekommen waren. Mukali wollte vor dem Khan in die Knie sinken, doch Dschingis Khan verhinderte das und drückte ihn freundschaftlich an seine Brust, um ihn wie einen jüngeren Bruder zu begrüßen.

Ich saß nicht einmal eine Armlänge von meiner Mutter entfernt auf einem Kissen. Ich konnte ihre Unruhe spüren, obwohl ihr Körper unbeweglich auf dem Sitz ruhte. Dann stand Mukali mit dem Khan und der Khatun vor uns. Meine Mutter war sehr blass.

Sie verbeugte sich vor Dschingis Khan und er nickte ihr zu. Als sie sich aufgerichtet hatte, trat er auf sie zu und umarmte sie. »Ich wünsche dir viel Glück in der Ehe mit Mukali«, sagte er. »Du bist noch schöner geworden!« Dann warf der Khan einen Blick zu mir herüber und stutzte. Er hatte mich erkannt. »Dein Sohn?«

»Temur ist der ältere meiner beiden Söhne«, sagte meine Mutter.

Der Khan sah sich im Zelt um, wo der andere zu finden sei.

»Der andere ist tot«, sagte meine Mutter und sah ihm in die opalblauen Augen. Mit einem Wort des Bedauerns wollte sich der Khan umdrehen und sich zu seinem Platz begeben, damit die Feier beginnen konnte, aber meine Mutter war mit ihm noch nicht fertig: »Mein Sohn wurde ermordet.« Er hielt mitten in der Bewegung inne und starrte sie an. »Er wäre jetzt vier Jahre alt.«

»Was ist geschehen?«, fragte Dschingis Khan.

»Eines Morgens kamen vier Reiter und rissen mir meinen Sohn von den Brüsten.« Jetzt hatte meine Mutter die volle Aufmerksamkeit des Khan. »Als sie wieder aufstiegen, um in Euer Ordu zurückzukehren, hielt ich ein totes Kind in den Armen.« Er schwieg und hörte sie bis zu Ende an. »Meine Augen haben keine Tränen mehr, Temudschin. Wie konntet Ihr diesen Befehl geben?«

Ich starrte gebannt zwischen meiner Mutter und Dschingis Khan hin und her. Sie sprach den Khan mit seinem Namen an ...

Dschingis Khan schüttelte den Kopf, als habe er ihre Frage nicht gehört. »Dann hat Dschamuga dich also gefunden.«

Meine Mutter nickte.

»Bekennt Dschamuga sich zu seinen Söhnen?« Der Blick des Khan streifte mich wie ein kalter Nordwind.

»So wie Ihr Euch zu den Euren bekennt, Temudschin«, sagte meine Mutter. »Wenn Ihr von ihrer Existenz erfahrt.«

»Dschamuga weiß nichts von seinem Sohn?«, fragte der Khan.

»Nein, Temudschin. Er weiß es nicht.«

»Dann lassen wir es dabei.« Der Khan betrachtete mich nachdenklich und meine Mutter wurde blass.

»Ihr wollt doch Temur nicht auch ...?«

Ich rutschte unruhig auf meinem Kissen hin und her. Was handelten meine Mutter und der Khan aus? Sollte ich ebenfalls getötet werden, weil Dschamuga mein Vater war?

Der Khan winkte mir, mich zu erheben und zu ihm zu kommen. Mit zitternden Knien folgte ich dem Befehl. Drohte mir das gleiche Schicksal wie meinem Bruder? Er reichte mir seine Hand. Als ich zögerte, griff er nach mir und zog mich zu sich heran. Dann drehte er sich zu Mukali um. »Mein Freund, ich befehle dir, diesen jungen Mann als deinen eigenen Sohn zu betrachten! Er ist dein Sohn und niemand anderes Sohn.«

»Ja, Temudschin.« Damit reichte der Khan meine Hand an Mukali weiter, der sie freundlich drückte. Er spürte meine Angst.

Mukali ließ meine Hand nicht los, bis er auf seinem Sitz Platz genommen hatte. Damit saß ich nicht mehr neben meiner Mutter, sondern rechts neben ihm. Gleich neben dem Khan.

Die Hochzeitsfeier war ausgelassen, mit Musik und Tanz und Spielen. Mukali hatte Unmengen von Essen zubereiten lassen. Er hatte einen chinesischen Koch aus der Gegend des Liao Ho, der seit Jahren in seinem Ordu lebte. Und so gab es außer Hammel und Murmeltier auch chinesische Gerichte. Das eine war gegrillte Ente mit einer salzig schmeckenden Sauce, das andere war ein Fisch, vermutlich aus dem Onon, in einer süßlichen Honigsauce und einem mir unbekannten Wurzelgemüse. Beides schmeckte sehr fremd, aber doch irgendwie gut. Dazu gab es Unmengen von klebrigem Reis.

Mukali, der den Reis mit Fingern aß, starrte mich an, als ich meine Essstäbchen hervorzog. Der chinesische Koch war nicht nur von meiner Art zu essen angetan, sondern auch von meinem Appetit. Nachdem der Khan zum zweiten Mal von der Ente genommen hatte, brachte mir der Koch noch eine Portion. Ich danke ihm auf Hanyu, vermutlich das einzige Wort, das ich fehlerfrei aussprechen konnte. Der Khan musste das Strahlen auf dem Gesicht des Chin bemerkt haben. »Dein Sohn Temur spricht die Chin-Sprache, Mukali?«

»Ja, Temudschin, ich war auch überrascht, als ich ihn das erste Mal sprechen gehört habe«, sagte Mukali über meinen Kopf hinweg.

»Sehr gut, sehr gut«, murmelte der Khan kauend. »Hanyu sprechen zu können ... Leider habe ich kein Talent für Sprachen.«

»Ich kann nur wenige Worte. Aber es ist nicht schwer ...«, wagte ich zu sagen.

Der Khan betrachtete mich wie einen Floh, der zu sprechen begonnen hatte. Dann grinste er: »Ich werde dich rufen, wenn ich einen Übersetzer brauche.«

Je später der Abend der Feier, desto ausgelassener wurden die Gäste. Buriboko beging den Fehler, sich auf ein Wortgefecht mit dem Khan einzulassen. Obwohl Dschingis Khan bereits drei Schalen Arkhi getrunken hatte, war er noch nüchtern, während Buriboko nicht mehr Herr seiner Gedanken war.

Willenlos folgte Buriboko dem Khan in die Niederungen einer Argumentation, deren Tiefe er nicht erkennen konnte. Der Khan legte seinem Gefolgsmann einen Hinterhalt nach dem anderen und Buriboko ließ sich von seinen Worten durchbohren wie von Pfeilen. Es ging um die Ausdehnung des Mongol Ulus nach Osten in das Stammesgebiet der Tatar. Der Dschurkin hielt die Eroberung der tatarischen Gebiete für verfrüht. Er bezweifelte die ehrliche und treue Gefolgschaft selbst so enger Verwandter wie der Kiyat, was Kuschar erzürnte. Mukali sah unruhig zwischen den Streitenden hin und her.

Der Khan betrachtete Buriboko nachdenklich. »Du bringst meine Gefolgsleute gegen mich auf«, sagte er ruhig.

»Da gibt es nicht viel Feuer anzufachen, mein Khan. Die Kiyat haben schon immer nur an ihr eigenes Wohl gedacht.«

Der Khan starrte ihn an. Belgutai war aufgesprungen, doch der Khan hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

»Euer Vater hat als Fürst der Kiyat ein Ordu nach dem anderen überfallen, um Beute zu machen. Er hat viel Beute gemacht. Aber er hat nicht die Größe besessen, um von uns zum Khan gewählt zu werden. Er hat nur an die Kiyat gedacht. Wer alles für sich will, dem wird alles genommen werden! Deshalb hat sich Targutai damals den gesamten Besitz genommen und hat Euch und Eure Familie mittellos zurückgelassen.«

Der Khan schwieg immer noch.

»Ich werde dir ...«, begann Belgutai, der sich mit seinen Brüdern jahrelang in den Nordwäldern versteckt gehalten hatte.

»Setz dich hin und halt den Mund!«, befahl ihm der Khan kalt. »Buriboko ist noch nicht zum Ende gekommen.«

»Nein, Cousin Temudschin, ich bin noch nicht fertig.«

»Du hältst die Kiyat also für unfähig, das Amt des Khan auszuüben. Weil sie so selbstsüchtig und eigennützig sind.«

Buriboko wusste, dass er zu weit gegangen war und schwieg.

Belgutai sprang wieder auf. »Ich werde diese Beleidigung nicht hinnehmen ...«

»Da bin ich wirklich froh, Buriboko, dass ich kein Kiyat bin«, unterbrach ihn der Khan. »Sondern ein Mongol.«

Belgutai sah seinen Bruder verunsichert an, der seinen Blick jedoch auf Buriboko geheftet hielt. »Ich bin kein Mongol«, sagte Belgutai, »sondern ein wütender Kiyat.«

Jetzt erst sah der Khan seinen Bruder an. »Ja, das stimmt, Bruder. Du bist noch kein Mongol, wenn dich eine solche Beleidigung aus der Fassung bringen kann.«

Belgutai stellte sich vor Buriboko hin und stieß ihm mit der Faust gegen die Brust. Das war seine Art, Buriboko zum Kampf herauszufordern. Der Dschurkin wusste, dass er nicht mehr zurück konnte. Er hatte den Khan beleidigt.

»Wenn ihr eure Kräfte messen müsst«, sagte der Khan, »dann tut das draußen. In diesem Zelt wird kein Dschurkin-Blut vergossen.«

Belgutai sah seinen Bruder an, als habe er ihn nicht verstanden. Er benötigte keinen Befehl des Khan, um zu wissen, dass der Ringkampf gegen Buriboko nicht innerhalb des Festzeltes stattfinden konnte. Aber die Erwähnung des Blutvergießens? Ein Ringkampf war eine unblutige Angelegenheit. Belgutai nickte und verließ das Zelt, Buriboko folgte ihm mit einem finsteren Blick auf seinen Cousin.

Während die beiden Ringer vor der Jurte des Khan ihre Terlegs zu Boden fallen ließen und sich in ihren weiten, weißen Hosen und Stiefeln gegenüber standen, folgten die meisten Festgäste den Streitenden und bildeten einen Ring aus Zuschauern.

Buriboko begann seinen Adlertanz mit ausgestreckten Armen und wiegenden Schritten. So unbezwingbar wie der Adler war auch der Kämpfer. Buriboko, der noch nie einen Ringkampf verloren hatte, bemerkte den Blickwechsel zwischen Belgutai und dem Khan, der den Zelteingang nicht verlassen hatte, als erwartete er keinen langen Kampf.

Die Ringer gingen aufeinander zu und fassten sich an den Hüften und Schultern und versuchten, den anderen auf den Rücken zu stoßen oder werfen. Immer wieder suchten sie neue Griffe, schoben und stießen den anderen vor sich her, versuchten ihn über ein Bein zu werfen, um ihn zu Boden zu stoßen. Belgutai war groß und muskulös, Buriboko etwas kleiner, aber so schwer wie ein Baumstamm. Belgutai war schneller, Buriboko war stärker. Belgutai war nüchtern, Buriboko hatte mit dem Khan etliche Schalen Arkhi geleert. Nachdem sich die beiden Ringer mehrmals umkreist hatten und verschiedene Griffe aneinander ausprobiert hatten, gelang es Belgutai, seinen Gegner auf den Boden zu werfen, allerdings nur auf den Bauch. Für einen Sieg musste Belgutai den Dschurkin auf den Rücken drehen.

Aber so sehr er sich auch mühte, der Bruder des Khan war nicht imstande, den Gegner umzudrehen und seine Schulter auf den Boden zu drücken. Buriboko hatte seinen Blick auf den Khan gerichtet, als wollte er ihm etwas sagen, aber kein Laut kam über seine Lippen. Belgutai mühte sich, bis ihm der Schweiß aus dem Gesicht tropfte. Er sah den Khan Hilfe suchend an. Sein Blick sprach von der Unbesiegbarkeit des Dschurkin, von Belgutais Gehorsam gegenüber seinem Bruder, von seiner Bitte um eine Entscheidung und einen Befehl zur Lösung des Problems.

Der Khan nickte. Belgutai verstand. Schon seit Menschengedenken war der Ringkampf, der Streitfälle entschied, ein Gericht des Himmelsgottes. Der Urteilsspruch Tengers sollte nach dem Willen des Khan an dem Dschurkin vollstreckt werden.

Belgutai stellte sich breitbeinig über den am Boden liegenden Gegner. Dann ließ sich Belgutai langsam nieder, als wollte er sein Pferd besteigen, doch sein Knie drückte sich in Buribokos Rückgrat. Dann beugte er sich vor, verschränkte seine Hände unter Buribokos Hals. Ein schneller Ruck. Ein Krachen wie von einem brechenden Ast.

Belgutai drehte den Sterbenden vorsichtig auf den Rücken und trat zurück. Der Khan beugte sich über den Dschurkin.

»Ich hätte mich wehren können, Temudschin«, hauchte Buriboko.

»Ich weiß«, sagte der Khan sanft und wischte ihm mit seinem Ärmel den Schweiß aus den Augen.

»Von Belgutai hätte ich niemals besiegt werden können. Aber ich hatte ... Angst vor Euch, mein Khan.«

»Du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben, Buriboko. Tenger wird sich um die Unbesiegbaren kümmern.«

»Ich werde ihn von Euch grüßen«, flüsterte Buriboko atemlos und hauchte seine Seele aus.

Der Khan beugte sich über Buribokos leblosen Körper und schloss ihm die Augen.

Am Tag nach der Hochzeit zog meine Mutter in Mukalis Lager, das nur einen Tagesritt von dem Ordu des Khan entfernt war. Die neue Jurte aus schneeweißem Filz wurde gleich neben der des Beki aufgestellt. Mukali war in der Rangfolge nach Satscha und Buriboko der nächste Fürst aus dem Klan der Dschurkin. Er wurde ohne Gegenstimme gewählt.

Kökschus zurückgelassenes Zelt errichtete ich für mich selbst. Ich war nun zehn Jahre alt und wie mein Stiefvater der Meinung, dass ich seinen nächtlichen Aktivitäten im Bett meiner Mutter nicht mehr zusehen musste. Ich hatte Kökschus gesamten Besitz übernommen: seine Truhen, die zurückgelassenen Schamanengewänder, die Töpfe, das Teegeschirr aus Chin, die Filzdecken. Mir fehlte es an nichts. Die Mahlzeiten nahm ich zusammen mit meinem Stiefvater und meiner Mutter im Zelt des Fürsten ein, aber in der verbleibenden Zeit streifte ich durch das Ordu, das über mehr als vierhundert Jurten verfügte, ging auf die Jagd oder kümmerte mich um die Herde.

Wenn Mukali zu einer Besprechung der Noyans ins Ordu des Khan ritt, nahm er mich mit. Meist blieben wir nur ein oder zwei Nächte in einer der Gästejurten, dann kehrten wir ins heimatliche Ordu zurück.

Mukali führte sein Ordu in diesem Drachenjahr früh ins Herbstlager, das wir weit im Osten aufschlugen. Von einem Boten erfuhr ich, dass auch Subotai in diesem Herbst sehr weit nach Osten gezogen war. Mir schien beinah, als wollte der Khan Dschamuga und seine Gefolgsleute auf tatarisches Weidegebiet abdrängen.

Der Winter kam früh und mit aller Macht. An langen Winterabenden, an denen Mukali mit meiner Mutter beschäftigt war, saß ich allein in meiner Jurte. Ich durchwühlte Kökschus Holztruhen und ordnete die Dosen mit Kräutern und Wurzeln. Viele der getrockneten Blätter und Blüten kannte ich nicht. Aus unerfindlichen Gründen hatte unser Ordu keinen Schamanen, den ich nach den Pflanzen und ihrer Heilkraft hätte fragen können. Und so probierte ich die Kräuter an mir selbst aus. Ich kochte Tees, die ich schluckweise trank, bis ich irgendeine Wirkung feststellen konnte.

Bei einigen Tees reichten schon ein oder zwei Schlucke, um mir den Abend und die Nacht zu verderben. Ich fand einen Tee, der mich zwei Nächte und einen Tag lang so wach machte, als existierte die Welt zweifach, ein anderer ließ mich so schnell müde werden und einschlafen, dass ich nicht mehr auf das Feuer achten konnte. Der Funkenflug hätte beinahe meine Jurte abgebrannt. Ein anderer Tee erhitzte mich bis zum Fieber, sodass ich im ersten Wintermond ein Loch in das Eis des Flusses schlug, um mich zwischen den Eisschollen abzukühlen. Das Fieber hielt vier Tage an. Ich fand Kräuter gegen Schmerzen, gegen Wut, gegen Unentschlossenheit, gegen Angst. Was ich nicht fand, war ein Kraut gegen die Ungeduld, die mich quälte.

Dunkelheit allein genügt nicht für das Sehen. Erleuchtung ist die Fähigkeit des Schamanen, die Dunkelheit zu erhellen, in jener Dunkelheit zu sehen, was andere nicht erkennen können.

Je tiefer ich versank, desto stärker wurde der Schmerz. Ich ließ mich durch die Finsternis fallen und hoffte, irgendwann anzukommen. Der Schmerz war unerträglich. Ich hatte meine eigenen Grenzen überschritten und empfand die Leiden aller Menschen mit einer Intensität, als zerfleischte mich ein Wolf bei lebendigem Leib. Ich war nicht mehr Temur und doch so sehr Ich wie nie zuvor.

Die ganze Welt faltete sich ein und hielt mich fest. Die Vision war überwältigend und erbarmungslos. Sie zeigte mir die Hoffnungslosigkeit der menschlichen Existenz, von der Geburt bis zum Tod. Ein grausames Spiel, absurd und sinnlos. Dann eine neue Geburt ins nächste Leben hinein. Was war zwischen den Leben? Das Vergessen aller Erfahrungen. Ein neuer Anfang. Um was zu lernen? Dass die Welt Inferno und Ekstase zugleich ist?

»Temur!«

Das Inferno. Krieg, Leid, Schmerz, Tod. Um den Menschen in die Selbstbewusstheit zu treiben? Die Ekstase. Das Wissen um die Gesetze der Welt. Die Erschaffung neuen Lebens. Die Liebe, die Lust. Keine Frage nach dem Warum!

»Temur!«

Der Tod. Der Sturz in das Nichtsein, in die Finsternis ...

Mukali zerriss das Gewebe meiner Visionen. Ich stürzte in meinen Körper zurück und schlug hart auf dem Boden auf.

»Ich muss mit dir reden«, sagte Mukali, als er mir aufgeholfen und eine Schale Airag gereicht hatte.

»Worüber?«, fragte ich, noch immer benommen. Es war so dunkel im Zelt, dass ich Mukali kaum erkennen konnte.

»Darüber«, sagte er und deutete auf mein Schamanengewand. »Deine Mutter will nicht, dass du Schamane wirst, Temur.« Ich sah ihn wortlos an, während er das Feuer schürte. Die Flammen schlugen höher und es wurde heller in meiner Jurte. »Ich will es auch nicht«, fügte er nach einer Weile hinzu, als ob dieses Argument schlagkräftiger wäre als das erste.

»Aber ich will es, Mukali.«

Sein Blick maß sich mit meinem. Aber ich konnte ihm standhalten.

»Lass uns darüber reden, Temur. Bei einem Tee, der meine Seele nicht bis ins Blau des Himmels steigen lässt.«

Ich nahm den Topf mit dem kochenden Tee vom Feuer und stellte einen anderen mit Wasser auf, um grünen Tsaj zu kochen. Umständlich zerkleinerte ich in einem Lederbeutel eine Ecke des Teeziegels und warf das Pulver in das siedende Wasser. Ich sah Mukali dabei nicht an und konzentrierte mich auf das Teekochen, als sei es ein heiliges Ritual. Wenn er mir etwas sagen wollte, dann sollte er es tun.

Er schwieg sehr lange, als wollte er Wort für Wort überlegen, was er mir in welcher Reihenfolge sagen wollte. »Ich bin ein Noyan«, begann er. »Das ist im Frieden wie im Krieg eine sehr verantwortungsvolle Position.«

Ich siebte den Tsaj in die Trinkschalen, fügte einen Schuss Yakmilch dazu und reichte Mukali seine Schale.

»Ich werde künftig noch länger abwesend sein als in der Vergangenheit. Du bist jetzt elf Jahre alt.« Warum erzählte er mir das alles? Ich wusste selbst, wie alt ich war. »Es wird Zeit, dir eine Braut zu suchen«, sagte Mukali und ließ seine Worte einsickern wie Schmelzwasser in der Steppe. »Nach dem Frühlingsfest werden wir nach Westen zu den Kereit reiten, um dich zu verloben.«

Ich nickte. Was sollte ich sagen, da er doch offensichtlich seinen Entschluss schon getroffen hatte? Oder hatte jemand anders ihm diese Entscheidung abgenommen? Ich wusste, dass der Khan ein Bündnis mit dem Kereit Khan Togrul anstrebte. Familienbande wären stärker als jedes mündlich gegebene Versprechen, auch wenn Togrul Khan ein Anda seines Vaters gewesen war.

»Wenn du in diesem Vogelgewand herumläufst, wirst du jedes Mädchen erschrecken, Temur. Ich wünsche nicht, dass du deine Himmelsreisen fortsetzt. Du bist nicht zum Schamanen geboren.«

»Nicht geboren, Mukali, aber berufen. Ich habe meinen ersten Tschanar absolviert«, wandte ich ein und wollte mit dieser Offenbarung meines Geheimnisses die Diskussion abbrechen.

Mukali zeigte sich unbeeindruckt. »Ich habe bei meinem letzten Besuch im Ordu des Khan mit Kökschu gesprochen. Er gesteht dir ein gewisses Talent zu. Er nannte es Intuition. Er hat dir ein paar Fertigkeiten beigebracht. Aber er hat mir gesagt, dass du die nächste Tschanar-Weihe nicht bestehen wirst.«

»Wenn Ihr mir den Krieg erklärt, Kökschu, dann tut es gefälligst persönlich! Und hetzt nicht meinen Stiefvater Mukali gegen mich auf!« Meine Worte waren nicht als Friedensangebot gedacht.

Vier Tage nach dem Frühlingsfest waren Mukali und ich mit zwei Packpferden ins Ordu des Khan aufgebrochen. Ich hatte keine Ahnung, was Mukali mit dem Khan zu besprechen hatte, und nutzte die Zeit für einen Besuch bei Kökschu.

»Du bist eine Steppenmaus, die brüllt wie ein Schneeleopard!« Kökschu lächelte nicht. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich mit einem Schüler wie dir herumärgere?«

»Wie konntet Ihr behaupten, dass ich den zweiten Tschanar nicht bestehen werde? Ich habe es ja noch nicht einmal versucht!« Ich war wie ein Felsen, der bergab rollt. Kökschu war mir im Weg.

»Dann erspare uns beiden dein Versagen«, fauchte er. »Du hast nicht genug Kraft ...«

Schamanisches Wissen kann gelehrt werden, Weisheit nicht. Sie muss erfahren werden. Genauso wie der Glaube an Gott, der nicht verordnet werden kann wie eine Medizin, die den Menschen heil macht. »Während der ersten Weihe habt Ihr mir die Gabe zugestanden, das Feuerpferd in mir zu zähmen. Ihr habt selbst gesehen, wie ich Kranke geheilt habe! Ihr wisst, über welche Kräfte ich verfüge!«

»Ich habe mich geirrt«, sagte Kökschu. Er musste sich mühsam beherrschen, um mich unter seinen Willen zu zwingen.

»Geirrt?«, fragte ich in einem Tonfall, der so scharf war wie mein Dolch. »Ich dachte, Ihr seid unfehlbar, Schamane des Khan?«

»Willst du mir den Krieg erklären?«, fragte Kökschu ungläubig. »Die Steppenmaus greift den Leoparden an! Das kann unterhaltsam werden. Wenn auch nicht für dich, Temur!«

»Ich habe dich erwartet, Mukali«, sagte Dschingis Khan, als Mukali das Zelt betrat. Mein Stiefvater schleppte mich hinter sich her wie ein Fohlen am Halfter. Der Pfeilbote des Khan hatte Mukali und mich abgefangen, als wir uns auf den Weg nach Westen gemacht hatten, um eine Braut für mich zu suchen.

»Die Naiman haben Togrul Khan angegriffen und vernichtend geschlagen«, sagte der Khan und ging zu einer Karte aus gegerbtem Leder, die am Scherengitter befestigt war. Bogurtschi, Dschelme und Subotai waren im Zelt versammelt und tranken Buttertee. »Das war hier irgendwo, haben meine Pfeilboten berichtet.« Der Khan deutete auf einen Punkt auf der Karte, eine weite Ebene, die mit Hanyu-Schriftzeichen bemalt war. Keiner von uns konnte die Schrift lesen. »Bisher sorgten die Naiman für eine Ausgewogenheit der Kräfte in der Steppe. Sie griffen immer den Stamm an, der sich über die anderen zu erheben drohte. Wenn die Merkit oder die Kereit oder die Tatar zu mächtig wurden, setzten die Naiman sie in der Vergangenheit auf die ihnen zustehenden Plätze«, erklärte der Khan. »Wir Mongol sind davon in der Vergangenheit verschont worden. Wir waren zu schwach, um von ihnen wahrgenommen zu werden.«

»Unter Kabul Khan und deinem Großonkel Kutula Khan waren wir nicht schwach!«, begehrte Dschelme auf.

»Jetzt fang nicht wieder damit an, Dschelme! Diese Diskussion hatten wir gestern schon«, fuhr ihm Subotai durch die Worte. »Wir sind hier zusammengekommen, um zu beschließen, wie wir mit der neuen Situation umgehen.«

»Welche neue Situation?«, fragte Mukali. Ich gab keinen Laut von mir, um nicht des Zeltes verwiesen zu werden.

»Unser Sieg über die Tatar hat die Naiman misstrauisch gemacht«, begann der Khan. »Meine Pfeilboten berichteten mir seit Monden, dass die Naiman ihre Pferde zusammengetrieben haben. Das war Togrul Khan offensichtlich entgangen. Buyuruk, der Khan der Naiman, fiel mit seinem Heer im Land der Kereit ein und überraschte den ahnungslosen Togrul. Er hätte sich nicht über meine Pfeilboten lustig machen sollen! Der alte Falke war der Meinung, dass Nachrichten sich wie ein Steppenbrand ausbreiten. Buyuruk Khan überfiel die kereitischen Ordus so schnell, dass Togrul ihnen nicht zu Hilfe kommen konnte. Buyuruk Khan hat Togruls Bruder zum Khan der Kereit eingesetzt. Als Vasall.«

»Verdammt!«, fluchte Mukali.

»Das war auch meine erste Reaktion«, sagte der Khan. »Togruls Bruder wird sterben, sobald er auch nur an Widerstand denkt

»Was ist mit Togrul Khan?«

»Er ist mit einer Handvoll Gefolgsleuten geflohen. Er hat sich irgendwo im Sand der Gobi vergraben.«

Mukali trat nahe an die Karte und starrte auf die bunten Linien und fremden Schriftzeichen. »Wir stehen nackt vor den Naiman.« Er deutete auf das Gebiet der Kereit, das westlich der mongolischen Weidegebiete lag. »Wir haben Buyuruk Khan nichts entgegenzusetzen. Das Heer der Kereit existiert nicht mehr, um die Naiman aufzuhalten. Und unseres existiert noch nicht

»Mukali, du hast eine wundervoll schonungslose Art, mich mit vertrauten Tatsachen zu konfrontieren. Du bist ein talentierter Feldherr, aber die Sprache der Diplomatie musst du noch lernen!«, sagte der Khan. Seine blauen Augen hatten die Farbe eines Gewittersturmes angenommen.

»Wenn ich irgendwann so verzweifelt sein sollte, mit dir in der Sprache der Diplomatie zu sprechen, Temudschin, bin ich nicht mehr dein Freund und du kannst mich hinrichten lassen.«

Bevor der Khan antworten konnte, stürzte ein Bote ins Zelt und fiel vor Dschingis Khan auf die Knie. Der Bote atmete keuchend, als habe er sein Pferd seit Stunden angetrieben.

»Woher kommst du?«, fragte Dschingis Khan, der sich erhoben hatte.

»Von Westen, mein Khan. Ich bringe Nachricht von Togrul Khan. Er ist nach Kara Khitai, das Reich im Westen, geflohen.«

Mit einer Handbewegung entließ der Khan den Pfeilboten. Dann schenkte er sich eine Schale Arkhi ein, opferte mit dem Ringfinger einige Tropfen den Geistern und sprach ein Gebet zu Tenger, dass der Anda seines Vaters und einstiger Verbündeter vom Tode verschont worden war. Dann stellte er die Schale weg und sagte zu seinen Noyans: »Und nun lasst uns unsere Verteidigung gegen die Naiman planen.«

»Der Krieg ist unvermeidlich, Temudschin. Wir dürfen uns nichts vormachen«, sagte Bogurtschi beim Abendessen der Noyans im Zelt des Khan.

Mukali hatte mich mit zum Essen genommen, weil er befürchtete, ich würde mich erneut mit Kökschu streiten. Am Tag zuvor hatten wir zum ersten Mal unsere Kräfte gemessen. Ich war nicht überrascht, dass er unseren stillen Kampf gewonnen hatte, aber er war überrascht, wie stark ich war. Der Krieg zwischen ihm und mir war unvermeidlich!

Die Worte des Khan rissen mich zurück in die Gegenwart:

»Bisher hat Buyuruk Khan sein Heer noch nicht nach Osten geschickt. Seine Pferde haben keinen Huf auf das Gebiet des Mongol Ulus gesetzt.«

»Willst du darauf warten, dass er das tut?«, fragte Mukali.

Der Khan lehnte sich in die Kissen zurück und trank einen Schluck Arkhi. »Natürlich nicht, Mukali. Ich werde jedem seiner Angriffe zuvorkommen. Wenn du mir sagst, womit ich das tun soll.«

»Wir sind nicht so schwach, wie du denkst, Temudschin«, beteuerte Mukali.

»Ich fange gleich an zu lachen, Noyan. Über wie viele Krieger verfügst du denn?«

»Wenn die Naiman angreifen, kann ich zweitausend Krieger aufbieten.«

»Und ich nochmals dreitausend«, sagte Bogurtschi. »Und da sind noch Dschelme, Subotai und ...«

»Da wird Buyuruk Khan ja vor Angst erbeben«, knirschte der Khan. »Ich an seiner Stelle würde sofort den Rückzug befehlen beim Anblick einer solchen Streitmacht!«

»Wir tun was wir können, Temudschin! Du verlangst das Unmögliche. Wir bilden doch bereits die Sechzehn- und Siebzehnjährigen an Schwert und Bogen aus. Du weißt, dass üblicherweise nur die jungen Männer im Alter von zwanzig Jahren ...«, sagte Bogurtschi.

»Wenn die Naiman angreifen, brauchen wir jeden Mann und jede Frau, um uns zu verteidigen. Sonst werden wir nicht überleben«, sagte der Khan. »Wir sind noch nie von einer solchen Übermacht bedroht worden. Die Naiman können uns von der Landkarte radieren, als hätte es uns nie gegeben. Mit Togruls Bruder als Vasall ist der Feind nicht einmal fünf Tagesritte von hier entfernt.«

»Was willst du tun, Temudschin?«, fragte Bogurtschi.

»Verhandeln«, sagte der Khan. »Mit Buyuruk Khan verhandeln und einen Angriff so lange hinauszögern, bis eure Söhne ihre Schwerter halten können. Bis wir uns verteidigen können.«

»Was genau verstehst du unter verhandeln?«, fragte Mukali.

»Nettigkeiten und Belanglosigkeiten austauschen. Die Sprache der Diplomatie nutzen, die dir so schwer fällt, Mukali. Tribut zahlen«, erklärte Dschingis Khan.

»Du wärest bereit, Buyuruk Khan Tribut zu zahlen?«, fragte Mukali ungläubig.

Der Khan sah ihn ungerührt an. »Warum, glaubst du, war Togrul mit einem Bündnis einverstanden?«

»Wir haben ihm Tribut bezahlt?«, fragte Mukali. »All die Jahre?«

»All die Jahre«, bekräftigte der Khan ungerührt. »Seit meinem Vasallenschwur.«

»Bei allen Geistern! Das glaube ich nicht!«, entfuhr es meinem Stiefvater.

Der Khan zuckte die Schultern und schenkte sich und Mukali die Trinkschalen voll.

»Ich dachte, dass wir ...«, begann mein Stiefvater.

»Und ich dachte, Mukali, dass du deinen Glauben an mich und meine Berufung durch Tenger nicht auf Vermutungen stützt!«, unterbrach ihn der Khan sarkastisch und mein Stiefvater schwieg.

Über alle anderen Äußerungen des Khan, die er später in meiner Gegenwart tat, habe ich weniger nachgedacht als über diese Worte. Hielt er sich wirklich vom Himmel berufen? Worauf stützte er seine Gewissheit?

Mit diesen Fragen, die meinen Verstand wie Gewitterwolken verdunkelten, ging ich zu Kökschu. Ich betrat seine Jurte, als er gerade Tsaj kochte. Er sah auf und wies auf ein Sitzkissen, als sei er keineswegs überrascht, mich in seiner Jurte zu empfangen.

»Woher wusstet Ihr, dass ich komme ...«, begann ich, als ich mich gesetzt hatte.

»Ich kann lesen«, sagte Kökschu.

Ich war überrascht. »Ihr könnt lesen

»Ich kann Zeichen lesen, Temur.«

»Und welches Zeichen hat Euch meine Ankunft verraten?«

»Dein Pferd ist vor meiner Jurte angebunden.«

Ich war enttäuscht. Ich hatte mit einer Offenbarung aus Blitz und Donner gerechnet. Aber damit kündigte sich wahrscheinlich nicht einmal der Khan an. »Ich will Euch etwas fragen, Kökschu. Dschingis Khan hält sich für einen Gesandten des Himmels. Woher hat er diese Gewissheit? Habt Ihr ihm das erzählt?«

»Er hat ein ungeheures Selbstverständnis, Temur. Er tut immer, was er für richtig hält. Auf eine geheimnisvolle Weise wird alles Wirklichkeit, was er sich in seinen Träumen vornimmt.«

Kökschu goss uns Tsaj ein und fügte großzügig Yakbutter in die Trinkschalen.

»Dann ist er also ein mächtiger Schamane ...« Ich schwenkte meine Schale, bis sich die Butter aufgelöst und eine Fettschicht auf der Oberfläche des Tees gebildet hatte.

»Er hat keine eigenen Geister. Nur sich selbst«, sagte Kökschu.

»Und trotzdem geschieht alles, wie er es sich vornimmt.« Es stand kein Fragezeichen am Ende meiner Feststellung.

»Fast alles. Es gibt jemanden, der stärker ist als er«, orakelte der Schamane.

»Ach ja?«, fragte ich möglichst provozierend. Die Wortgefechte mit Kökschu begannen mir Spaß zu machen. Hatten der Schamane und der Khan wieder ihre Schamanenkämpfe ausgefochten? War Kökschu am Ende unterlegen?

»Deine Großmutter ist stärker. Sie war seine und meine Lehrmeisterin. Sie ist eine große Schamanin gewesen, damals. Sie hat das Schamanen schon vor Jahren aufgegeben. Im Jahr des Feuerpferdes, als du geboren wurdest.«

Der Mensch, der Antworten sucht, wirft neue Fragen auf. Mit diesen Fragen stürmte ich in Großmutters Jurte.

»Aber warum?«, fragte ich sie.

»Die Geister haben mich verlassen«, sagte sie.

Ich starrte sie an und wartete auf weitere Erläuterungen. Aber sie beschäftigte sich mit Näharbeiten und sah mich nicht an.

»Warum verlassen die Geister einen Schamanen?«

»Er wird verlassen, wenn er Verbotenes tut.«

Was konnte meine Großmutter getan haben? Sie war so freundlich, so zärtlich, so liebevoll. Mir fiel einfach nichts ein, was den Unwillen der Geister hervorgerufen haben konnte. Und so fragte ich scherzhaft: »Habt Ihr versucht, jemanden umzubringen?«

»Ja«, sagte sie einfach. »Und es ist mir beinahe gelungen.«

»Wen?«

»Den Khan. Damals war er noch nicht Khan. Temudschin.«

Meine Gedanken waren in Aufruhr. »Kökschu hat mir erzählt, dass Ihr ihn ausgebildet habt ...«

»Ich wollte Vergeltung. Ich will mit dir nicht darüber sprechen, Temur. Das ist meine Art der Rache am Khan.«

»Ich verstehe kein Wort, Großmutter.«

»Du wirst es verstehen, Temur, irgendwann. Ich habe deiner Mutter versprochen, nicht mit dir darüber zu sprechen.«

»Wie habt Ihr versucht, ihn umzubringen?«

»Ich habe meine Geister gegen ihn aufgehetzt. Er ist fast wahnsinnig geworden. Das war damals, als die Merkit seine Frau Börte geraubt und vergewaltigt hatten. Damals hat er auch seinen Streit mit Dschamuga angefacht. Aber er war stärker als ich dachte. Er kann mit den Geistern sprechen. Sie haben ihn in Ruhe gelassen. Sie sind aber nicht zu mir zurückgekehrt.«

»Börte Khatun war entführt worden?«

»Man sagt, Dschutschi sei nicht der Sohn des Khan, sondern ein Sohn des Fürsten der Merkit, der Börte entführt hatte.«

»Und was sagt der Merkit dazu?«

»Den kann man nicht mehr fragen. Er überlebte Temudschins und Dschamugas Rachefeldzug nicht. Damals zogen die beiden noch gemeinsam in die Schlacht.«

»Und danach haben sich die beiden zerstritten?«, fragte ich nach.

»Nein, davor schon«, murmelte meine Großmutter.

»Weswegen?«

»Wegen einer Frau. Weswegen sonst? Männer streiten entweder um Frauen oder um Beute. Dieses Mal ging es um eine Frau.«

Ob der Khan nun mit dem Himmel sprach oder nicht, irgendwie verstand er es, Buyuruk Khan davon zu überzeugen, die Mongol nicht anzugreifen. Ich weiß nicht, ob er genug Tribut zahlte, um Buyuruk Khan von seinen friedlichen Absichten zu überzeugen oder ob er keinen Tribut zahlte, um den Naiman Khan von unserer Armut zu überzeugen.

Der Sommer flog vorbei wie ein Vogel, der nach Süden aufgebrochen war, der Herbst färbte das Gras gelb, aber noch immer meldeten die Pfeilboten des Khan keine Invasion der Naiman im Mongol Ulus.

Gemeinsam mit Toda Bekis Jurten zogen wir ins Herbstlager, das wir nicht auf tatarischen Weiden, sondern in der kereitischen Hügelsteppe errichteten. Toda war gegen die Verlegung des Ordu so weit in den Westen gewesen, aber ein Befehl des Khan hatte ihn schweigen und Mukalis Führerschaft anerkennen lassen.

Der Winter war dunkel und kalt und endlos. Aber friedlich.

Das Pferdejahr (1198) begann in unserer Familie mit einiger Aufregung. Nicht weil ich von meiner zweiten Tschanar-Weihe ohne Zeugen berichtet hätte, sondern weil uns meine Mutter am Vorabend des Neujahrsfestes gestand, dass sie schwanger war. Ich habe Mukali noch nie so betrunken gesehen wie an diesem Tag. Am Neujahrstag war Mukali noch nicht nüchtern, als ihm die Dschurkin und die Kiyat seines Ordu himmelblaue Khadags überreichten. Nach dem Empfang brachte ich meinen Stiefvater ins Bett und übernahm die Repräsentationspflichten des Beki. Ich empfing die Gäste in seiner Jurte mit Hammelbraten und Neujahrsbroten.

Mit Ausnahme einer lautstark ausgetragenen Meinungsverschiedenheit zwischen Toda und Mukali verlief der Sommer ereignislos. Es ging um die Auswahl der Weidegründe für das Herbstlager. Mukali wollte dem Wunsch des Khan entsprechend noch weiter nach Westen ziehen und damit tief in kereitisches Gebiet vordringen. Toda war das viel zu gefährlich. Er wollte weiter nach Osten ziehen, näher an die Ordus der Fürsten Altan und Kuschar.

»Der Wunsch des Khan ist mir egal, Mukali. Ich und ich allein bin für die Sicherheit meiner Gefolgsleute verantwortlich«, schrie Toda Mukali an.

Mein Stiefvater blieb erstaunlich ruhig angesichts Todas Lautstärke. »Wenn in diesem Ordu irgendjemand die Verantwortung trägt, dann bin ich das, Toda. Dschingis Khan hat mir befohlen ...«

»Seit wann lasst Ihr Euch von Cousin Temudschin Befehle erteilen, Mukali?« Todas Tonfall war gefährlich provozierend. »Ich dachte, Ihr trefft in diesem Ordu die Entscheidungen?«

»Das tue ich, Toda! Auch wenn man meine eigenen Befehle wegen Eurer Lautstärke kaum vernehmen kann.«

Toda hob die Arme in gespielter Verzweiflung. »Mukali, wir sind von einer Familie. Ihr seid Dschurkin, ich bin Kiyat. Aber wir sind Cousins aus einer alten Herrscherfamilie. Wir beide sind mit Kabul Khan und Kutula Khan verwandt. Altan und Kuschar sind unsere Cousins. Sie ziehen nach Osten und wir sollten ihnen folgen.«

»Temudschin ist mein Cousin und er zieht nach Westen. Im Übrigen sehe ich keine direkte Beziehung zwischen Verwandtschaftsgraden und Himmelsrichtungen.«

»Offensichtlich gibt es sie doch, denn Ihr scheint mir mit dem Khan verwandter zu sein als mit uns anderen!«

»Vielleicht bin ich das, Cousin Toda. Ich habe ihm die Treue geschworen und er nennt mich seinen Freund.«

»Er gab Euch einen lächerlichen Titel, Noyan. Und durch die Ermordung von Satscha und Buriboko verschaffte er Euch den Fürstentitel der Dschurkin. Er hat Euch gekauft, Mukali. Und Ihr habt es immer noch nicht gemerkt.«

»Ich nenne Temudschin nicht meinen Freund, weil er mir einen Fürstentitel verliehen hat. Ich nenne ihn meinen Freund, weil er mir in der Schlacht gegen die Tatar das Leben gerettet hat. Ich nenne ihn meinen Freund, weil er mich nach dem Verrat der Dschurkin an ihrem gewählten Khan verschont hat, weil er an meine Treue glaubte. Und ich nenne ihn meinen Freund und nicht meinen Lehnsherrn, weil er mich vor meinen Feinden schützen wird, wenn ich ihn darum bitte.«

»Ihr zieht den Feinden direkt in die Arme, Mukali! Die Naiman warten doch nur darauf, dass wir kereitisches Gebiet betreten. Ich würde nach Osten ziehen!«

Mukali ließ Toda ins offene Messer laufen. »Einverstanden«, sagte er.

Toda sah ihn überrascht an. »Ihr seid einverstanden?«, fragte er vorsichtig.

»Ja«, sagte Mukali. »Ihr zieht nach Osten und ich nach Westen. Wir werden sehen, wie viele Familien Euch folgen werden.«

Noch vor Abbruch des Sommerlagers gebar meine Mutter Mukali eine Tochter. Meine Schwester blieb lange mein einziges Geschwister. Von den anderen sollte ich erst Jahre später erfahren.

»Dschingis Khan hat beschlossen, dass Togrul wieder Khan der Kereit sein soll«, erklärte Mukali, während der seine Rüstung mit Bärenfett einrieb, um das Leder geschmeidig zu machen. Ein Pfeilbote hatte vor wenigen Stunden berichtet, dass Togrul aus Kara Khitai, dem Reich im Westen, zurückgekommen war und sich im Lager des Khan aufhielt.

»Darf ich das Schwert schärfen?«, fragte ich und legte Mukalis Helm neben seine Taschen. Ich nahm das Schwert auf die Knie und zog die gekrümmte Klinge vorsichtig aus der Scheide. Mit einem Wetzstein begann ich mit langsamen Bewegungen, an der Schneide entlangzufahren. Die Klinge gab einen hellen, singenden Ton von sich. Mukali sah mir beim Schärfen des Schwertes zu, als hantierte ich mit rohen Wachteleiern.

»Und wie will er das erreichen?«, fragte ich.

Mukali legte die Rüstung weg, die im Schein des Herdfeuers vor Fett glänzte. »Was?«, fragte er.

»Togrul auf die weiße Filzdecke der Kereit Khane zu heben.«

Mukali begann damit, den kleineren seiner beiden Bogen zu spannen. Er ergriff die Sehne und drückte den Bogen zusammen, sodass er sie am oberen Ende befestigen konnte. Das ging so schwer, dass er zunächst nicht antwortete. »Dschingis Khan will Togruls Bruder angreifen und stürzen.«

»Das klingt einfach«, sagte ich und schärfte die Klinge.

Mukali lachte. »Der Khan legt sich mit zwei Gegnern gleichzeitig an, den Kereit und den Naiman.«

»Es sind nicht viele Krieger, die Togruls Bruder folgen.«

»Woher willst du das wissen, Temur? Hast du deine eigenen Spione?«, fragte mein Stiefvater spöttisch

»Jesutai hat es mir erzählt.«

»Woher hat Jesutai diese Information? Von seinem allwissenden Vater?«

»Ein Bote von Dschamuga war vor wenigen Tagen im Ordu und hat Toda Beki besucht. Jesutai war auch dabei.«

Mukali, der gerade versucht hatte, seinen Langbogen zu spannen, ließ die Sehne los und der Bogen schnellte in seine Ruheposition zurück. »Dschamuga hat einen Boten gesandt? Was wollte er?«

»Keine Ahnung. Ich könnte zu Jesutai ins andere Ordu reiten und ihn fragen«, bot ich an. Ich wusste, dass ich einen Fehler gemacht hatte, indem ich Jesutai nicht ausgefragt hatte.

Mukali schüttelte den Kopf und spannte erneut den Bogen. »Nein, du bleibst hier, Temur.« Dann befestigte er die Sehne am oberen Ende des Bogens, der ihm von den Füßen bis zur Schulter reichte. Probehalber spannte er und ließ los, als würde er einen Pfeil verschießen. Seine dunklen Augen glühten im Schein des Feuers. An wen dachte er bei diesem Schuss?

»Ihr seid beunruhigt wegen des Boten.«

»Dschamuga ist nicht zu trauen. Er könnte uns in den Rücken fallen, während wir gegen die Kereit und die Naiman kämpfen. Er wartet seit Jahren auf eine Gelegenheit ...«

Ich sortierte die Pfeile in die drei Köcher, die jeder Reiter mit sich trug. Es gab kurze Pfeile mit Stahlspitzen, die sogar Metall durchschlagen konnten, lange Pfeile, die besonders weit flogen, und Pfeile mit Spitzen, die tödliche Wunden rissen.

»Ich würde Euch gerne helfen«, sagte ich und beobachtete Mukali, der eine kleine Axt zum Holzzerkleinern, seine Zunderbüchse, sein Jagdmesser und zwei gerollte Seile in eine Satteltasche stopfte.

»Du kannst noch nicht mitreiten, Temur. Du bist erst dreizehn Jahre alt.« Mukali konzentrierte sich auf das Packen. Er wollte mir nicht in die Augen sehen. Er warf eine Feile zum Schärfen der Pfeilspitzen und des Schwertes, Fischhaken und Nähzeug in die andere Satteltasche.

»Das meine ich nicht. Jesutai ist mein Freund. Er vertraut mir.«

Mukali verstaute die Notration aus getrocknetem Hammelfleisch und Aaruul, den zusammengefalteten Futterbeutel für seine Pferde und einen kleinen Kochtopf in einem Vorratssack, der seitlich am Sattel befestigt wurde.

»Ich könnte ihn besuchen. Wenn ich bei ihm schlafe, erfahre ich vielleicht, was Dschamuga vorhat.«

»Du willst spionieren, Temur? Gegen deinen eigenen Anda?«, fragte er und schloss die Tasche. »Der Khan hat einen funktionierenden Geheimdienst. Ich wünsche nicht, dass du Jesutai besuchst, Temur.«

Damals war Mukali noch nicht mein vorgesetzter Offizier und seine Wünsche waren noch keine Befehle für mich. Und auf die Verweigerung seines Befehls stand noch nicht die Todesstrafe.

Zwei Tage, nachdem Mukali seine Pferde gesattelt hatte, um dem Befehl des Khan zu folgen, machte ich mich auf den Weg nach Osten. Jesutai war überrascht, mich zu sehen. Er hatte seinen Vater überzeugen können, ihm mit dreizehn Jahren endlich eine eigene Jurte zu schenken, zumal ihm bereits eine Braut versprochen war.

»Wann wirst du sie holen?«, fragte ich ihn, als ich die Satteltaschen mit meinem Gepäck losschnallte.

»Nach der nächsten Schneeschmelze«, sagte Jesutai, der mir die Taschen abnahm.

»Warum nicht früher? Du bist schon dreizehn!« Ich legte die Steigbügel über den Sattel.

»Mein Vater will es so.«

»Tust du immer, was dein Vater sagt?«, provozierte ich ihn.

»Ja. Du nicht?«

»Nein. Nicht immer.« Ich löste den Sattelgurt und zog ihn aus der Schnalle.

»Das liegt wohl daran, dass Mukali nicht dein richtiger Vater ist.«

»Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich selbst entscheide, was ich tun will und was nicht.« Ich fasste den Sattel mit beiden Händen und wollte ihn von Gals Rücken heben, als Jesutai fragte:

»Wenn dein richtiger Vater dir etwas befiehlt oder verbietet, würdest du dich dann dran halten?«

»Ich kenne meinen Vater nicht. Ich beantworte dir die Frage erst, wenn ich weiß, wer mir befiehlt.« Erneut wandte ich mich meinem Pferd zu.

»Dann stimmen die Gerüchte über deinen Vater nicht?«

Ich drehte mich um und sah ihn an. Worauf wollte er hinaus? Was wusste er? Seit wann? »Welche Gerüchte?«

»Dass Dschamuga dein Vater ist.«

»Wo hast du das gehört?«

»Dschutschi hat es mir erzählt, als mein Vater und ich im Ordu des Khan waren.«

»Dschutschi?« Mein Hass auf den Sohn des Khan wuchs ins Unermessliche. Was würde er sich noch alles einfallen lassen? »Wem hat er es noch erzählt?«

»Allen. Seinen Brüdern. Seinen Freunden. Seinem Vater. Alle wissen es.«

Ich ließ den Sattel ins Gras sinken.

Und wenn es nun wirklich stimmte? Wenn ich nun wirklich Dschamugas Sohn war? Das war besser, als der Sohn von niemand zu sein. Eine lange verschüttete Frage wurde durch Jesutais Worte ausgegraben.

Wenn ich wirklich Dschamugas Sohn war, dann war meine Lebenserwartung im Lager des Khan und seines Noyan Mukali nicht allzu lang, wenn Dschamuga sich gegen Dschingis Khan erheben sollte. Wer würde etwas darauf geben, dass es nur ein Gerücht war? Wer würde sich die Mühe machen, dieses Gerücht nachzuprüfen? Bestenfalls nahm man mich als Geisel, um Dschamuga gefügig zu machen. Aber der hatte mich bisher nicht als seinen Sohn anerkannt. Schlimmstenfalls brachte man mich einfach um. Ich stellte mir vor, wie mein Stiefvater Mukali mit dem Schwert, das ich erst vor wenigen Tagen für ihn geschärft hatte, hinter mich trat und mir den Kopf abschlug, wie er es bei Satscha getan hatte. Ob er auch meinen Kopf in die Steppe warf, als Warnung für alle, die sich gegen den Khan erhoben?

Wenn ich wirklich Dschamugas Sohn war, was suchte ich dann im Lager der Dschurkin und der Kiyat? Ich musste meine Loyalitäten neu ordnen. Ich musste herausfinden, wessen Sohn ich wirklich war. Mit meiner Mutter konnte ich darüber nicht sprechen. Sie würde es mir nicht sagen. Meine Großmutter wusste es, aber sie hatte geschworen, es mich selbst herausfinden zu lassen, wenn die Zeit dafür gekommen war. Wenn meine Mutter mir keine Antwort auf diese Frage gab, dann hatte ich nur eine Wahl. Ich musste meinen Vater fragen. Oder den, den alle für meinen Vater hielten: Dschamuga.

»Und was soll ich in Dschamugas Ordu?«, fragte Jesutai, als ich ihm meinen Plan erläutert hatte. Und Gal wieder gesattelt hatte.

»Du besuchst deine Verwandten. Dschamugas Söhne sind deine Cousins. Und meine Brüder, wenn das Gerücht stimmt.«

»Du kannst nicht einfach in Dschamugas Jurte spazieren und ihn fragen, ob er dein Vater ist.«

»Warum nicht?«, fragte ich trotzig. »Wenn du einen anderen Vorschlag hast, sag ihn mir!«

»Wenn er wüsste, dass du sein Sohn bist, hätte er sich längst dazu bekannt. Dschamuga hat überall Kinder, in allen Ordus.«

»Dann weiß er eben nichts von mir. Na und?«

»Woher willst du plötzlich wissen, dass er dein Vater ist? Es ist doch nur ein Gerücht, das Dschutschi herumerzählt.« Jesutai verzweifelte an meiner Entschlossenheit, während ich vor lauter Ungeduld nun auch sein Pferd sattelte.

»Ich weiß es nicht, Jesutai. Aber ich will es wissen!«

»Wenn du dir etwas in den Kopf setzt, dann wird es zum Naturgesetz!«, beschwerte sich Jesutai.

»Du wirst dich noch wundern, Jesutai!«

Das sollte er wirklich. Aber nicht so, wie ich es in diesem Augenblick dachte.

Dschamugas Ordu befand sich zwei Tagesritte südöstlich von Todas Lager, gerade noch auf dem Gebiet des Mongol Ulus und so weit entfernt wie möglich vom Ordu des Khan. Jesutai hatte beschlossen, mich zu begleiten. Er wusste, dass er gegen mich keine Chance hatte, wenn er unsere Freundschaft nicht riskieren wollte.

Als wir im Ordu eintrafen, war Dschamuga mit seinen Männern zur Jagd geritten. Jesutai und ich besuchten zuerst die Jurte seiner Ersten Gemahlin. Dschamuga hatte drei Söhne, Turai, Aldschai und Togan, und eine Tochter namens Morghan. Mit meinen Brüdern verstand ich mich, als wären wir zusammen aufgewachsen.

Jesutai und ich halfen ihnen auf der Pferdeweide, Pferche zu bauen. »Wann kommt dein Vater zurück, Aldschai?«, fragte ich, während wir gemeinsam die Stangen in den Boden schlugen.

»In ein paar Tagen«, sagte Aldschai.

»Zieht er nicht mit dem Khan in den Krieg?«, fragte ich und bemühte mich um einen möglichst desinteressierten Tonfall.

»Ich weiß nicht. Ich glaube, er hat sich noch nicht entschieden«, sagte Aldschai. »Der Khan hatte vor einigen Tagen einen Pfeilboten gesandt, aber bisher hat mein Vater nicht reagiert. Dann ist er zur Jagd aufgebrochen.«

Wollte sich Dschamuga aus dem Krieg gegen die Kereit und die Naiman heraushalten? Mit welcher Absicht? Was war dran an Mukalis Befürchtungen, dass Dschamuga dem Khan in den Rücken fiel, sobald er von seinem Feldzug zurückkehrte?

»Warum willst du das wissen?« Aldschai befestigte die Stange.

Ich antwortete nicht. Was sollte ich ihm auch sagen? Dass ich seinen Vater für meinen Vater hielt? Dass ich sein Bruder war?

Jesutai kam zu uns herüber. »Turai, Togan und ich reiten auf die Murmeltierjagd. Kommt ihr mit?«

»Ja«, sagte Aldschai.

»Nein«, sagte ich. Ich musste nachdenken.

Jesutai drang nicht weiter in mich. Er kannte mich zu gut, um noch ein einziges Wort über meine Entscheidung zu verlieren.

»Tenger, himmlischer Vater«, begann ich mein lautloses Gespräch, »warum machst du es mir so schwer?«

Keine Antwort. Kein Blitz. Kein Donner. Nicht einmal eine Wolke. Hatte er mich nicht gehört? Über mir wölbte sich ein Himmel aus kobaltblauem chinesischem Porzellan. Ich schloss die Augen und setzte meine Unterhaltung mit Gott fort. »Seit ich denken kann, bin ich auf der Suche nach meinem Vater.«

Seltsamerweise glaubte ich, dass Tenger das wusste. Aber statt einer Antwort entstand in meinem Geist ein Wort. Ein Wort nur: Wozu?

Wenn die Frage Warum gelautet hätte, hätte ich Tenger eine Antwort geben können, die mit einer Begründung begann. Weil ich jemanden suchte, dem ich mich anvertrauen konnte. Weil ich jemanden brauchte, der mich dazu brachte, das zu tun, was in mir steckte. Weil ich einen Vater haben wollte, wie jeder andere Mensch auch. Weil ... hundert Gründe.

Aber Wozu? Das stellte die Suche an sich in Frage. Und das Ziel.

»Wozu sucht der Mensch Gott?«, konterte ich ärgerlich.

Tenger antwortete nicht, aber ich vermutete, dass er über meine Frage schmunzelte. Ich ließ mich nicht herab, Tenger meine Version der Antwort zu verraten.

Ich lauschte eine Weile dem Zirpen der Grillen im hohen Gras. Dann wandte ich mich wieder dem himmlischen Vater zu. »Wer ist mein Vater?«, versuchte ich ihn zu überrumpeln.

Keine Antwort. Selbst die Grillen verstummten für einen atemlosen Augenblick.

»Ist es Dschingis Khan?«

Die Grille, die sich eine Armlänge von mir entfernt an einen Grashalm klammerte, zirpte ein Mal.

»Oder Dschamuga?«

Die Grille zirpte zwei Mal.

Ich lag mit geschlossenen Augen im Gras und ließ die warme Herbstsonne in mein Gesicht scheinen, als sich Morghan neben mich setzte. »Du bist nicht mit den anderen geritten.« Das war keine Frage.

»Nein«, sagte ich.

»Warum nicht? Bist du krank, Temur?«

Ja, ich glaubte wahnsinnig zu werden. »Nein«, sagte ich.

»Warum liegst du dann seit Stunden wie tot im Gras?«, fragte sie.

Ich richtete mich auf. »Hast du mich beobachtet?«

Sie lächelte und ließ sich in das Gras fallen. Dann drehte sie sich zu mir um und strahlte mich an. »Ja, ich habe dich beobachtet. Ich will dich etwas fragen, Temur. Bin ich hübsch?«

»Du bist sogar sehr schön, Morghan. Du bist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe.« Und das stimmte sogar.

»Findest du mich nett?« Ich konnte ihrem Blick nicht ausweichen.

»Ich mag dich sehr, Morghan.«

»Jesutai hat mir erzählt, dass du noch keine Braut hast.«

»Das stimmt. Mein Stiefvater und ich waren unterwegs zu den Kereit, als Buyuruk Khan Togrul Khan angriff. Irgendwie haben wir es seitdem nicht geschafft, noch mal ...«

»Ich bin auch noch nicht versprochen«, unterbrach sie mich und lächelte mich an. Sie war schön wie eine Blume. »Darf ich dich küssen, Temur?«, fragte sie. Dschamugas Tochter setzte ihre Eroberung meines Körpers fort, ohne Zeit zu vergeuden. Bevor ich antworten konnte, hatte sie sich über mich gebeugt und drückte ihre feuchten, warmen Lippen auf die meinen.

Zuerst war ich zu überrascht, um mich zu wehren. Und dann wollte ich ihr nicht mehr widerstehen, denn sie küsste wirklich gut.

Morghan sah überrascht auf, als ich nicht nur ihren Kuss erwiderte, sondern auch begann, ihre Terleg aufzuknöpfen.

Ich zog sie wieder zu mir herunter und setzte mein Küssen fort, während meine Linke unter den gefütterten Stoff fuhr. Ihre Brüste waren klein und fest und reagierten auf mein Streicheln.

Wieder ließ sie von mir ab und sah mir ins Gesicht. »Hast du es schon einmal getan, Temur?«

»Nein«, hauchte ich in ihr Ohr.

»Willst du?«, fragte sie und begann, meine Deel aufzuknöpfen.

Ich wusste nicht, ob ich es wollte oder nicht. Ich war erregt. Mein Körper stand in Flammen.

Sie wartete meine Antwort nicht ab.

Während des Abendessens setzte ich mich nicht neben Morghan. Ich konnte ihre Nähe, ihre Wärme nicht ertragen. Dafür war ich ihren Blicken ausgeliefert. Immer wieder trafen sich unsere Hände, beim Verteilen des Airag, beim Weiterreichen der Trinkschalen, beim Austeilen des Fleisches. Es war unvermeidlich.

Ich wusste nicht mehr, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte. Wir waren an diesem Nachmittag auf der Weide weit gegangen, sehr weit. Immer noch konnte ich ihre weichen Hände auf meiner Haut spüren, wie sie an meinem Bauch entlang glitten. Immer noch spürte ich ihre Lippen auf meiner Stirn, meinen Wangen, an der Stelle hinter den Ohren, die so furchtbar kitzelig war, auf meinen Lippen ...

»Wenn du von deiner Himmelsreise zurückgekehrt bist, kannst du mir den Schlauch mit Airag reichen!«, sagte Jesutai neben mir und zog mich in diese Welt zurück.

Ich starrte ihn an, als habe ich nicht verstanden. Dann schenkte ich seine Trinkschale voll.

Morghan ließ mich nicht aus den Augen. »Du machst Himmelsreisen, Temur?«, fragte sie.

Jesutai antwortete für mich. »Temur wird einmal ein großer Schamane. Er hat bei Kökschu gelernt.«

Morghan sah mich an, als sei ich ein Gesandter des Himmelsgottes. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass mir ihre hemmungslose Bewunderung nicht gefiel. Die Blicke ihrer ... meiner Brüder nahm ich nur am Rande meiner Aufmerksamkeit wahr.

Ich nickte. Was sollte ich auch sagen, nachdem Jesutai die Frage so umfassend beantwortet hatte?

Jesutai sah von mir zu ihr und wieder zu mir. Dann konzentrierte er sich grinsend auf das Murmeltierfleisch an der Spitze seines Dolches.

Aldschai war zu dieser Zurückhaltung nicht fähig. »Habt ihr zwei heute Nachmittag schon einen Hochzeitstermin festgelegt?«

Morghans Gesicht erstrahlte wie roter Mohn.

»Jetzt weiß ich, warum du nicht mit zur Jagd geritten bist, Temur!«, stichelte er. »Habt ihr es getan

Morghan und ich sahen uns an und mussten beide lachen. Dann sah ich Aldschai und seine Brüder an und fragte ernst: »Was getan?«

»Habt ihr miteinander Wolken und Regen gespielt?«, fragte nun auch Turai.

»Ich wüsste nicht, was euch das angeht«, sagte ich.

»Natürlich geht uns das etwas an, wenn du mit unserer Schwester schläfst«, sagte nun auch Togan.

»Was wolltet ihr dagegen unternehmen?«, fragte ich trotzig.

»Nichts«, sagte Turai als ältester der Brüder. »Denn wir mögen dich, Temur. Wenn du willst, kannst du Morghan haben. Wenn Vater einverstanden ist, kannst du sie vielleicht sogar heiraten.«

Diese Nacht war eine der längsten meines Lebens. Ich lag neben Jesutai, der sich im Schlaf in den Großteil unserer Filzdecke gewickelt hatte. Auf der anderen Seite der Feuerglut schlief Turai auf seiner Filzmatte.

Es war lange nach Mitternacht, als sich die Filzdecke am Eingang der Jurte hob. Jemand stand im Mondschein im Eingang und lauschte auf die Geräusche der Schlafenden. »Temur!«, flüsterte sie. Woher wusste sie, dass ich nicht schlief?

Als ich auch auf einen zweiten Ruf nicht reagierte, schlich sie ins Zelt. Sie wusste, wo ihr Bruder schlief und kam durch die Dunkelheit zu Jesutai und mir herüber gekrochen.

»Warum bist du nicht gekommen, Temur?«, flüsterte sie in mein Ohr, um ihren Bruder und ihren Cousin nicht zu wecken.

»Ich wollte nicht«, log ich.

»Warum nicht?«, fragte sie, als sie die Decke hob und neben mich glitt. Dabei streifte sie die Ärmel ihrer Terleg ab. Sie war nackt. »Ich habe auf dich gewartet.«

Mit einem Ruck zog sie Jesutai die Decke weg, die sie wie ein Zelt über uns breitete. »Du hast einen schönen Körper, Temur«, schmeichelte sie. Ihre Hände streichelten meinen Bauch und glitten tiefer. »Einen starken Körper! Gewisse Teile von dir sind sehr stark.«

Ich ahnte, welche Teile sie meinte und schwieg. Ich genoss jede Bewegung, die sie machte. Ungeduldig öffnete sie den Verschluss meiner Hose. Dann bestieg sie mich, wie man ein Pferd besteigt. Sie saß mit gespreizten Beinen auf mir und beugte sich weit nach vorne, damit sie mich küssen konnte.

Als Morghan sich zurechtlegte, erwachte Jesutai und drehte sich zu uns um. »Müsst ihr euch dabei unterhalten?«, murrte er schlaftrunken.

Morghan ließ sich von ihrem Cousin nicht stören. Sie änderte nicht einmal ihren Rhythmus und auch ich nahm nur aus dem Augenwinkel wahr, wie Jesutai uns die Decke wegzog und die Jurtenseite wechselte, um neben Turai weiterschlafen zu können.

Ich weiß nicht, wie lange sie auf mir ritt, ob es Augenblicke oder Stunden waren. Ich empfand mehr Lust als beim wilden Galopp durch die Steppe, mit dem kühlen Wind in meinen Haaren, der seidigen Luft auf meiner Haut und der Sonne im Gesicht. Etwas in mir erwachte. Etwas, das vorher nicht da war. Etwas, das das Leben lebenswert machte: die Sinnlichkeit.

Morghans Körper verkrampfte sich, als wollte sie mit ihrem Pferd über ein hohes Hindernis springen. Sie richtete sich auf, zog die Beine an und ihre Bewegungen wurden schneller. Sie keuchte, als würde sie wirklich galoppieren. Als sie zum Sprung ansetzte und sich auf mich warf, zerbarst ich in einem Funkenflug der Lust.

Für einen winzigen Augenblick fühlte ich mich Gott nahe. Dann war er wieder so fern wie zuvor.

Morghan rollte sich von mir herunter und lag in meinem Arm.

»Seid ihr endlich fertig?«, hörte ich Turai von jenseits der Feuerglut fragen. »Das muss ja mächtig Spaß gebracht haben!«

Ich warf ihm einen giftigen Blick zu und zog Morghans Terleg über uns, denn Jesutai hatte die Schlafdecke mitgenommen.

Als ich bei Sonnenaufgang erwachte, war sie verschwunden. Turai und Jesutai schliefen noch, als ich mich anzog, um zum Fluss hinunter zu gehen.

Ich war froh, dass ich Morghan noch nicht begegnete. Ich hätte ihr nicht in die Augen sehen können. Ich war in Dschamugas Ordu gekommen, um einen Vater zu suchen. Ich hatte all meinen Mut aufbringen müssen, um mich meiner Vergangenheit zu stellen, wie auch immer die Konsequenzen waren. Nun war alles anders. Ich war verliebt in Dschamugas Tochter, die vielleicht meine Schwester war. Wie sollte ich mich ihr gegenüber verhalten?

Ich setzte mich an das Ufer des Flusses und betrachtete das Wasser. Was geschehen war, war geschehen. Ich hatte mit ihr geschlafen. Der Fluss fließt nur in eine Richtung. Stromabwärts. Sollte ich den Mann, den ich fragen wollte, ob er mein Vater war, um die Hand seiner Tochter bitten? Und wenn ich nun doch sein Sohn war? Dann hätte ich mit meiner Schwester die Nacht verbracht. Ich schüttelte den Kopf, um die irrsinnigen Gedanken loszuwerden, aber es gelang mir nicht. Was sollte ich tun? Den Weg weitergehen, den Morghan und ich beschritten hatten? Vor ihr fliehen und in mein Ordu zurückkehren, um sie nie wiederzusehen? Ich wollte beides, mich ihr hingeben und vor ihr fliehen, ich wollte nichts von beidem, wollte bleiben und die fremden, süßen Gefühle genießen, die schon ihre Blicke in meinem Körper hervorriefen und sie einfach nur ansehen.

Jesutai setzte sich neben mich ins Gras, nachdem er sich das Gesicht gewaschen hatte. Ich war froh, dass er mir nicht einmal einen guten Morgen wünschte, sondern einfach nur neben mir saß. »Jetzt hast du wirklich ein Problem«, sagte er, als ob ich das nicht wüsste.

An diesem Nachmittag kehrten Dschamuga und seine Gefolgsleute von der Jagd zurück. Noch während die erlegten Murmeltiere von den Sätteln gehoben wurden, traf ein Pfeilbote des Khan ein.

Dschamuga machte sich nicht die Mühe, ihn in seine Jurte zu führen, sondern nahm die Nachricht seines Anda entgegen, bevor der Bote noch absteigen konnte, um eine Schale Airag zu leeren. Dschamugas Verhalten war dem Boten des Khan gegenüber unhöflich und beleidigend. Ich sattelte mit Aldschai zusammen Dschamugas Lastpferde ab, die mehrere Dutzend Murmeltiere trugen und so konnte ich hören, was der Bote auszurichten hatte.

»Was will Temudschin von mir?«, fragte Dschamuga, als sei ihm nicht bekannt, dass sein Anda nun Dschingis Khan war.

»Der Khan bittet Euch, an dem Feldzug teilzunehmen, Fürst Dschamuga.«

»Er hatte mir vor Wochen bereits einen Boten gesandt, den ich mit meiner Antwort zu ihm zurückgeschickt hatte.«

»Der Khan hofft auf eine Antwort, die ihm besser gefällt als die letzte.«

»Ich kann nichts dafür, wenn ihm meine Antworten nicht gefallen.«

»Ich soll Euch ausrichten, dass Togrul Khan Euch einen erheblichen Beuteanteil versprochen hat, Fürst Dschamuga.«

»Togrul Khan verspricht mir Beute? Ist der alte Falke schon wieder in Amt und Würden? Ist sein Bruder denn bereits geschlagen? Große Worte eines alten Mannes!« Dschamuga spuckte ins Gras. »Warum schickt mir Togrul keinen Boten, wenn er Krieg führen will?«

»Die Kereit stehen unter dem Kommando von Dschingis Khan.«

»Dann erwartet Temudschin also allen Ernstes, dass ich für ihn Krieg führe, dass ich das Leben meiner Männer riskiere, um ihm zu helfen, den alten Falken wieder in den Sattel zu helfen? Das ist ...« Dschamuga verriet dem Pfeilboten nicht, was er davon hielt und ging einige Schritte auf und ab.

Aldschai half mir, den Sattel vom Pferd zu heben und die Murmeltiere ins Gras zu legen.

Dschamuga hatte seine Wanderung beendet und war zum Boten zurückgekehrt, der wie eine Statue auf seinem Pferd hockte und nicht abzusteigen wagte. »Reite zurück«, befahl er dem Reiter, »und sag dem Khan, dass ich kommen werde. Mit meinen Männern.«

In der gleichen Nacht begann Dschamuga seine Pfeile zu sortieren, sein Schwert zu schärfen und seine Söhne halfen ihm dabei, die Satteltaschen mit Proviant aus Trockenfleisch und Käse zu füllen.

Ich saß stumm daneben. Ich hatte nichts zu tun als zuzusehen. Und zuzuhören.

Ich hatte während des ganzen Nachmittags keine Gelegenheit, allein mit Dschamuga zu sprechen. Die meiste Zeit war er von seinen Offizieren umringt gewesen, die aus den Nachbarlagern herbeigerufen worden waren.

Den ganzen Nachmittag und den halben Abend waren Pläne wie Schwerter geschmiedet, an Heeresformationen und Schlachtordnungen herumgefeilt worden wie an Pfeilen. Dschamuga war nicht eine Minute allein gewesen.

»Werdet Ihr Euch nun doch dem Khan anschließen?«, fragte Turai.

»Nein, Turai. Ich werde mich Togrul anschließen. Ich habe Temudschin keinen Treueschwur geleistet. Ich folge, wem ich will.«

»Warum unterstützt Ihr Togrul, wenn der sich doch bereits Dschingis Khan unterworfen hat?«

Dschamuga sah Turai an, als wollte er ihn schlagen. Aber Turai war zwölf Jahre alt und ließ sich von seinem Vater nicht einschüchtern.

»Togrul ist nicht zu trauen. Wenn ich ihn unterstütze und er wieder Khan der Kereit ist, wird er sich gegen Temudschin wenden und mit mir ein Bündnis schließen.«

»Aber wenn ihm nicht zu trauen ist, Vater, wieso sollte er dann den Khan verraten und Euch nicht?«

Dschamuga sah Turai nachdenklich an. »Togrul ist ein Mann mit dem Blick und den Gedanken eines Falken, während Cousin Temudschin von seinen eigenen Vision geblendet ist. Er hält vieles für die Wirklichkeit, was nur in seinen Gedanken und Träumen existiert. Togrul wird Temudschins Himmelsreise beenden und ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Das wird Temudschin nicht gefallen. Er ist in den letzten Jahren sehr selbstgefällig geworden. Er hat vergessen, wie schwach wir Mongol sind. Er hat aus Angst vor einer Niederlage vorsichtshalber gar nicht erst Krieg geführt. Jetzt fühlt er sich stark und glaubt, die Kereit und die Naiman besiegen zu können. Und wenn er einem dankbaren Togrul seinen Titel zurückgegeben hat, dann wird er sich auf mich stürzen. Er wird nicht erst in sein Ordu zurückkehren und seine Pferde absatteln, sondern nach Osten ziehen.«

Turai sah seinen Vater mit großen Augen an. »Ihr meint, dass er uns angreifen wird?«

»Warum sollte er das tun, Vater?«, fragte Aldschai, der bisher geschwiegen hatte.

»Ich war einer der wenigen Fürsten, die ihn vor acht Jahren nicht gewählt haben. Satscha, Altan und Kuschar haben ihn gewählt, wenn auch nur widerwillig. Satscha und Buriboko sind bereits tot. Man sagt, dass er gerade einen Streit mit Altan und Kuschar anfacht. Der Khan wird seine ganze Familie umbringen, um an der Macht zu bleiben.«

»Sind wir auch mit ihm verwandt, Vater?«, fragte Alschai.

»Weitläufig«, sagte Dschamuga. »Aber verwandt genug, damit er sich mit mir anlegt. Ich bin ihm im Weg, wohin er auch gehen will. Und er weiß, dass ich das weiß und deshalb will er mich lieber tot als lebendig sehen. Er ist geradezu besessen von der Idee, mich aus dem Weg zu räumen.«

»Aus dem Weg zu räumen? Aus dem Weg wohin, Vater?«

»Zur Macht. Zur Alleinherrschaft. Im Moment regiert er nur von unseren Gnaden. Wenn sich die Fürsten zur Abwechslung einig wären, könnten wir ihn jederzeit absetzen. Wir müssten uns nur auf einen neuen Khan einigen, ihn auf eine weiße Filzdecke stellen und ihn in den Himmel heben.«

»Und ... wer könnte dieser neue Khan sein, Vater?«

»Ich, mein Sohn. Ich werde dieser neue Khan sein!«

Ich ritt, als ob die Steppe hinter mir Feuer gefangen hätte. Der kühle Wind riss meine verwirrten Gedanken mit sich fort.

Jesutais weißer Hengst konnte mit meinem Feuerpferd kaum Schritt halten. Immer wieder warf mir mein Anda einen fragenden Blick zu, dem ich aber auswich. »Fliehen wir vor irgendjemandem, Temur?«, rief Jesutai zu mir herüber. »Oder hast du nur schlecht geträumt?«

Ich antwortete nicht und trieb das Feuerpferd zu noch schnellerem Galopp an. Jesutai folgte mir fluchend. »Hat die Nacht mit Morghan dir die Sprache geraubt?«

»Halt den Mund, Jesutai!«, schrie ich ihn an.

»Das tue ich seit wir heute Früh das Ordu verlassen haben. Seither hast du kein Wort mit mir gewechselt. Ich weiß weder, warum wir so überstürzt aufgebrochen sind, noch wo du eigentlich hinwillst.«

»Das weiß ich selbst nicht«, sagte ich so leise, dass Jesutai mich nicht verstehen konnte.

»Sprichst du mit dir selbst?«, rief er zu mir herüber.

»Ich denke nach!«, schrie ich zurück.

»Dann teil mir gefälligst deine Gedanken mit, wenn ich dir schon folgen soll!«

Als ich nicht reagierte, zügelte er seinen Hengst und blieb mitten in der Steppe stehen. Fluchend wendete ich Gal und ritt in einem weiten Bogen zu ihm zurück.

»Sprich mit mir! Vielleicht kann ich deine Gedanken verstehen, wenn du sie mir erklärst. Aber benutze bitte einfache Worte, denn ich bin nur ein Sterblicher und unternehme keine Himmelsreisen wie du. Warum reiten wir, als wäre das Heer der Chin hinter uns her?«

»Weil ich es eilig habe«, sagte ich und suchte den Horizont ab.

»Das wäre mir ohne deine Erläuterung nicht aufgefallen, Temur!«, sagte Jesutai sarkastisch. »Und wohin reiten wir? Weder mein noch dein Ordu liegen in dieser Richtung.«

»Wir reiten nicht nach Hause, Jesutai. Ich will zum Khan.«

Jesutai sah mich an, als hätte ich Hanyu mit ihm gesprochen. »Du willst zum Khan? Du willst mitten ins Schlachtgetümmel?«

Jesutais Begriffsstutzigkeit ging mir auf die Nerven. Er hielt mich nur von meinem Vorhaben ab. »Für einen Sterblichen begreifst du schnell!« Warum hatte ich ihn überhaupt mitgenommen? »Wenn du keine Lust hast, mich zu begleiten, kannst du ja zurückreiten zu deiner Mutter.«

»Wann hättest du dich herabgelassen, mich in deine Pläne einzuweihen? Was wollen wir überhaupt beim Khan?«

»Ich will ihn vor Dschamuga warnen. Er wird versuchen, den Khan umzubringen, weil er sich selbst wählen lassen wird.«

Jesutai schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht folgen«, sagte er und im ersten Augenblick wusste ich nicht, was er meinte. »Wir sind zu Dschamuga geritten, weil du überzeugt warst, dass er dein Vater ist. Das habe ich ja schon für reichlich verrückt gehalten. Und dann deine stürmische Affäre mit Morghan. Warum kriechst du mit deiner eigenen Schwester zwischen die Felle? Und jetzt dies ... Ich verstehe dich nicht, Temur.«

»Ich verstehe mich selbst nicht, Jesutai. Verwirr mich nicht noch weiter!«

»Das kann ich gar nicht, Temur. Das Chaos in deinem Kopf kannst nur du selbst überblicken. Wem versuchst du eigentlich treu zu sein? Dem Khan? Deinem Vater? Deinem Stiefvater?«

Ich hatte Dschingis Khan keinen Treueschwur geleistet. Noch nicht. Mit Dschamuga verband mich nichts. Fast nichts. Wenn er nicht mein Vater war, würde er vielleicht eines Tages mein Schwiegervater sein. Wenn Morghan mich dann noch wollte. Ich mochte Mukali, aber konnte er mir mehr sein als der Gemahl meiner Mutter?

»Mir selbst versuche ich loyal zu sein«, sagte ich. »Ich tue das, was ich für richtig halte.«

Jesutai sah mir in die Augen. »Das ist eine Aussage, mit der ich etwas anfangen kann. Ich bin dein Anda, Temur. Wenn du mich um meine Hilfe bittest, werde ich sie dir nicht verweigern. Das habe ich geschworen. Aber bitte mich und befiehl mir nicht, dir zu folgen!«

Er trieb seinen Hengst an und galoppierte an mir vorbei. Erst kurz vor dem Horizont konnte ich Jesutai einholen.

Meine Mutter sah nicht einmal von ihrer Näharbeit auf, als mein Anda und ich ihr Zelt betraten. »Du warst lange weg, Temur!«

Der Ritt ins Feldlager des Khan im Land der Kereit hatte fast eine Woche gedauert. Ich hatte Dschingis Khan vor Dschamugas Verrat gewarnt. Noch am gleichen Tag waren Jesutai und ich zurückgeritten.

Ich hatte mit mehr Vorwürfen gerechnet und nahm erleichtert am Herdfeuer Platz, um Jesutai und mir Airag einzuschenken.

»Wie geht es deinem Stiefvater?«, fragte meine Mutter.

Beinahe hätte ich meine Trinkschale fallengelassen. »Als wir ihn vor ein paar Tagen verließen, ging es ihm gut. Woher wisst Ihr ...?«

»Temur, du bist vor etlichen Wochen weggeritten, hast aber nur Proviant für drei oder vier Tage mitgenommen. Da du innerhalb dieser Zeit nicht zurückgekehrt warst, hatte ich angenommen, dass du dich im Lager von Toda aufhältst und bei Jesutai wohnst.« Meine Mutter wendete die kleine Deel, die sie für meine Schwester nähte, um die Naht zu prüfen. »Als du zwei Wochen weg warst, bin ich zu Toda geritten, um nach dir zu sehen. Toda war erstaunt über meinen Besuch. Er erzählte mir, dass du nur ein paar Stunden im Ordu warst und mit Jesutai weggeritten bist. Er wusste nicht wohin. Aber seine Frau wusste es.« Sie wendete die Deel erneut und hielt den schmalen Streifen aus Wolfspelz an den Kragen. Sie schnitt die überstehenden Enden ab und begann, den Streifen an der Deel festzunähen. »Ich bin zurückgeritten und habe auf dich gewartet. Oder auf eine Nachricht von dir.« Sie sagte das in einem Tonfall, als habe sie von mir nichts anderes erwartet. »Als ich annehmen musste, dass du nicht mehr wiederkommst, habe ich meine Mutter besucht.«

»Warum wart Ihr überzeugt davon, dass ich nicht wiederkomme?«

»Du bist auf der Suche nach deinem Vater, Temur. Hast du ihn gefunden?«

»Nein. Woher wusstet Ihr, dass ich bei Mukali war?«

»Ich habe Kökschu getroffen. Er hat dich gesucht und gefunden. Er hat mir gesagt, wo du warst.«

»Ihr habt mit Kökschu gesprochen? Ich dachte, Ihr hasst ihn ...«

»Ich hasse ihn nicht. Ich hatte ihm lediglich verboten, dich das Schamanen zu lehren. Aber da du es nun ohnehin gelernt hast und sich die Prophezeiung zu bewahrheiten beginnt ...« Den Schluss ließ sie offen. Sie hielt den Blick gesenkt. Tränen tropften aus ihren Augen auf die seidene Terleg.

Jesutai stand wortlos auf und ließ uns allein.

Ich setzte mich neben meine Mutter, legte das Nähzeug zur Seite und ergriff ihre warmen Hände. »Habt Ihr solche Angst, dass ich meinem Vater nachfolge?«, fragte ich sie sanft und wischte ihr die Tränen mit meinem Ärmel aus dem Gesicht.

»Ich habe furchtbare Angst davor, dass du so wirst wie er!«, schniefte sie. »Er ist so ... grausam. Er hat mich so gequält.«

»Wie hat er Euch gequält, Mutter?«

»Er hat mich mein Schicksal selbst wählen lassen. Ob ich bei ihm bleibe oder gehe. Er sagte, jeder Mensch sei frei zu gehen wohin er will. Als ich ihn daran erinnerte, dass meine Anwesenheit in seinem Bett nicht freiwillig gewesen war, lachte er unverschämt und sagte, er habe gedacht es hätte mir Spaß gebracht.« Ein Wildwasser von Tränen lief über ihr Gesicht.

»Hat es Spaß gebracht?«

»Ja!«, sagte sie und wandte den Blick ab.

»Warum hasst Ihr meinen Vater dann? Er hat Euch nicht mit Gewalt festgehalten und im Bett ...«

»Schweig, Temur! Du weißt nicht, was du redest!«, rief sie.

»Ich weiß es sehr wohl, Mutter!«, sagte ich lauter als beabsichtigt. »Ihr seid so verblendet in Eurem Hass, dass Ihr Euch fürchtet, die Prophezeiung könnte wahr werden. Merkt Ihr denn nicht, dass Ihr selbst es seid, die die Prophezeiung wahrmachen wird? Nur weil Ihr so beharrlich schweigt, habe ich mich auf die Suche nach meinem Vater gemacht. Nur weil Ihr ein unergründliches Geheimnis daraus macht, werde ich bis jenseits des Horizontes nach ihm suchen. Und eines verspreche ich: Ich werde ihn finden

Wenige Tage nach Jesutais Abschied kam der Winter. Und mit dem Schnee kam ein Chin-Händler ins Lager.

Viele Abende verbrachte ich im Zelt des Händlers. Ich hatte noch nicht alle Worte vergessen, die ich vor Jahren gelernt hatte und konnte mich mit dem Chin mit einer Sprache, die zur Hälfte aus Mongolisch und zur anderen Hälfte aus Hanyu bestand, verständigen. Meistens lachte er wegen meiner Aussprache, die er sofort korrigierte. Stundenlang sang er mir die Wörter vor und erklärte mir ihre Bedeutung, indem er auf den entsprechenden Gegenstand deutete. Als er mir auf Mongolisch zu sagen versuchte, dass er stolz sei, mich Hanyu lehren zu dürfen, lachte ich Tränen. Irgendwann nach Tsagaan Sar begann er mich die ersten Schriftzeichen zu lehren.

»Sie kommen! Sie kommen zurück!«

Ich vernahm den Ruf der von den Weiden herangaloppierenden Pferdehirten, als ich in der Abenddämmerung in meine Jurte zurückkehren wollte. Ich hatte den Nachmittag mit den Chin-Händlern verbracht, die mir ihre Landkarten gezeigt hatten. Mit dem Finger auf dem Leder und in Gedanken war ich an diesem Tag in den westlichen Reichen von Xi Xia und Kara Khitai gewesen.

Ein Achtjähriger galoppierte durch das Ordu, schwang seine Reitpeitsche über dem Kopf und rief immer wieder: »Sie kommen! Sie werden hier sein, bevor die Sonne untergegangen ist! Sie haben schon die äußeren Weiden erreicht.«

Ich überlegte nicht lange, band Gal los, schwang mich in den Sattel und ritt den Kriegern entgegen. Am Zelt meiner Mutter machte ich kurz Halt. Mit der Reitpeitsche schlug ich auf das Filzdach der Jurte und rief: »Mutter, Mukali kehrt zurück! Ich reite ihm entgegen!«

Als sie im Jurteneingang erschien, hatte ich das Feuerpferd bereits gewendet und galoppierte davon. Viele Söhne und Töchter hatten die gleiche Idee wie ich und folgten mir.

Vor dem Ordu zügelte ich Gal und erwartete die anderen. Wir wechselten einige Bemerkungen, dann bildeten wir die oft geübte Formation. Zwanzig Jungen und Mädchen bildeten das Zentrum, die beiden Flügel bestanden aus zwei Reihen von Reitern, die wie die Schwingen eines Adlers leicht nach vorne geneigt waren. In dieser Aufstellung trabten wir über die Weiden, der untergehenden Sonne entgegen. Ich drehte mich um und sah die rotgoldene Staubwolke über dem Ordu schweben. Als Mukalis Krieger als kleine Punkte am Horizont auftauchten, gab ich das Zeichen zum schnellen Vorrücken.

Wir hieben alle gleichzeitig mit unseren Peitschen auf die Pferde ein, die in einen wilden Galopp verfielen. Der Wind wehte durch unsere Haare, der feine, aufgewirbelte Staub streichelte unsere Gesichter. Mit vornübergeneigtem Kopf rasten die Pferde über die flache Ebene, wir lagen in den Sätteln und beugten uns tief über die Mähnen unserer Tiere.

Als Mukalis Krieger noch dreihundert Schritte von uns entfernt waren, befahl ich: »Angriff!« In einer weiten Schwenkbewegung umzingelten wir die heimkehrende Karawane. Mukali zügelte sein Pferd und verfolgte mich mit seinen Blicken. Ich galoppierte hinter meinem rechten Flügel her, umrundete die umstellten feindlichen Truppen und kehrte hinter meinem linken Flügel wieder an meine Position zurück.

Mittlerweile waren die Heimkehrer unter lautem Johlen stehen geblieben und winkten und riefen ihre Söhne und Töchter, ihre Brüder und Cousins. Aus meinen Reihen wurden versteckte Grüße herübergerufen und verstohlen gewunken.

Direkt vor Mukali zügelte ich mein Pferd. »Seid Ihr zur Übergabe bereit, Noyan? Übergebt mir sofort die Beute, dann werde ich Euch freies Geleit zusichern!«

Mukali begann zu lachen. Ich lenkte Gal neben sein Pferd und setzte ihm die Spitze meiner Reitpeitsche an die Kehle, als wäre sie ein Schwert.

»Ich ergebe mich, Temur Noyan! Ihr könnt meine ganze Beute haben, aber lasst mich leben!« Mukali winkte mir, ihm zu folgen. Gemeinsam ritten wir an der Karawane der Heimkehrer entlang. Väter und Söhne, Brüder und Cousins hatten sich mittlerweile gefunden und fielen sich in die Arme. Meine Schlachtordnung hatte sich vollständig aufgelöst.

In der Mitte der Karawane ritt ein verschleiertes Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren. Sie hatte ihr Pferd gezügelt und betrachtete die Freude der Heimkehrer um sich herum. Als sie Mukali und mich auf sich zukommen sah, senkte sie den Blick und zog den Schleier aus weißer Seide über die Nase, sodass ich nur ihre großen Augen sehen konnte. Augen wie aus grüngoldener Jade. Sie schien zu wissen, wer ich war.

»Wer ist das?«, fragte ich leise.

»Das ist Kokatschin. Sie ist Togrul Khans Enkelin. Der Kereit Khan hat beschlossen, sie mit einem Mongol zu verheiraten und Dschingis Khan hat entschieden, sie dir zu geben«, erklärte Mukali.

»Mir

»Ich habe Togrul Khan erzählt, er sei daran schuld, dass du noch keine Braut hast und er fühlte sich verpflichtet, diese Schuld zu begleichen. Und Dschingis Khan will dich für deinen Mut auszeichnen, ihn vor Dschamuga gewarnt zu haben. Deine Vermutungen waren zutreffend, Temur!«

»Auszeichnen?«, fragte ich.

»Eigentlich sollte Kokatschin Dschutschi heiraten, aber der Khan hat anders entschieden. Er will ein Bündnis mit Togrul.«

»Aber dann soll er doch einen seiner Söhne ...«

»Wird er auch, Temur! Aber er will meine Familie an sich binden. Und deshalb ist es sein Wunsch, dass du Kokatschin heiratest«, sagte Mukali in einem Tonfall, dem ich nicht zu widersprechen wagte. Jedenfalls nicht an diesem Tag.

Ich war immer davon ausgegangen, dass ich mir die Frau, die ich heiraten wollte, selbst aussuchen konnte. Zumindest die erste meiner Frauen! Ich ritt langsam auf Kokatschin zu. Nun verstand ich ihren Gesichtsausdruck. Sie wusste bereits, dass sie mich heiraten sollte. Was hatte ihr Mukali von mir erzählt? Hatte der Khan ihr seine Gründe erläutert, nicht Dschutschi zu heiraten? Ich war nun genauso verunsichert wie sie.

Ich hielt Gal direkt neben ihrem Hengst und beugte mich zu ihr herüber. Mit der linken Hand hob ich ihren Seidenschleier, um in ihr Gesicht zu sehen. »Ich bin Temur«, flüsterte ich ihr zu.

»Ich weiß«, flüsterte sie zurück.

Kokatschin hatte den Körper einer wilden Rose: schlank, zerbrechlich und wunderschön. Dass diese Rose auch Dornen hatte, lernte ich schnell. Ihre langen Haare fielen wie eine Kaskade aus schimmernder schwarzer Seide über ihre Schultern, nur gehalten durch einen schweren Silberschmuck über ihrer Stirn, dessen verzierte Ohrgehänge bis auf ihre Schultern fielen. Das Faszinierendste an ihr waren jedoch ihre grüngoldenen Augen, die wie die Jade eine Wärme vortäuschten, die dem kalten Stein nicht zueigen war.

Ich neigte mich zu ihr herüber und beroch sie hinter beiden Ohren. Sie roch gut. Nach Blüten. Und da war noch etwas. Angst. Sie war erregt und zitterte vor Angst. Ich ergriff ihre Hand und führte sie an meine Lippen. »Du brauchst keine Angst zu haben, Kokatschin. Ich werde dir nicht wehtun.«

Wenn sie geahnt hätte, wie sehr ich ihr wehtun würde, hätte sie ihr Pferd gewendet und wäre zu ihrem Großvater zurückgeritten.

»Wir waren schon beinahe auf dem Heimweg, als uns Togrul Khan zurückrief.«

Ich schenkte Mukali seine Schale mit Arkhi voll. Er lehnte neben mir in den Kissen. Meine Mutter saß auf der Frauenseite und reichte uns Schalen mit Fleischbrühe. Kokatschin saß etwas abseits und beobachtete uns. Mich.

»Die Naiman hatten seinen Sohn Nilka gefangen genommen. Nilka ist Kokatschins Vater.« Mukali deutete in Richtung des Mädchens, das seine Augen niedergeschlagen hatte. »Dschamuga kam Togrul Khan nicht zu Hilfe und so wandte sich der alte Falke an Temudschin. Er kam selbst in unser Lager. Subotai und ich griffen Buyuruk Khan an und befreiten Nilka. Der Kereit Khan war gerührt, als wir ihm seinen Sohn wiederbrachten. Er erneuerte sein Bündnis mit Dschingis Khan. Er nannte ihn seinen Sohn, nicht seinen Vasallen. Ihr hättet Nilkas Gesicht sehen sollen!«

Mukali hielt mir seine Trinkschale hin, die ich eilig mit Arkhi auffüllte. Ich war begierig zu erfahren, wie sich Dschamuga dem Khan gegenüber verhalten hatte.

»Nilka wäre selbst gerne Khan. Er führt Krieg gegen seinen eigenen Vater, während Togrul Khan ihm alle seine strategischen und diplomatischen Fehltritte nachsieht. Nilka tobte, als sein Vater ihm vorschlug, Dschingis Khans Anda zu werden. Mit seinen Andas hat der Khan nicht viel Glück: Dschamuga intrigiert mit seinen Cousins Altan und Kuschar hinter seinem Rücken und Nilka traut er nicht. Warum er sich trotzdem auf diesen unsinnigen Schwur eingelassen hat, bleibt mir ein Rätsel. Keiner wird für den anderen einen Finger rühren. Mit Dschamuga verstand sich Nilka dagegen während des Feldzuges erstaunlich gut. Die beiden sind aus einem Stück Holz geschnitzt.

Togrul tat, als würde er von den Spannungen zwischen seinem Sohn und dem Khan nichts mitbekommen und bot Dschingis Khan Nilkas Tochter Kokatschin zur Heirat mit einem seiner Söhne an. Der Khan war so klug, Kokatschin dir zur Braut zu geben, Temur.«

»Was sagte Nilka dazu?« Die Reaktion meines künftigen Schwiegervaters interessierte mich. Ich wollte nicht eines Nachts mit einem Messer im Rücken auf meiner Schlafmatte liegen.

»Er hatte nie von dir gehört.«

Wie sollte er auch? Mein Name war mir durch die Steppe noch nicht vorausgeeilt. Aber das sollte sich ändern. Tiger von Chin und Schwert Allahs waren nur zwei der Namen, die man mir gab. Nicht nur mein künftiger Schwiegervater sollte mich hassen und fürchten lernen!

»Der Khan erklärte ihm, dass er Kokatschin einem seiner verdienten Krieger geben wollte. Als Auszeichnung.«

»Das hat er gesagt?«, fragte ich ungläubig.

»Er war froh, dass du ihn vor Dschamuga gewarnt hattest.«

Kokatschin schlief in jener Nacht in meiner Jurte. Ich war mit Mukali noch sitzen geblieben, während sich meine Mutter und Kokatschin zurückzogen, um die Sachen meiner Braut in meine Jurte zu bringen.

Als ich mein Zelt betrat, schwankte ich ein wenig. Mein Stiefvater und ich hatten bei zwei weiteren Schalen Arkhi eine tiefsinnige Unterhaltung über Sinn und Unsinn von erzwungenen Ehen geführt.

»Du kannst so viele Frauen haben, wie du willst, Temur. Aber Kokatschin wirst du heiraten. Der Khan will es so. Er duldet keinen Widerspruch.« Ich würde mich noch oft genug mit dem Khan anlegen. Aber noch nicht.

Kokatschin hatte sich nicht entkleidet und lag mit ihrer Schlafmatte in der von meinem Bett entferntesten Seite der Jurte. Als ich mich auszuziehen begann, drehte sie sich zur Filzwand.

Ich ließ die Terleg fallen, zog meine Stiefel aus und setzte mich ans Herdfeuer. Sie bewegte sich nicht und tat, als sei sie eingeschlafen. Ich stocherte eine Weile schweigend in der Asche des Feuers herum, um die Glut anzufachen. Immer wieder warf ich ihr einen Blick zu.

»Es tut mir leid, wenn Mukali dir mit seinen Äußerungen über deine Familie wehgetan hat«, sagte ich. Ich wusste, dass sie mich gehört hatte, denn sie atmete tief ein. »Ich kann mir vorstellen, wie du dich jetzt fühlst.« Zugegeben, ich hatte nicht die Sprache der Diplomatie gewählt, aber meine Worte zeigten erste Reaktionen. Sie begann leise zu weinen.

Ich kroch zu ihr herüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. Dann beugte ich mich über sie, um ihr ins Gesicht zu sehen, das von ihren Haaren wie von einem schwarzen Schleier verdeckt war.

»Großvater hat mich verkauft wie ein Yak!«, schluchzte sie in den dicken Filz. Ich konnte sie kaum verstehen. »Nur damit mein Vater und Dschingis Khan sich nicht gegenseitig die Weidegründe niederbrennen.«

Ich schwieg und goss mir noch eine Schale Arkhi ein. Arkhi hilft beim Denken. Sie sprach erst wieder, als ich die Schale halb geleert hatte.

»Euch hat man auch verkauft, Temur.«

»Ja«, sagte ich.

»Macht Euch das nichts aus?«

»Doch, es macht mir etwas aus«, sagte ich. »Ich verstehe, warum der Khan diese Entscheidung traf. Aber er wird sich mit mir anlegen, wenn das Bündnis mit deinem Großvater trotzdem scheitert.«

Kokatschin begann unter ihrer Decke zu kichern. »Der Khan wird vor Angst erbeben, wenn Ihr ihm den Krieg erklärt, Temur.«

»Das will ich doch für ihn hoffen!«, erklärte ich großartig. »Ich trage einen großen Namen. Immerhin hat er meine Leistungen im letzten Feldzug dadurch anerkannt, dass er mir eine Prinzessin zur Frau gab.«

Sie lächelte. Das Eis brach. »Ich finde Euch nett«, sagte sie leise.

»Das kannst du gar nicht beurteilen, weil du mich noch gar nicht angesehen hast.«

»Doch, habe ich«, gestand sie.

»Wann?«, fragte ich.

»Vorhin, im Zelt Eures Stiefvaters.«

»Unsinn, Kokatschin. Du hast Löcher in den Filzteppich gestarrt. Du hast mich nicht angesehen.« Sie drehte sich zu mir um. »Ich weiß das genau, Kokatschin, denn ich habe dich angesehen. Du bist sehr schön.« Ich wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht.

Meine Hand glitt über ihre Brüste hinweg zu ihrem flachen Bauch, wo sie liegen blieb. Unter der dicken Schlafdecke und ihrer Terleg, die sie anbehalten hatte, konnte ich ihren Körper fühlen. Es war der Körper einer Frau. Meine Hand war ihr unangenehm und sie schob sie sachte, aber bestimmt weg.

Genauso bestimmt legte ich sie dorthin zurück. Sie starrte mich an. »Ich bin müde, Temur«, sagte sie. »Ich will schlafen.«

»Wie du willst«, sagte ich und legte mich neben sie.

»Euer Bett ist dort drüben, Temur.«

»Ich weiß«, flüsterte ich. »Ich kann überall schlafen. Im Gras, im Sattel, und hier

Sie sah mich entsetzt an, als ich begann, ihre Terleg aus chinesischem Brokat aufzuknöpfen. »Das geht nicht, Temur!«

»Doch, Kokatschin, es geht ganz einfach.« Ich öffnete die Terleg und fuhr mit der Hand über ihre festen Brüste.

»Wir können nicht vor der Ehe miteinander schlafen!«, sagte sie und schlug nach meiner Hand. Kokatschin war das erste Mädchen, das mir gegenüber eine so unsinnige Idee vertrat, als ich mit ihr reiten wollte. Seit meinen Erfahrungen mit Morghan hatte ich mit mehreren Mädchen aus unserem Ordu im Gras gelegen und keine von ihnen hat die Ehe auch nur erwähnt.

»Warum nicht?«

»Weil es Sünde ist!«

»Wer verbietet es uns?«, fragte ich und beugte mich über sie, um sie zu küssen. Wenn ich sie schon heiraten musste, dann wollte ich wenigstens ein wenig Spaß mit ihr haben. Warum verkomplizierte sie die Situation unnötig?

»Mein Herr Jesus«, sagte sie und deutete auf eine silberne Kette, die sie um den Hals trug. An der Kette hing ein Anhänger in Form eines Kreuzes.

»Der hingerichtete Prophet hat dir verboten, dass du mit mir schläfst?«, fragte ich. »Hat er mit dir gesprochen? Vom Himmel aus?«

»Er hat nicht mit mir gesprochen. Er hat es allen Menschen verboten«, sagte sie.

»Mir nicht.«

Ich hatte keine Chance gegen sie. Ich war zu betrunken, um ihrer Argumentation länger als ein paar Minuten folgen zu können. Und ich war zu müde, um mir einfach zu nehmen, was ich haben wollte. Als ich eingeschlafen war, kroch sie in mein Bett auf der anderen Seite der Jurte. Ihre Terleg hatte sie wieder zugeknöpft.

Am nächsten Tag zeigte ich Kokatschin das Lager. Wir ritten die Wege zwischen den Jurten entlang und ich stellte ihr viele der Familien vor. Kokatschin war von ihrem Vater gut erzogen worden und grüßte die Männer sehr würdevoll, bevor wir von den Pferden stiegen, um in den Jurten Tsaj und Airag zu trinken, und vom Lammbraten zu kosten.

»Es wird Zeit, dass du heiratest, Temur!«, sagte Mukalis Adjutant zu mir, als wir in seiner Jurte einkehrten. »Kokatschin«, er nickte ihr freundlich zu, »wird dich hoffentlich davon abhalten, dich mit meiner Tochter im Gras zu wälzen.«

Ich hielt seinem Blick stand. »Eurer Tochter scheint es Spaß zu machen«, konterte ich.

»Das habe ich auch gehört«, sagte er. »Aber ich will sie bald verheiraten. Vielleicht könntest du meine Überlegungen in deine Eroberungspläne mit einbeziehen.«

Kokatschin hielt während unserer Unterhaltung verschämt den Blick gesenkt. Was hatte sie bloß? Ich verhielt mich doch nicht anders als andere junge Männer in meinem Alter.

Als wir die Runde durch das Lager gemacht hatten, führte ich Kokatschin zu den Pferdeweiden und zeigte ihr Mukalis Besitz und meine kleinere Herde. Dann ritten wir weiter zu den Schafen, Ziegen und Yaks. »Das hier ist deine Herde«, sagte ich und machte eine weite Armbewegung über den Horizont.

»Meine Herde? Ich habe eine eigene Herde?« Kokatschin sah mich unsicher an. »Was soll ich damit?«

»Du sollst die Tiere hüten, Kokatschin!«, sagte ich.

»Hüten?«, fragte sie. »Ich soll Ziegen und Schafe hüten?«

»Und Yaks«, ergänzte ich.

»Mein Vater hat mich nie ...«

»Bei uns Mongol arbeitet jeder«, sagte ich in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

»Ich bin die Enkelin eines Khan!«

»Na und? Glaubst du, deswegen kannst du den Tag verschlafen?«

»Wenn Togrul Khan davon erfährt ...« Sie rang offensichtlich mit ihrer Fassung. Was hatte sie erwartet anzutreffen? Ein Brokatzelt mit seidenen Kissen und goldenen Kelchen? In welcher Welt lebte sie?

Ich wendete mein Pferd. Schweigend ritten wir zurück. Als ich sicher war, dass sie sich mit dem Gedanken an die Ziegen, Schafe und Yaks vertraut gemacht hatte, sagte ich: »Wenn du abends ins Ordu zurückkehrst, kannst du meiner Mutter beim Kochen helfen. Wir essen meist alle zusammen. Mein Lieblingsessen ist Buuds mit Fleischbrühe. Hin und wieder wirst du es für mich kochen, wenn wir allein essen.«

»Ich kann nicht kochen!« Jede Kiyat hätte den Blick verschämt gesenkt, wenn sie ihrem Mann gestand, dass sie nicht in der Lage war, für das tägliche Essen zu sorgen. Nicht so Kokatschin. Sie sah mich herausfordernd an.

»Dann lerne es! Ich esse gerne gut«, sagte ich ungerührt.

»Ich werde nicht ...«

»In wenigen Tagen ist das Frühlingsfest. Morgen wirst du meiner Mutter helfen, die Stuten zusammenzutreiben, die für den neuen Airag gemolken werden sollen.«

»Soll ich vielleicht auch noch Airag schlagen?«, fragte sie verbittert.

»Eine gute Idee, Kokatschin«, sagte ich zynisch. »Du denkst mit! Da ich gleich nach dem Fest auf die Falkenjagd reiten werde, kannst du das gerne übernehmen.«

»Temur, ich bin nicht Eure Dienerin ...«

»Verbietet dir dein hingerichteter Prophet auch das Arbeiten?«, unterbrach ich sie ungeduldig.

Kokatschin befolgte nicht eine einzige meiner Anweisungen. Als ich wenige Tage nach dem Frühlingsfest von der Jagd zurückkehrte, saß sie in meiner Jurte und kämmte sie sich die Haare.

Ich hängte meinen Bogen und den Köcher mit den Jagdpfeilen neben der Tür auf und beobachtete sie. Sie beugte sich über einen Topf voller Wasser und betrachtete sich selbst, während sie mit den Fingern und einem feinen Kamm ihre Haare glättete. Ihre schwarzen Haare schimmerten wie Silber im Mondlicht. Wie lange mochte sie sie gekämmt haben?

Sie fuhr mit ihrer Schönheitspflege fort, als habe sie mich nicht bemerkt. Ich holte tief Luft und verließ die Jurte, um Gal und das Packpferd abzusatteln. Die Antilope ließ ich vor dem Zelt liegen, die Rebhühner nahm ich mit in die Jurte.

Hingebungsvoll widmete sich meine Braut ihrer Schönheit, bis ich ihr die Rebhühner vor die Füße warf.

»Ich habe Hunger«, sagte ich.

Sie sah auf und starrte erst mich, dann die toten Vögel an. »Ich auch.«

Ich ließ mich auf dem Kissen neben dem Feuer nieder und zog den Schlauch mit Airag zu mir heran. Der Inhalt reichte kaum für eine Schale. Ich kippte die Stutenmilch herunter und sagte: »Der Airag ist leer.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Arkhi ist auch keiner mehr da. Ihr werdet Euch heute Abend nicht betrinken können, Temur.«

»Ist in meiner Abwesenheit das Ordu überfallen worden oder ist einfach nur eine Hungersnot ausgebrochen?« Ich kochte vor Wut wie Milch auf dem Feuer.

»Weder noch, Temur. Ihr hattet mir befohlen, die Herde zu hüten. Das habe ich getan«, sagte sie schicksalsergeben.

»Aber doch nicht jeden Tag! Du kannst dich mit den anderen Frauen abwechseln.«

»Eure Befehle waren laut und deutlich. Aber missverständlich.«

»Die nächsten Befehle werden unmissverständlich sein, Kokatschin! Verlass dich drauf!«, fauchte ich und verließ die Jurte. Das Türknallen habe ich erst Jahre später kennen und lieben gelernt. Wenn meine Jurte eine Tür gehabt hätte, hätte ich sie zugeknallt.

Ich ging hinüber zu Mukalis Zelt. Mit dem Arkhi-Schlauch unter dem Arm setzte ich mich neben ihn. Ich nahm mir eine von den Schalen, die herumstanden, wischte sie mit meinem Ärmel aus und füllte sie randvoll mit Arkhi. Dann füllte ich eine weitere und reichte sie Mukali, der mich wortlos beobachtet hatte.

Ich opferte einige Tropfen den Geistern und stürzte die Schale in meine Kehle hinunter. Dann füllte ich sie erneut.

»Bist du durstig oder wütend?«, wollte Mukali wissen.

»Beides«, sagte ich.

»Wie war die Jagd?«

»Vielleicht gibt es heute Abend Rebhühner.«

»Vielleicht

»Kokatschin widmet sich ihrer Schönheit. Ich weiß nicht, ob sie nicht zu beschäftigt ist, sich gleichzeitig Gedanken zu machen, ob und wie sie die Rebhühner zubereitet.«

Mukali lachte. »Ich werde deine Mutter bitten, ihr beim Kochen zu helfen. Das letzte Mal ... Nur Dschelme kocht noch schlechter als deine Braut.«

»Ich will sie nicht heiraten, Mukali! Ich will nicht! Sie redet nicht mit mir, sie schläft nicht mit mir, und arbeiten kann sie auch nicht.«

»Sie schläft nicht mit dir?«

»Nein. Ihr Prophet verbietet es ihr vor der Hochzeit. Wir hatten nächtelange Diskussionen zu diesem Thema. Ich verliere langsam die Geduld mit ihr. Ich werde zum Khan reiten und ihn bitten, seine Entscheidung zu überdenken. Ich will sie nicht haben.«

»Du wirst sie heiraten, Temur. Er will es so.«

»Ich will es nicht.«

»Willst du dich mit ihm anlegen?«

Ich leerte die dritte Schale Arkhi. »Wenn es sein muss!«

Als ich nach dem Abendessen bei Mukali und meiner Mutter die Jurte betrat, kniete Kokatschin vor einer der Truhen. Ihr Gesicht war vom Herdfeuer abgewandt. Ihr Blick fiel in den tiefen Schatten, den ihr Körper warf. In der Dunkelheit erkannte ich einen Gegenstand, den sie auf die Truhe gestellt und gegen die Zeltgestänge gelehnt hatte. Ein Kreuz.

Ich ging schweigend hinüber zum Feuer, setzte mich und schenkte mir einen kochend heißen Tsaj ein. Dabei beobachtete ich meine künftige Frau. Ganz in sich selbst versunken kniete sie in der Dunkelheit und hielt beide Handflächen gegeneinander gepresst. Dann machte sie mit der rechten Hand das Zeichen des Kreuzes zwischen Kopf und Herz und erhob sich langsam.

»Zu welchem deiner Götter hast du gebetet?«, fragte ich, als ich die Teetasse abgesetzt hatte. Ich bemühte mich wirklich um Verständnis für ihren Glauben, der mir so kompliziert erschien. Ein Gott, der in Wahrheit aus drei Göttern bestand, die aber letztlich doch wieder nur der Eine waren. Wer hatte sich so etwas ausgedacht?

»Ich habe nur einen Gott«, war die einsilbige Antwort. Mit ihrem Gott hatte sie vorhin mehr Worte gewechselt als mit mir.

»Der unsichtbare Gott ohne Name?«

»Er hat einen Namen. Er nennt sich selbst: Der ich bin.« Ich sah Kokatschin an, dass sie sich mühsam beherrschen musste. Was hatte ich denn nun schon wieder getan?

»Und wer ist das da?« Ich deutete auf das Kreuz mit dem hingerichteten Schamanen, das sie an ihre Brust gepresst hielt. Sie hielt das Kreuz so fest, dass es beinahe zerbrach.

»Sein Sohn.«

»Dein Gott hat einen Sohn? Wer war die Mutter?« Diese Frage sollte mein ehrliches Interesse an ihrem Glauben bezeugen, aber Kokatschin hatte mich missverstanden.

»Eine Jungfrau«, erklärte sie mit besonderer Betonung der Tatsache, dass der Gott einer unberührten Frau beigewohnt hatte.

»Und so einen Unsinn glaubst du? Ein Gott und eine Jungfrau! Das ist wirklich originell«, lachte ich. »Kennst du die Legende von Alankoa, die eines Nachts vom Mondlicht ...?«

»Benutzt Ihr zum Denken hin und wieder Euer Gehirn oder denkt Ihr immer mit dem Schwanz?«, fauchte sie mich an. »Jesus wurde durch Gott gezeugt und durch die Jungfrau geboren. Mirjam wälzte sich mit ihrem Gatten Yusuf nicht in leidenschaftlicher Ekstase im Bett. Sie empfing ihren Sohn durch den Heiligen Geist.«

Ich versuchte ruhig zu bleiben. »Hatte Jesus Geschwister?«

»Jesus war der älteste Sohn von Mirjam. Er hatte noch vier Brüder.«

»Sind die Geschwister auch alle von Gott gezeugt worden?«

»Nein, sie sind Kinder Yusufs.«

»Also hat sich die Jungfrau mit ihrem Mann vergnügt!«

Ich begann meine Terleg aufzuknöpfen, um mich für die Nacht fertig zu machen. Kokatschin saß mir gegenüber am Herdfeuer und starrte in die Flammen. Ich ließ die Terleg zu Boden fallen, setzte mich auf das Bett und zog mir die Stiefel aus.

Sie saß nur eine Handbreit neben mir und ignorierte mich, als befände ich mich am anderen Ende der Welt. Ich beugte mich zu ihr hinüber und küsste ihr Ohr. »Komm ins Bett!«, flüsterte ich.

»Ich bin noch nicht müde.« Sie wollte nicht müde sein!

»Dann erzähl deine Geschichte zu Ende«, forderte ich sie auf.

Sie schwieg, überlegte wohl, ob sich die Mühe lohnte.

Ich wartete einige Minuten, lauschte auf das Prasseln des niederbrennenden Feuers, aber sie schwieg beharrlich. Ich drehte mich auf die Seite und schloss die Augen. Irgendwann würde sie zwischen die warmen Decken kriechen und ich meine Arme um sie schlingen ...

»Seine Eltern lebten in Nazaret.«

Ich war schon eingeschlafen und schreckte hoch. »Wer

»Mirjam und Yusuf. Sie lebten in Nazaret. Vor eintausendzweihundert Jahren. In Nazaret hat Jesus den größten Teil seines Lebens zugebracht. Vielleicht ist er sogar dort geboren worden, obwohl zwei der Evangelien ihn aus Betlehem stammen lassen, damit sich eine Prophezeiung erfüllen kann. Der Messias soll nämlich aus Betlehem stammen.«

»Wer ist denn nun wieder der Messias?«

»Der Messias wurde von den Propheten als der Erlöser von den Leiden des jüdischen Volkes verheißen.«

»Du gehörst dem jüdischen Volk nicht an. Du leidest nicht. Warum glaubst du an diesen Messias Jesus?«

»Weil ... weil ...« Sie schien sich der richtigen Antwort nicht ganz sicher zu sein. »Weil er den Wahren Glauben verkündet hat.«

»Das tut doch jeder Prophet. Er glaubt es zumindest.«

»Jesus sprach vom Himmelreich Gottes und er legitimierte sich durch Wunder.«

»War er ein Schamane?«

»Nein, er war ein Handwerker. Jesus beschäftigte sich schon als Junge mit religiösen Fragen und erlangte Kenntnisse der Heiligen Schriften. Viele Juden glaubten damals, dass die Welt bald untergehen wird, und als Jahre später der Prophet Johannes, den man auch den Täufer nannte, das baldige Kommen des Himmelreiches verkündigte, folgte auch Jesus seinem Ruf und ließ sich taufen.«

»Er ließ sich taufen?«

»Johannes tauchte ihn in das Wasser des Jordan.«

»Wozu sollte das gut sein? Es ist verboten, in fließendem Gewässer ein Bad zu nehmen, um sich zu reinigen. Die Flussgeister ...«

»Jesu Taufe war eine Reinigung von seinen Sünden, kein Abwaschen von Staub.«

»Wenn der Prophet ein Sohn Gottes war, warum hat sein Vater dann nicht wie jeder vernünftige Vater dafür gesorgt, dass Jesus sich anständig benahm? Was hatte er getan? Wieso musste er ...?«

»Jeder Mensch ist ein Sünder. Seit der Erschaffung der Welt.«

»Ich auch?«

»Ihr auch, Temur.«

»Und was habe ich getan, dass ich vor deinem Gott in Ungnade gefallen bin?«

»Ihr seid ein Nachkomme des ersten Menschen.«

»Das ist alles? Und was hat dieser Mensch so Furchtbares getan?«

»Er hat sich von seiner Frau verführen lassen.«

Ich lachte aus vollem Herzen. »Er hat was

»Er hat sich zur Sünde verführen lassen und wurde deshalb von Gott auf die Erde verbannt und verflucht.«

»Ich hätte Spaß daran, eines Tages von dir verführt zu werden ...«

Sie schwieg.

»Wenn ich dich recht verstehe, hatte der Prophet Jesus also mit einer Frau geschlafen und musste deshalb ...«

»Nein! Hatte er nicht

Die Heftigkeit ihrer Reaktion überraschte mich. »Niemals

»Niemals. Ganz sicher nicht.«

»Dann tut er mir leid.«

»Es gibt noch anderes im Leben, als sich mit möglichst vielen Frauen im Bett gewesen zu sein!«, fauchte sie.

»Ach ja? Was ist es? Lass mich nicht dumm sterben!«

»Jesus war ungefähr dreißig Jahre alt, als er seine Tätigkeit als Prediger aufnahm, und er setzte seine Tätigkeit zwei oder drei Jahre fort. Während dieser Zeit zog er im Land umher und predigte. Er heilte Kranke, trieb böse Geister aus und erweckte Tote.«

»Also war er doch ein Schamane.«

»Nein!«

Ich gab es auf. Sie wollte nicht begreifen, dass Geisteraustreibung und Heilung eine völlig normale Tätigkeit eines Schamanen war. »Ich bin müde«, sagte ich gähnend. »Wie lautet das Ende der Geschichte?«

»Jesu große Anhängerschaft beunruhigte die Priester. Sie hielten sich für die allein berechtigten geistigen Führer und fürchteten, dass sie ihre Macht verlieren würden. Sie haben ihn kreuzigen lassen.«

»Weswegen?«

»Wegen Gotteslästerung.«

»Das ist absurd! Du hast gesagt, er war der Sohn Gottes.«

»Die Priester leugneten das.«

»Und warum hat Jesus sie nicht von der Wahrheit überzeugt? Warum ist er nicht vom Kreuz herabgestiegen? Konnte er nicht oder wollte er nicht? Wenn er nicht konnte, hätte er sich nicht Gottes Sohn nennen dürfen. Und wenn er nicht wollte, war er ganz schön dumm. Oder ist es etwa keine Unvernunft, sich seinen Feinden zu ergeben, um sich hinrichten zu lassen?«

Kokatschin wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. Mir war in jener Nacht nicht klar, dass sie ihr eigenes Schicksal mit dem ihres Propheten verglich. »In der Nacht vor seiner Hinrichtung bat er seinen göttlichen Vater, ihm dieses Schicksal zu ersparen.«

»Und? Was hat ihm dein Gott geantwortet?«

»Nichts.«

»Und was sagte Jesus dazu?«

»Er sagte: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe

»Jesus übernahm also keine Verantwortung für seine Entscheidung und schob die Schuld an seiner Hinrichtung seinem Vater zu?«

Kokatschin sah mich entsetzt an.

»Dein Gott hat seinen eigenen Sohn geopfert. Oder nicht? Du hast mir deinen Gott als einen Gott der Liebe und Vergebung beschrieben. Wieso richtet Gott solch ein verabscheuungswürdiges Blutbad an?«

»Er tat es zur Erlösung der Menschheit von ihren Sünden«, rief sie verzweifelt.

»Aber diese Sünden hat Gott durch die Erschaffung des Menschen doch selbst in die Welt gebracht! Dein Gott hat den Menschen erschaffen, wie er ist. Wenn er an seinen Handlungen etwas auszusetzen hat, hätte er sich das doch vorher überlegen können! Wieso zerschmettert er seinen eigenen Sohn am Fels der menschlichen Unwissenheit, nur um hinterher erstaunt festzustellen, dass der Mensch ist wie er ist?«

Der Sohn des Himmels und der Erde

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