Читать книгу Der Sohn des Himmels und der Erde - Barbara Goldstein - Страница 6
Ich und der Vater sind eins.
Оглавление(Jesus)
Bittet, und es wird euch gegeben.
Sucht, und ihr werdet finden.
(Jesus)
Was der Mensch nicht begreift, macht ihm Angst. Ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Ich hätte meinen Freund Jesutai bitten sollen, mich zu begleiten. Und doch ging ich weiter. Denn stärker als die Angst ist die Neugier eines Fünfjährigen. Ich tastete mich vorsichtig Schritt für Schritt vorwärts, als ob ich Honigwaben aus einem Bienenstock stehlen wollte, ohne die Bienen aufzuscheuchen. Wie ich vor angriffslustigen Bienen gegen den Wind flüchten konnte, wusste ich. Aber was tat ich angesichts eines zornigen Schamanen, der über mächtige Geister gebot?
Kökschu hatte in diesem Jahr seine sechste Schamanenweihe gefeiert. Trotz seiner hoch geschätzten Fähigkeiten als Heiler und Seher, trotz seines Ansehens galt er als verrückter Sonderling, der seine Jurte am Rand des Lagers errichtete.
Kökschu hatte keine Hunde, die sein Zelt bewachten. Kein Bellen und kein wütendes Knurren kündigte ihm meinen Besuch an. Ich hob vorsichtig den Türfilz hoch und trat in die Jurte. Wenn ich erwartet hatte, von mindestens einem Geist erschreckt zu werden, wurde ich enttäuscht. Im Inneren war es so finster wie in einer sternenklaren Schwarzmondnacht. Und heiß. Die Hitze nahm mir den Atem. Oder war es meine Angst? Kökschu hatte das Himmelstuch über den Dachkranz gezogen. Das Herdfeuer war nur noch ein Haufen glühender Asche, der Rauch von Wiesenkräutern und Birkenholzstückchen stieg wie silberner Morgennebel zum verhängten Dachkranz der Jurte hinauf.
In dieser Dunkelheit konnte ich die Geister fast sehen.
Kökschu saß auf einer Filzdecke am Feuer. Er trug das Vogelgewand eines Schamanen mit bunten Seidenbändern, Adlerfedern und geflochtenem Pferdehaar. Sein Gesicht wurde von den dichten schwarzen Fransen seiner Kopfbedeckung verdeckt. Neben ihm lag die Schamanentrommel.
Ich ging zwei Schritte auf ihn zu, aber er sah nicht auf. »Kökschu?«
Der Schamane reagierte nicht. Seine eisblauen Augen waren hinter den schwarzen Fransen geschlossen. Sein Mund war leicht geöffnet. War er eingeschlafen? Ich betrachtete die umgekippte Trinkschale neben ihm. War er betrunken?
Ich kniete mich neben ihn und legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn zu wecken. Nichts. Die Fransen vor seinem Gesicht bewegten sich nicht im Hauch des Atmens. Lebte er noch?
In diesem Augenblick begann Kökschu seinen Körper zu einer unhörbaren Musik vor und zurück zu wiegen. Die Stille im Zelt war beinahe überirdisch, bis Laute aus seinem Mund tropften, die keiner menschlichen Sprache angehörten, und ein grauenhaftes Stöhnen, als erleide Kökschu einen furchtbaren Schmerz.
Ich überlegte, ob ich verschwinden sollte. Kökschu würde wütend sein, wenn ich seine stille Unterredung mit dem Himmelsgott störte. Und ich wusste, was geschehen konnte, wenn ein Schamane, der über Blitz und Donner, Hagel und Sturm gebot, zornig war. Das war ungefähr so, als wenn der Himmelsgott Tenger selbst erzürnt war. Nur gefährlicher!
Ich würde nicht vor ihm fliehen. Ich hatte mich entschieden. Ich würde ihm die Frage stellen. Sobald er erwacht war.
Mit zitternden Knien nahm ich ihm gegenüber Platz und sah mich ehrfürchtig in der düsteren Jurte um, die ich noch nie zuvor betreten hatte. Das Zelt hatte fünf statt der üblichen vier Scherengitter. Die Dachstangen waren wohl ursprünglich blau lackiert gewesen, waren aber durch den Rauch des Herdfeuers und der darin verbrannten Kräuter gedunkelt. Der Filz hatte eine rauchgraue Schattierung angenommen, die an dunkle Gewitterwolken am fernen Horizont erinnerte. Von den Dachstangen hingen allerlei Gegenstände herab: der Schamanenspiegel, Mistelzweige, Büschel von getrocknetem Thymian, der einen würzigen Duft nach dem Gras der Herbststeppe verbreitete. Das Bettzeug war nicht zusammengerollt, die Filzdecken lagen zerwühlt entlang der Jurtenwand.
Plötzlich begann der Schamane zu zittern, als stünde er mitten in einem Eissturm. Er verzog das Gesicht, als ob er Schmerzen hatte. Ein grauenvoller Laut, ein Stöhnen, ein Schrei entrang sich seiner Brust. Sprach er mit seinen Geistern? In diesem Augenblick brach Kökschu in seiner sitzenden Position zusammen. Er stürzte wie betrunken zur Seite und wäre beinahe in das Feuer gefallen. Sein Kopf schlug hart auf dem Boden auf.
Ich zog ihn vom Feuer weg und drehte ihn auf den Rücken. Mit weit offenen Augen starrte er an mir vorbei an das Jurtendach. Er sah mich nicht. Wieder dieses grauenvolle Stöhnen. Neben dem Eingang der Jurte hing der Schlauch mit Airag. Ich opferte einige Tropfen den Geistern, dann ließ ich einen dicken Strahl der Stutenmilch direkt in Kökschus Mund laufen. Zuerst zeigte der Schamane keine Reaktion, doch dann begann er zu schlucken. Sein Geist kehrte aus der Unendlichkeit in seinen Körper zurück und er begann zu husten. Sofort setzte ich den Schlauch ab und verschloss ihn sorgfältig.
»Wacht auf, Kökschu!«, flüsterte ich.
»Ich bin wach«, hustete der Schamane. »Ich habe vielleicht ausgesehen, als habe ich geschlafen, aber ich war wach. Wenn auch nicht hier.«
»Nicht hier?«
»Was tust du hier, Temur?«, fragte Kökschu atemlos.
»Ich wollte Euch etwas fragen ...« Ich war nicht mehr so sicher, ob ich das noch wollte. Konnte er mir meine Frage überhaupt beantworten? Die Frage, die mich seit Wochen quälte. Die Frage, die mein Freund Jesutai mit einer unbedachten Bemerkung aufgewirbelt hatte wie der Herbststurm die Blätter.
Kökschu wartete ab, ob ich den Satz beendete. Dann zog er den Schlauch mit Airag zu sich heran und nahm einen tiefen Schluck. »Hast du es dir anders überlegt? Willst du jetzt nichts mehr fragen?«
»Ich ... nein.« Ich erhob mich und wollte die Jurte verlassen, aber Kökschu hatte meine Hand ergriffen und zog mich zu sich heran.
»Ich kann deine Gedanken lesen, Temur«, sagte er und ich schrak zusammen. »Du hältst mich für besessen«, fuhr Kökschu unbeirrt fort und sah mir tief in die Seele, als wollte er mich mit seinen eisblauen Augen bannen. »Du irrst nicht, Temur. Ich bin besessen. Ich spreche mit den Geistern, ich kann sie hören. Ich kann Dinge sehen, die andere Menschen nicht sehen können. Ich weiß, was du mich fragen willst.«
Meine Selbstbeherrschung war geschmolzen wie der Schnee unter der Frühlingssonne. Ich machte einen Schritt von ihm weg. Und noch einen. Und noch einen. Dann stand ich im Jurteneingang. Nur einen Schritt noch und ich wäre in Sicherheit!
»Wir sehen uns morgen«, sagte Kökschu zum Abschied.
Ich flüchtete zu meinem Freund Jesutai, der die Schafe seines Vaters in der Nähe des Ordu hütete. Jesutai und ich verbrachten den Nachmittag auf den Weiden und spielten mit unseren Wurfknöcheln. Meinen Besuch beim Schamanen erwähnte ich mit keinem Wort. Meine Gedanken hatten Feuer gefangen. Woher wusste Kökschu, dass ich wiederkommen würde?
Im Licht der untergehenden Sonne sahen wir von Osten zwei Reiter ins Ordu kommen. Sie stiegen vor Toda Bekis Jurte ab.
Jesutai und ich rannten zurück ins Lager.
»Wer ist gekommen?«, fragte Jesutai seine Mutter.
»Zwei Männer aus Fürst Temudschins Lager«, sagte sie.
Temudschin! Welcher Junge hatte noch nicht von den Heldentaten des Fürsten der Kiyat gehört? Welcher Junge wollte nicht sein wie er! Nach der Ermordung seines Vaters durch die Tatar hatte sich sein Klan von ihm abgewandt und war Fürst Targutai gefolgt. Die verzweifelte Lage hatte dem jungen Temudschin einen unbeugsamen Überlebenswillen eingeprägt. Mit seiner Mutter und seinen Brüdern war er in die Wildnis der Nordwälder geflohen, verfolgt von Targutai Beki, der ihn jagen ließ wie einen Schneeleoparden. Eines Tages war Temudschin zurückgekehrt und hatte sich zum Fürsten der Kiyat gemacht.
»Heute könnt ihr nicht ins Zelt! Es geht um Politik. Nichts für Kinder«, sagte Jesutais Mutter, als wir wie selbstverständlich zur Jurte des Beki gehen wollten.
Nichts für Kinder! Seit meine Mutter mich zum ersten Mal Kleiner Krieger genannt hatte, übte das Verbotene einen ungeheuren Reiz auf mich aus. Zudem hatte ich heute bereits Kökschus Geistern getrotzt. Ich zog Jesutai am Ärmel seiner Deel hinter mir her zur Jurte seines Vaters. Wir legten uns hinter der Jurte auf den Boden und blickten unter dem wegen der Sommerhitze hochgerollten Filz durch. Wir achteten darauf, dass der Schein des Herdfeuers nicht auf unsere Gesichter fiel.
Das Innere von Fürst Todas Jurte war ganz anders als das meiner Mutter. Meine Mutter und ich besaßen kein Bett. Wir schliefen nebeneinander auf einer Filzmatte, die nach Staub und Rauch roch, und unsere Fellmäntel hielten uns in den kalten Winternächten warm. Wir besaßen auch keine bemalten Truhen wie Toda Beki, sondern nur zwei kleine schmucklose Kisten, in denen wir unseren gesamten Besitz aufbewahrten. Wirbelnde Funken hatten während der Herbststürme Löcher in den abgewetzten Filzteppich an unserem Herdfeuer gebrannt. Toda Bekis Teppich war aus dickem, schneeweißem Filz. Um das Herdfeuer herum lagen mehrere Kissen aus schimmerndem Brokatstoff. Von den rotlackierten Dachstangen hingen Teeschalen aus schneeweißem, chinesischem Porzellan. Neben dem Eingang hatte Fürst Toda sein Schwert und seinen lackierten Pfeilköcher aufgehängt.
Zwei Gäste saßen auf Brokatkissen neben Jesutais Vater. Sie tranken Airag aus Silberschalen.
»Im ersten Sommermond beschlossen Temudschin und Dschamuga ihre Lager abzubrechen und gemeinsam zu den Sommerweiden weiterzuziehen«, sagte der eine der beiden Gäste. Er trug eine Terleg aus Seide. Er reichte Toda seine Trinkschale, um sie erneut füllen zu lassen.
»Und dann gerieten Temudschin und Dschamuga in Streit«, ergänzte der andere.
»In Streit, Bogurtschi?«, fragte Toda, als ob ihn das nichts anginge. »Ich dachte, sie sind Andas und schlafen unter einer Decke.«
Bogurtschi schnaubte verächtlich. »Ich weiß nicht, mit wem Dschamuga unter einer Decke schläft, aber sicher nicht mit Temudschin. Der hat andere Bedürfnisse.«
Toda hob fragend die Augenbrauen.
»Frauen und Beute«, erläuterte Bogurtschi, als wären das ganz neue Aspekte des Nomadenlebens.
»Und Macht«, ergänzte sein Begleiter, bevor er seine Schale leerte.
»Dschelme hat Recht«, sagte Bogurtschi und warf seinem Begleiter einen ärgerlichen Blick zu. »Temudschin und Dschamuga sind beide mächtige, junge Fürsten. Dschamuga hat die größere Gefolgschaft, aber Temudschin stammt aus dem Geschlecht des letzten Khan. Jeder empfing seine Vasallen in seiner Jurte. Ob sie einander immer von ihren Abmachungen mit ihren Gefolgsleuten berichteten, weiß nur der Himmel. Ihre Freundschaft war wie ein tiefer blauer See. Unter der ruhigen Oberfläche dieses Sees tobten die Stürme des rivalisierenden Ehrgeizes. Ein Stamm kann keine zwei Führer haben!«
»Das habe ich Temudschin auch gesagt!«, stimmte ihm Dschelme bei. »Ich habe ihm geraten, er sollte Dschamuga entscheiden lassen, was er tun will. Ich hatte längst den Eindruck, dass er die Kiyat überdrüssig ist. Temudschin ist zu mächtig geworden, das kann Dschamuga nicht hinnehmen.« Er lachte. »Eine ganze Nacht habe ich auf ihn eingeredet, dann hat Temudschin den Entschluss gefasst, sich von Dschamuga zu trennen. Er zog mit seinem Klan weiter, während Dschamuga zurückblieb und seine Zelte aufschlug.«
»Du hast gut daran getan, Temudschin diesen Rat zu geben, Dschelme«, sagte Toda Beki. »Dschamuga ist nicht zu trauen.«
»Die Trennung der beiden Fürsten hatte weitreichende Folgen«, warf Bogurtschi ein. »Die Klans und Familien zerstritten sich, weil sich ein Teil für Dschamuga, ein Teil für Temudschin entschied.«
»Wem werdet ihr folgen?«, fragte Toda.
»Temudschin«, sagten Bogurtschi und Dschelme wie aus einem Mund und lachten.
»Und unsere Entscheidung war richtig, denn sobald Temudschin allein weiterzog, trafen Klans aus den entlegenen Gebieten der Steppe ein, ob sie nun mit ihm verwandt waren oder nicht.« Dschelme hielt Toda seine Schale hin.
Bogurtschi lachte. »Sogar Temudschins Cousins, die Fürsten Altan und Kuschar, haben sich ihm angeschlossen, wie auch sein Onkel. Ja, Fürst Toda, Euer Vater ist auch bei Temudschin!«
»Dschamuga ist ärgerlich«, sagte Dschelme.
»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Toda in seine Trinkschale.
»Temudschin erwartet Euren Treueschwur!«, sagte Bogurtschi. Das war also der Grund des unerwarteten Besuches! Temudschin schickte seine Gefolgsleute aus und warb neue Gefolgsleute für sein Bündnis an.
Toda sah nicht überrascht aus. Um Zeit zu gewinnen, füllte er alle drei Trinkschalen nach.
»Wem werdet Ihr Euch anschließen, Toda Beki?«, fragte Dschelme.
»Ich bin ein Kiyat«, sagte der Fürst bedächtig.
Bogurtschi wartete ab. Als Toda seiner Antwort keine weiteren Erläuterungen anfügte, sagte er: »Es gibt auch Kiyat in Dschamugas Lager.«
Toda schnaufte durch die Nase, etwa so, wie wenn er nachts auf meiner Mutter lag. »Ich werde mich der siegreichen Seite anschließen.«
Bogurtschi grinste unverschämt. »Vor oder nach dem Sieg? Ich hoffe, Ihr wisst was Ihr tut.«
»Ich bin mit Temudschin verwandt. Meine Frau ist eine Cousine von Dschamuga. Mir stellt sich die Frage nach der Loyalität nicht.«
Bogurtschi erhob sich. »Wenn Temudschin etwas hasst, dann ist es Unentschlossenheit. Er erwartet ungeduldig Eure Antwort.«
»Dann sagt Temudschin: Todas Antwort lautet Nein.«
Lange habe ich gerätselt, welche Kraft den Menschen immer wieder vorantreibt. Es ist nicht die Angst, es ist nicht der Wille zur Macht. Es ist die Neugier. Der Schamane Kökschu hatte Recht behalten. Ich war zu ihm zurückgekehrt.
Meine Neugier kostete meine Mutter und mich ein Schaf. Ich schleppte das Tier heimlich zu Kökschus Jurte. Auf dem Weg dorthin überlegte ich mir, wie ich meiner Mutter den Verlust eines Schafes erklären sollte. Die Geschichte, die ich ihr erzählen würde, enthielt mindestens einen Wolf. Mindestens.
Der Schamane war nicht überrascht, mich zu sehen und fragte auch nicht, was ich mit dem Schaf wollte. Er warf das Tier auf den Rücken, zog seinen Dolch und führte einen schnellen Schnitt in der Herzgegend durch. Dann fasste er mit der Hand in die Wunde, ergriff die Schlagader und zerriss sie. Das Tier war sofort tot. Kein Schrei. Kein Blut.
Innerhalb weniger Minuten hatte Kökschu das Schaf zerlegt, um den Schulterknochen für das Orakel herauszulösen. Dann warf er mir das blutige Schulterblatt vor die Füße. Während der Schamane das Fleisch von den übrigen Knochen löste, ging ich in sein Zelt und holte einen großen Topf, in den er die Fleischbrocken werfen konnte. Dann zog ich meinen Dolch aus dem Gürtel und begann, den Schulterknochen von Fleisch und Sehnen zu befreien. Ich kratzte solange darauf herum, bis er ganz weiß und blank war.
Dann folgte ich Kökschu in seine Jurte. Er hatte das Himmelstuch zugezogen und das Feuer geschürt und wartete auf mich.
»Stell deine Frage!«, forderte Kökschu mich auf.
Entschlossen setzte ich mich ihm gegenüber ans Feuer und überlegte. Jesutais Vater Toda bemühte sich um meine Mutter. Vielleicht hatte er es auch vorher schon getan, aber in diesem Sommer wurde es mir bewusst, weil er sich mir gegenüber wie ein Vater zu verhalten begann. Toda brachte mir alle Fertigkeiten des Nomadenlebens bei, und das nicht immer sanft. Als hätte er ein junges Fohlen zu bändigen. Auch meiner Mutter brachte er viel bei. Die Knie anzuziehen, wenn er auf ihr lag. Sich langsamer zu bewegen, oder schneller, oder gar nicht. Ihn an bestimmten Stellen zu streicheln. An welchen, konnte ich nie herausfinden, weil die Glut des Feuers meist schon verloschen war, wenn Toda in unsere Jurte kam. Als Gegenleistung für Todas großzügige Unterstützung ging ich schon als Fünfjähriger zusammen mit Jesutai und seinem Vater auf die Jagd. Während einer dieser Jagdausflüge hatte Jesutai mir die Frage gestellt, die mich fortan beschäftigen sollte: »Hast du eigentlich keinen eigenen Vater?« In diesem Augenblick war etwas in mir erwacht, das ich vorher nicht wahrgenommen hatte. Die Sehnsucht nach dem Unbekannten, zu dem ich gehören konnte. Wer war mein Vater? Warum war meine Mutter so unwillig, mit mir über ihn zu sprechen?
Ich holte tief Atem, als wollte ich mich in einen reißenden Fluss stürzen, um das andere Ufer zu erreichen. »Ich will wissen, wer mein Vater ist.«
»Dafür opferst du ein Schaf?«, fragte der Schamane. Sein Gesicht leuchtete im Schein des Feuers.
»Ich will es wissen!«, sagte ich eigensinnig.
»Wozu?«
Ich starrte ihn an. Ja, wozu eigentlich? Weil ich es wissen wollte! Jeder Mensch will wissen, woher er kommt. Und wohin er geht.
Wie wäre mein Schicksal verlaufen, wenn ich diese eine Frage nicht gestellt hätte? Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn ich der Sohn von irgendjemand anders gewesen wäre?
Kökschu warf kopfschüttelnd das Schulterblatt in das Feuer. Der glühende Knochen knackte leise. Hin und wieder stiegen Funken aus der Glut. Gemeinsam warteten wir, bis sich die ersten Sprünge im Schulterblatt zeigten, die durch die Hitze des Feuers entstanden.
»Könnt Ihr erkennen, wer mein Vater ist?«, fragte ich.
Kökschu starrte auf den Schulterknochen. Dann stocherte er mit einem Stock in der Glut herum, um den Knochen umzudrehen. Aber die Rückseite sah nicht anders aus als die Vorderseite.
»Was seht Ihr?«, drängte ich ungeduldig.
»Ich sehe, dass dein Vater ein mächtiger Mann ist.«
»Was heißt: mächtig? Ein Schamane? Ein Beki? Ein Noyan? Ein Khan?«
»Der mächtigste Mann der Welt«, unterbrach mich Kökschu.
»Aber wer ist es?« Das Nachgeben war nie eine meiner Stärken gewesen.
»Ich kann es dir nicht sagen, Temur. Noch nicht.«, murmelte Kökschu möglichst undeutlich. Er holte das glühende Schulterblatt aus dem Feuer und zerschlug es. »Kennst du die Prophezeiung?«, fragte er in mein enttäuschtes Schweigen hinein.
Ich sah ihn unsicher an. »Welche ...?«
»Hat deine Mutter nicht mit dir darüber gesprochen?«, fragte er erstaunt. »Über die Nacht deiner Geburt?«
»Nein, hat sie nicht.«
Kökschu zögerte. Er schien über die Entscheidung meiner Mutter, mich über mein vorherbestimmtes Schicksal im Unklaren zu lassen, nachzudenken. Dann schüttelte er den Kopf und sagte:
»Geboren wurdest du im Jahr des Feuerpferdes (1186), in einer kalten Winternacht. Ich hatte prophezeit, dass du deinem Vater auf allen seinen Wegen nachfolgen wirst, bis auf einen. Du wirst das Land jenseits des Horizontes erreichen und von dort zurückkehren. Niemand kann dich in deinem langen Ritt an die eigenen Grenzen aufhalten.« Er atmete durch die Nase aus. »Du hättest das Gesicht deiner Mutter sehen sollen! Bleich wie der Weißmond ist sie geworden. Aber nicht wegen der stundenlangen Wehen, sondern wegen dieser Prophezeiung.«
»Und diese geheimnisvolle Weissagung wird eintreten?« Ich bemühte mich um einen möglichst provozierenden Tonfall.
»Natürlich! Meine Prophezeiungen treten immer ein. Immer!«, erklärte der Schamane herablassend.
»Seht Ihr, Kökschu. Ihr müsst mir sagen, wer mein Vater ist. Wie soll ich ihm sonst nachfolgen? Wenn Ihr es mir nicht sagt, wird Eure Prophezeiung nicht in Erfüllung gehen«, triumphierte ich.
Kökschu kam mir keinen Fingerbreit entgegen. »Sie wird! Verlass dich drauf, Temur!«
Während des dritten Sommermondes begann die Jagd auf die Murmeltiere. Jesutai und ich begleiteten die Männer. Wir ritten über eine Stunde in Richtung Sonnenuntergang, bis wir auf ein Labyrinth von tiefen Schluchten stießen. Toda und Kökschus Vater Munlik stritten sich wie so oft. Meine Mutter hatte mir erzählt, wie Toda die Wahl zum Fürsten mit nur wenigen Stimmen Vorsprung vor Munlik gewonnen hatte. Toda Beki und Munlik stritten sich über alles und nichts, über Wichtiges und Unwichtiges, über schamanische Riten, über die Weidegründe und den Termin des Lagerumzuges, sogar über das Wetter.
Wir ließen die Pferde zurück, stiegen eine Schlucht hinauf und verteilten uns zwischen den Felsen, als wollten wir den Nagern einen Hinterhalt legen.
Munlik zog mich mit sich fort auf einen Felsen oberhalb des Eingangs zur Schlucht. Wir lagen nebeneinander auf dem sonnenwarmen Stein und beobachteten den mit Edelweiß besprenkelten Hang unter uns, auf dem, wie wir hofften, bald die Murmeltiere erscheinen würden.
Wir lagen wohl über eine Stunde in unserem Versteck, als sich das erste Murmeltier zeigte. Es kam aus seinem Bau hervor, richtete sich auf und spähte in die Runde. Kein Feind war zu sehen, keiner zu riechen. Wir lagen bergauf gegen den Wind. Ich reichte Munlik den ersten Pfeil. Aber er wollte noch warten und schüttelte den Kopf. Ein zweites Tier erschien und entfernte sich einige Armlängen von dem Erdloch. Dann ein drittes und ein viertes. Wenige Minuten später wimmelte der ganze Hang von Murmeltieren.
Die Pferde, die hinter uns in der Nähe einer steilen Felswand angebunden waren, waren unruhig. Ihr Wiehern drohte unsere Jagdbeute zu verscheuchen. Ich gab Munlik ein Zeichen, dass ich zu den Pferden zurückkriechen wollte, um nachzusehen, was die Tiere erregte. Er nickte, ohne den Blick von den Murmeltieren zu wenden.
Die Pferde waren an einem verdorrten Baum festgebunden und tänzelten unruhig wiehernd hin und her. Irgend etwas machte ihnen Angst. Ich schlich lautlos näher, aber ich konnte nichts erkennen. Die Tiere sahen in meine Richtung und rissen an ihren Zügeln, konnten sich aber nicht befreien.
Ich wandte den Kopf. Mein Blut wurde so kalt wie ein Fluss im Winter, bevor sich die ellendicke Eisschicht bildet. Der Wolf war ebenso überrascht wie ich. Er stand sprungbereit auf einem Felsen oberhalb meiner rechten Schulter. Keiner von uns wagte den Rückzug, jeder verharrte unbeweglich in seiner Stellung. Ich spürte die Angst des Tieres, seine Unbeweglichkeit, seine innere Unruhe, seine Panik. Konnte es auch meine Gedanken lesen? Ich bohrte meinen Blick in die gelbgrauen Augen des Wolfes. Und plötzlich konnte ich spüren, wie man sich fühlt, wenn man in die Enge getrieben wird. Ich hatte Angst.
Der Wolf zog die Lefzen hoch und zeigte mir seine Zähne. Wie sollte ich reagieren? Auch ich öffnete die Lippen und zeigte ihm meine Zähne. Der Wolf senkte seinen Kopf, als wollte er auf mich losstürmen. Auch ich senkte meinen Kopf und schwenkte ihn langsam von einer Seite auf die andere. Was sollte ich sonst tun? Der Wolf begann zu knurren. Auch ich knurrte. Es klang hysterisch schrill und gar nicht gefährlich.
Ob die anderen mich hörten? Ich konnte nur abwarten. Sobald ich mich umdrehte, würde der Wolf angreifen. Sobald ich die Männer rief, würde das gleiche passieren. Der Wolf befand sich nicht einmal zwei Armlängen von mir entfernt und versuchte mich mit seinen Augen zu bannen. Seine Muskeln vibrierten vor Anspannung unter dem silbrigen Sommerfell.
Dann hörte ich ein Geräusch hinter mir. Der Blick des Wolfes ging von mir zu demjenigen, der sich mir langsam und vorsichtig von hinten näherte. »Beweg dich nicht!«, flüsterte Munlik einige Schritte hinter mir.
Ich hörte das leise Zischen, als er einen Pfeil aus dem Köcher holte und ihn auf die Sehne seines Bogens legte. Ich hörte das leise Knarren des Langbogens, als er die Sehne zurückzog, um den Bogen zu spannen. Ich ließ den Blick nicht von dem Tier.
Dann hatte der Wolf seine Entscheidung getroffen. Den Rückzug konnte er nicht antreten, ohne durch einen Pfeil getroffen zu werden. Also wagte er den Frontalangriff, eine Strategie, die ich selbst immer wieder erfolgreich anwenden würde. Ich hatte beide Arme erhoben, um mein Gesicht und meine Kehle vor seinen Zähnen zu schützen. Die Wucht seines Angriffs hatte mich umgeworfen und ich lag nun auf dem Rücken, der schwächsten Ringerposition, die man sich vorstellen kann. Der Wolf ragte über mir auf. Seine Pfoten lagen auf meiner Brust, und raubten mir den Atem, seine Zähne schnappten nach meinen Armen. Mein Herzschlag war so laut wie die Hufe einer galoppierenden Pferdeherde. Mit einer Hand versuchte ich, seine Schnauze von mir fernzuhalten, ihm an die Kehle zu gehen. Die andere tastete nach meinem Dolch. Aber ich konnte ihn nicht erreichen.
»Beweg dich nicht, Temur!«, rief Munlik und ich konnte ihn kaum verstehen unter dem Knurren des Wolfes. Wenn ich aufhörte, mich zu bewegen, war ich tot! Ein Biss des mächtigen Gebisses und ... »Halt still, verdammt!«, fluchte Munlik, als ich die Schnauze des Wolfes mit dem Kopf rammte.
Der Pfeil zischte nicht einmal drei Fingerbreit an meinem linken Ohr vorbei und bohrte sich in den Hals des Wolfes. Das Tier brach über mir zusammen und verendete mit einem letzten Zucken. Ich zitterte am ganzen Körper und war nicht in der Lage, mich zu bewegen.
»Jetzt kannst du dich bewegen!«, sagte Munlik. »Der Wolf ist tot.« Er stieg über mich hinweg, um den Kadaver von mir herunterzuziehen.
Einige der Krieger hatten die Geräusche meines Kampfes gehört und waren auf die Felsen gestiegen. Toda setzte sich auf einen Stein und blickte auf mich herab. »Ich dachte, wir wollten Murmeltiere jagen, Munlik.« Jesutai stand neben seinem Vater und sah mich an, als wäre ich vom Himmel herabgestiegen.
»Dem Jungen scheint die Wolfsjagd heute mehr Spaß zu bringen«, lachte Munlik. Damit reichte er mir sein Jagdmesser, damit ich dem Wolf das Fell abziehen konnte. Ich hatte das bereits bei Ziegen und Schafen getan und wusste, wie man das anstellte.
Während ich das blutige Fell zusammenrollte, um es über den Sattel meines Pferdes zu werfen, kehrte Munlik bereits zu seinem Platz auf dem Felsen oberhalb des Schluchteingangs zurück. Als ich mich nach einem kräftigen Schluck aus meiner Airag-Schale neben ihn legte, spannte er die Bogensehne mit dem ersten Pfeil.
In einiger Entfernung hörte ich das Hufgetrappel galoppierender Pferde. Ich wollte mich aufrichten, um besser sehen zu können, wer sich vom Eingang der Schlucht näherte, aber Munlik zog mich herunter. »Bleib unten«, flüsterte er. »Sonst warten wir noch Stunden auf die Murmeltiere. Wenn wir jetzt nicht ...«
Damit schnellte der erste Pfeil von der Sehne und steckte in einem Murmeltier, das wie ein leerer Airag-Schlauch in sich zusammensackte. Erst als Munliks zweiter Pfeil ein weiteres Tier traf, hörte ich das warnende Pfeifen der Murmeltiere auf den Steinen. Ihre Köpfe zuckten hin und her, aber sie konnten keine Feinde entdecken. Wir lagen zu gut getarnt hinter den Felsen.
Munlik ignorierte die Reiter und schoss einen Pfeil nach dem anderen ab. Auch ich legte meinen Bogen an und zielte. Ein Murmeltier brach zusammen.
Die Reiter zügelten ihre Pferde. Sie hatten die bewaffneten Männer zwischen den Felsen und die schwirrenden Pfeile bemerkt. Sie vermuteten einen Hinterhalt und zogen ihrerseits ihre Waffen und legten an.
Ich wagte einen Blick über den Felsen. Unten saßen ungefähr zwanzig Männer auf ihren Pferden und zielten mit ihren Pfeilen zu uns herauf. Sie waren nicht gerade in einer vorteilhaften Angriffsposition. Ich war bemerkt worden. Ein Pfeil zischte nur wenige Fingerbreit an meiner Schulter vorbei und ich ging in Deckung.
»Wer seid ihr?«, schrie der Anführer zu uns herauf, ein hoch gewachsener Mann mit einer Malgaj aus Wolfspelz.
»Wer seid ihr?«, brüllte Toda Beki hinunter. »Verschwindet, wir waren zuerst hier.«
»Du befindest dich in meinem Jagdgebiet! Wenn einer von uns beiden verschwindet, dann bist du das!«, rief der andere.
»Dein Jagdgebiet? Der Klan der Kiyat lagert hier in der Nähe. Wir jagen hier.«
Der Anführer der fremden Gruppe beriet sich mit einem der Reiter, den ich als Bogurtschi erkannte. »Ich bin auch ein Kiyat!«, schrie er zu uns herauf. »Wer ist euer Anführer?«
»Ich bin Toda«, rief Toda herunter. »Und wer bist du?«
»Ich bin Temudschin, Cousin Toda.«
Toda gab uns das Zeichen, die Waffen sinken zu lassen.
Unten in der Schlucht sprangen die Männer von ihren Pferden, und Munlik rannte hinunter, um Temudschin zu begrüßen. Während ich mit Jesutai die Murmeltiere einsammelte, beobachtete ich den Fürsten.
»Bogurtschi, dein Pfeil hätte beinahe den Jungen getötet«, hörte ich Munlik zu Temudschins Begleiter sagen.
Bogurtschi warf einen Blick über Munliks Schulter und sah zu mir herüber. »Ihr meint den kleinen Krieger dort drüben?«
Munlik winkte mir und ich trat näher. »Dieser kleine Krieger hat sich vor einer Stunde mit einem Wolf angelegt.«
Fürst Temudschin war ein junger Mann von hoch gewachsener Statur. Er trug eine einfache Deel aus blauer Wolle, weite weiße Hosen und lederne Reitstiefel mit gebogener Spitze. Er hatte keinen Goldschmuck, nicht einmal Haarringe, um die zu Zöpfen geflochtenen Haare hinter den Ohren zu bändigen. Nichts, was vom Wesentlichen, vom Unvergleichlichen ablenken würde: seinen Augen. Sie waren blau wie ein schimmernder Opal mit einem Funkeln aus goldenem Licht.
Ich hielt seinem Blick stand.
»Warum legst du dich mit einem Wolf an?«, fragte er mich.
»Der Wolf hat sich mit mir angelegt«, antwortete ich eigensinnig.
Temudschin lachte. »Auch eine Art der Betrachtungsweise. Hast du ein Murmeltier geschossen?«
»Ja!«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Hat dein Vater bereits die Zeremonie durchgeführt?«
Ich sah ihn überrascht an. Munlik trat von einem Fuß auf den anderen. »Temur ist nicht mein Sohn«, wandte er ein.
»Wer ist dein Vater?«, wollte Temudschin wissen und ließ seinen forschenden Blick über die anwesenden Männer gleiten.
»Ich habe keinen Vater«, sagte ich.
Temudschin sah mich erstaunt an. »Dann werde ich die Zeremonie an dir durchführen. Bogurtschi, bring mir ein Murmeltier!«
Sein Begleiter schnitt einem Murmeltier den Bauch auf, entfernte ein wenig des Bauchfetts und reichte das Stück Temudschin, der mir mit dem Fett den Mittelfinger meiner rechten Hand einrieb. »Möge das Glück der Jagd immer mit dir sein!«, sprach Temudschin die traditionellen Worte.
Am Abend lagerten wir gemeinsam mit Temudschins Männern um ein Feuer herum. Der Schlauch mit Airag kreiste zwischen uns.
Jesutai und ich halfen Munlik, zwei Murmeltiere zuzubereiten. Munlik erhitzte runde Steine im Feuer, während Jesutai den Tieren das Fell abzog. Er zerteilte das Fleisch, während ich wilde Zwiebeln und Kräuter suchen ging, bevor es dunkel wurde. Als die von Munlik im Feuer erhitzten Steine fertig waren, wurden die Kräuter, das Fleisch und die Hitzesteine zurück in den Fellbalg gefüllt, der mit einer Schnur verschlossen wurde. Über dem Feuer wurde das Fell abgesengt, während die heißen Steine das Fleisch von innen dünsteten. Nach einer halben Stunde stach Munlik mit einem scharfen Dolch in den Balg und ließ die köstliche Brühe in unsere Trinkschalen laufen.
Dann verteilte Temudschin die heißen, saftigen Stücke unter den Männern. Toda, der neben seinem Cousin saß, war mit der Situation offensichtlich unzufrieden, aber er schwieg. Als alle aßen und mit vollem Mund kauten, sprach Temudschin Toda an: »Ich habe dich bisher in meinem Lager vermisst, Cousin.«
Toda verzog keine Miene. Ärgerte er sich über die vertrauliche Anrede des anderen? Indem Temudschin Toda duzte, stellte er sich über ihn, obwohl er nicht der Ältere war.
An Todas Stelle ergriff Munlik das Wort, nicht weil er rangmäßig dem Fürsten nahe stand, sondern weil er Temudschin schon von Kindheit an kannte. »Wir werden bald ins Herbstlager ziehen.« Das konnte alles und nichts heißen.
Temudschin ließ sich von Munlik nicht ablenken. Er hielt seinen Blick fest auf Toda gerichtet. »Wir sind von einem Klan«, begann er erneut die Verhandlungen.
»Wir sind Kiyat«, stimmte Toda zu und nahm sich vom Murmeltierfleisch. Er wartete nicht, bis Temudschin ihm ein Stück reichte.
Der Feuerschein zauberte ein feines Lächeln auf Temudschin Lippen. »Es sind nicht nur Kiyat in meinem Lager, sondern auch andere Klans.«
»Ich habe davon gehört«, sagte Toda Beki. »Dschamuga ist aufgebracht.«
»Ich führe keinen Krieg gegen Dschamuga«, sagte Temudschin.
»Weiß Dschamuga das? Ich habe das Gefühl, dass er Krieg gegen Euch führt. Vor wenigen Tagen kamen Boten aus seinem Lager.«
Ein Blitzen fuhr über Temudschins Augen, ein Funkeln, das nicht von der Glut des Lagerfeuers stammte. Er hatte die respektvolle Anrede des Beki bemerkt. »Du hast sie empfangen?«
»Ich habe sie empfangen wie ich Dschelme und Bogurtschi empfangen habe, Cousin Temudschin.«
»Hast du ihnen dieselbe Antwort gegeben?«
»Dieselbe.«
»Irgendwann wirst du dich entscheiden müssen, Toda«, sagte Temudschin. »Für oder gegen mich.« Er sagte das in einem Tonfall, als wüsste er, dass Toda sich entscheiden würde. Und für wen.
Ohne Abschied stiegen Temudschin und Bogurtschi nach der Mahlzeit auf ihre Pferde und ritten mit ihren Männern in Richtung Westen. Auf dem Ritt zurück ins Lager war Munlik sehr still. Immer wieder drehte er sich um und beobachtete den nächtlichen Horizont.
Der Mensch hält sich für unsterblich, bis er mit dem Tod konfrontiert wird. Der Tod erinnert ihn unbarmherzig daran, dem eigenen Leben Sinn zu geben, bevor es zu Ende ist. Doch was ist das: ein sinnvolles Leben? Das Genießen der Lust? Das Ignorieren von Schmerz und Leid? Der Versuch zu leben in der Gefahr des Scheiterns? Der Wille zum Glücklichsein. Und der Wille zu überleben.
Fürst Toda hatte alle Krieger seines Stammes eingeladen, mit ihm zusammen die erfolgreiche Jagd zu feiern. In wenigen Tagen würde das Ordu abgebrochen werden, um ins Herbstlager zu ziehen.
In der Jurte saß Toda wie ein Khan auf seinem Sitz. Er lehnte sich gegen das geschnitzte Rückenteil des hölzernen Sessels und lauschte dem Gesang zur Melodie der Pferdekopfgeige. Neben ihm, auf gleicher Höhe, saß Jesutais Mutter, seine Erste Gemahlin. Seine anderen Frauen und die weiblichen Gäste saßen zu seiner Linken, die Männer zu seiner Rechten um das Herdfeuer herum.
Ein Murmeltier nach dem anderen wurde ins Zelt gebracht, von Toda zerlegt und die Fleischstücke an seine Männer und Klanangehörigen ausgeteilt. Jesutai und ich stopften das köstliche Fleisch in uns hinein, als wäre es die letzten Mahlzeit vor dem langen, kalten Winter. Eine Zeitlang konnte ich neben den Klängen der Pferdekopfgeige nur das Schmatzen und Schmausen der Essenden vernehmen. Dann machten die Airag-Schalen die Runde und die Unterhaltung flammte auf wie ein Steppenbrand.
Die meisten von uns waren schon ziemlich betrunken, als Bayan, der an diesem Abend neben mir gesessen hatte, zusammenbrach. Zuerst war das Gelächter der Anwesenden auf seiner Seite, weil jeder annahm, der junge Mann habe zu viel getrunken. Toda erhob sich schwankend von seinem Sitz und zog seinen Gefolgsmann hoch, um ihn auf die Beine zu stellen. »Zeig keine Schwäche, Bayan! Du hast noch längst nicht so viel getrunken wie ich!«
Bayan lag mit schweißüberströmtem Gesicht zu seinen Füßen und machte keine Anstalten, sich zu erheben. Seine Augen glänzten fiebrig.
Ich beugte mich zu ihm herab und fragte ihn: »Wie geht es Euch?«
»Schlecht. Mir geht es schlecht. Ich sterbe.«
Toda lachte, weil er annahm, der junge Mann habe zu viel Arkhi getrunken. »Ihm fehlt die Übung!«
Kökschu drängte mich auf die Seite und beugte sich über Bayan. Mit der Hand fuhr er ihm über die heiße Stirn. Es war sehr warm im Zelt. Und plötzlich sehr still, als die Musik der Pferdekopfgeige verstummte. Kökschu suchte Symptome, die nichts mit Trunkenheit zu tun hatten. Mit den Fingern seiner Linken öffnete er vorsichtig Bayans halb geschlossene Lider. Ich sah, wie der Kranke die Augen verdrehte und den Kopf hin und her warf.
»Ist dir heiß oder kalt?«
Bayan stöhnte. »In meinem ... Inneren verbrenne ich. Und doch ... friere ich wie im Winter.« Ich sah das Zittern an seinen Gliedern, als läge er mitten im Winter draußen im verschneiten Grasland.
»Du glühst vor Fieber«, sagte Kökschu, ohne eine bestimmte Antwort zu erwarten. »Warum liegst du nicht im Bett?«
»Vorhin ... ich habe mich nicht so schwach gefühlt.«
»Hast du Kopfschmerzen?«, fragte Kökschu und hielt wieder die Hand an die Stirn.
»Mein Kopf droht zu zerspringen«, stöhnte der Kranke.
»Er hat zu viel getrunken, Kökschu«, warf Toda Beki ein.
»Er hat kaum etwas getrunken«, verteidigte ich Bayan. Ich hatte mehr getrunken als er. Eine ganze Schale Airag.
»Bist du gebissen worden?«, fragte der Schamane den Kranken.
Als Bayan nicht antwortete, packte Kökschu ihn bei den Schultern und stieß ihn hin und her, als könnte er die Worte aus ihm herausschütteln. Kökschu öffnete seinen Gürtel, knöpfte die Terleg auf und entblößte den Oberkörper des jungen Mannes. Der Hals war dick, genau wie die entzündeten Knoten unter seinen Achselhöhlen, die schwarz angelaufen waren.
»Alle raus hier!«, rief Kökschu mit der donnernden Stimme eines Schamanen. »Es ist die Schwarze Pest!«
Schreiend erhoben sich Todas Gäste und verließen fluchtartig das Zelt.
Entsetzt starrte ich auf Bayan, der ebenso entgeistert zurückstarrte. »Die Pest?«, fragte ich.
»Was willst du noch hier, Temur?«, fauchte Kökschu. »Sieh zu, dass du verschwindest. Du kannst nichts mehr für ihn tun. Er hat die Krankheit seit zwei Tagen. Er wird sterben.« Kökschu wartete nicht, bis ich mich entschlossen hatte, die Jurte des Fürsten zu verlassen. Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und schnitt Bayan die Kehle durch. Als Kökschu bemerkte, dass ich noch immer neben ihm hockte, sagte er: »So musste er nicht tagelang leiden.«
Dann erhob sich Kökschu, nahm mich bei der Hand und zog mich aus der Jurte. Draußen warteten Todas Gäste auf uns und sahen uns erwartungsvoll an. Entsetzen stand auf ihren Gesichtern, Angst und Schweiß.
»Es ist die Pest, ganz sicher«, versicherte Kökschu.
Toda reagierte sofort. Er lief in die Nachbarjurte, entzündete am Herdfeuer mehrere Büschel Schafwolle, die er um einen Stock gewickelt hatte und rannte damit wieder ins Freie. Mit der Fackel legte er Feuer an sein eigenes Zelt, in dem Bayan in den Himmel ritt. Im großen Kreis standen wir und sahen zu, wie die Jurte Feuer fing. Ich sah die Todesangst in den Gesichtern.
Dann fragte Kökschu in die Runde: »Wer fühlt sich noch schlecht? Wer hat Fieber? Schmerzen? Lichter vor den Augen?« Viele der Anwesenden wichen vor ihm zurück, denn sie kannten die Konsequenzen eines Bekenntnisses. »Wo steht Bayans Zelt?«
Toda und Kökschu liefen mit brennenden Fackeln durch das Ordu und legten Feuer an Bayans Jurte. Bayans Erste Gemahlin lief schreiend hinter ihnen her. »Nicht! Lasst das! Das ist alles, was ich besitze! Nehmt mir nicht meinen gesamten Besitz!«
»Es muss sein!«, rief Toda über die Schulter zurück. »Wir müssen alles verbrennen!«
Dann brannte auch diese Jurte.
Kökschu drehte sich zu der weinenden Frau um. »Wann hat er zuletzt mit dir geschlafen, Frau?«
»Ich wüsste nicht, was Euch ...«
»Es geht nicht nur mich etwas an, sondern uns alle. Du könntest dich bei ihm angesteckt haben.«
Toda und Kökschu fielen über die Frau her, rissen ihr den Gürtel herunter, öffneten die Verschlüsse ihrer Terleg, die sie ihr über die Schultern herunterzogen. Kökschu betastete ihren Hals, ihre Achselhöhlen, dann riss er die Terleg bis zu ihren Knien herunter, um ihre Leisten zu befühlen. »Die Knoten sind bereits geschwollen und laufen dunkel an«, murmelte er.
Toda stand hinter der Frau, schlang den Gürtel, den er in der Hand gehalten hatte, über ihren Kopf, legte die Seidenschärpe um ihren Hals und drehte die Schlinge zu. Innerhalb von wenigen Minuten war die Frau tot und sackte zusammen wie eine Stoffpuppe.
»Zündet auch ihre Jurte an!«, befahl Toda Beki. »Und seid vorsichtig. Nichts anfassen! Ihr könntet euch anstecken.«
Zwei seiner Frauen waren nicht befallen, Bayan hatte ihnen nicht beigewohnt. Auch die Kinder waren gesund. Alles, was an diesem Abend nicht verbrannt worden war, wurde zwischen zwei Feuern durchgetragen, um es von bösen Geistern zu reinigen. Dann schritten auch die beiden jungen Frauen und Bayans fünf Kinder zwischen den beiden Feuern durch, um vor der Krankheit geschützt zu werden.
Am nächsten Morgen erinnerten nur drei kreisrunde Brandmale mitten im Ordu an den grauenhaften Vorfall. Drei abgebrannte Jurten, zwei Tote. Doch damit nahm diese Katastrophe erst ihren Anfang. Am übernächsten Tag beklagten sich drei weitere Männer, die ebenfalls mit dem Häuten der Murmeltiere beschäftigt gewesen waren, über Fieber, Kopfschmerzen und Übelkeit. Am darauffolgenden Tag breitete sich die Pest im ganzen Lager aus. In fast jeder Familie, in fast jeder Jurte war jemand erkrankt.
Ich half Kökschu drei Tage lang, die Kranken zu untersuchen und die Toten ins Feuer zu werfen, die Jurten und den Besitz zu verbrennen, dann stieg mir das Fieber in die Glieder. Ich floh vor dem Schamanen, denn ich wusste, wie schnell er zum Dolch greifen würde, wenn er meinen Zustand erkannte. Ich lief zum Fluss hinunter, um meinen Durst zu löschen. Ich wusch mir das Gesicht, um das Feuer in mir zu kühlen. Dann lag ich schweratmend am Ufer und starrte in den Himmel.
Das Indigo des Spätsommertages ging allmählich in das zarte Gelb verwelkten Herbstlaubs über. Der Südwind hatte Staub aus der Gobi herangeweht. Die Sonne versank in einem Meer aus Feuer, das Ordu in den Flammen der brennenden Jurten. Es war ein schrecklicher Anblick. Der Gestank glühender Leichen war unerträglich.
Ich lag die ganze Nacht am Flussufer im Gras. Es war die erste Nacht mit Frost. Aber selbst die Kälte konnte das Feuer in mir nicht löschen. Ich glühte vor Fieber und zitterte vor Kälte.
Als Kökschu mich am nächsten Morgen fand, schleppte er mich in seine Jurte und legte mich auf das Bett. Behutsam knöpfte er meine Terleg auf. Seine Hände fuhren über meine Brust und meinen Bauch. Dann ruhten seine warmen Finger an meinem Hals, um den Puls zu fühlen.
»Bin ich krank?«, hauchte ich und Kökschu nickte.
Er betete mit erhobenen Armen zu Tenger: »Wenn du ihn erlöst, himmlischer Vater, wird er sterben! Wenn du ihn aber erwählst, wird er leiden! Wenn er überlebt, wird er Schamane!« Dann trank Kökschu die Opferschale mit Stutenmilch leer, nachdem er einige Tropfen den Geistern geopfert hatte.
Ob Tenger auf das Gebet antwortete, bevor Kökschu zum Dolch griff, weiß ich nicht mehr, denn ich glitt wie schwerelos hinüber in die andere Welt. Farben flossen aus einer höheren Dimension zu mir hinab, so intensiv wie der Glanz der Sonne. Ein donnerndes Rauschen wie das Tosen eines Wasserfalls ging unmerklich über in das Zittern von Grashalmen in der Sommerbrise. Die Farben gerannen zu Formen: eine grüne Steppe mit gelben und roten Blüten, darüber ein unendlicher tiefblauer Himmel. Mitten auf der Weide stand ein feuerfarbenes Pferd. Ich ging zu ihm und strich mit der Hand über die vom Wind zerzauste Mähne. Dann schwang ich mich auf seinen Rücken und ließ mich von ihm führen.
Unser erster Ritt führte uns nach Norden. Wir kämpften uns durch Schneeverwehungen, bis wir den endlosen Horizont vor uns sahen. »Was soll ich hier?«, fragte ich das Pferd.
»Suche deinen Vater!«
Als ich die Suche beendet hatte, ritten wir nach Süden. Wir durchquerten die endlosen Ebenen der Gobi, kletterten über Sanddünen und erreichten das Ende der Welt. Der Horizont war schon ganz nah.
»Suche Gott!«, befahl das Pferd.
Als ich die Suche beendet hatte, zogen wir nach Osten. Wir erreichten das Meer. Lange saß ich am Strand und betrachtete die Wellen, die sich meinen Gedanken entgegenwarfen.
»Suche das Nichts!«
Als ich die Suche beendet hatte, ritten wir nach Westen. Wir durchquerten die Steppe, überstiegen Gebirgspässe und stiegen in fruchtbare Ebenen hinunter, die sich bis zum Horizont erstreckten.
»Suche das Selbst!«, befahl mir das Pferd.
»Ich kann es nicht finden! Es ist zu viel vom Vater, von Gott und vom Nichts in mir!«
Das Pferd schüttelte den Kopf. »Du bist wie dein Vater, ihr seid eins. Du bist wie Gott. Du siehst das Unsichtbare, hörst das Unhörbare und denkst das Undenkbare. Du bist das Nichts. Fülle und Leere gleichzeitig.«
Als ich die Suche beendet hatte, kehrte ich dorthin zurück, woher ich gekommen war.
Ich kam zu mir, als der Schmerz größer wurde als die Erschöpfung. Kökschu beugte sich im Schein einer Butterlampe über mich und drückte die Klinge seines Dolches an meinen Hals.
»Beweg dich nicht!«, zischte er mich an, als ich leicht den Kopf drehte.
Ich hatte weder genug Kraft, Worte zu formulieren, noch überhaupt Worte in meinem Kopf, um ihn zu fragen, was er vorhatte. Als er das Messer an meine Kehle setzte, dachte ich, er wollte mich töten, um mich wie die anderen von einem qualvollen Tod zu erlösen. Ich schloss die Augen und presste mit all meiner Kraft die Handflächen aneinander. Wie beginnt man ein Gebet? Lieber Gott, nimm mein Schicksal in deine Hände? Geehrter Tenger, erlöse mich und schenke mir Frieden? Meine Finger lösten sich. Worum wollte ich den Himmelsgott bitten? Um mein Leben? Oder den schnellen, schmerzlosen Tod durch Kökschus Dolch?
Kökschu stach mit der Spitze des Messers eine der vereiterten Pestbeulen auf. Er hielt das Messer in die Flamme der Butterlampe, bis die Klinge glühte, und drückte mir das Metall auf die offene Wunde. Ich schrie vor Schmerz.
»Damit versiegele ich die Wunde«, flüsterte er mir zu. Mit dem noch heißen Messer öffnete er mir drei weitere Pestbeulen.
Dann sollte ich auf einem niedrigen Hocker Platz nehmen. Ich war so schwach, dass ich beinahe rückwärts zu Boden gefallen wäre. Ich zitterte vor Müdigkeit und auch vor Angst. Was hatte er vor? Kökschu band mich mit einem Strick am Hocker fest, damit ich nicht herunterfallen konnte.
Dann ging er leise singend mehrmals um mich herum. Ich hatte die Augen geschlossen und lauschte auf die raschelnden Geräusche seiner Schamanenrobe, der geflochtenen Schnüre und bunten Seidenbänder auf dem alten, zerschlissenen Brokat. Der Spiegel, den er immer an seinem Gürtel trug, schlug leise gegen den Dolch. Kökschu stampfte mit den Füßen auf, trank einen Schluck Arkhi, wandte sich mir zu und blies die Flüssigkeit über mich. Dazu schrie er etwas, was ich nicht verstehen konnte. Wieder trank er und spuckte aus und wieder und wieder. Dann drehte er sich zu den Geistern um und sprach mit ihnen. Als er die gewünschte Antwort erhalten hatte, begann er die Zeremonie von vorne. Arkhi trinken, Arkhi spucken, beten. Unablässig redete er auf mich ein, nicht auf mich, sondern auf den bösen Geist, der in mir steckte und hinaus wollte. Kökschu half ihm dabei. Dann war ich auf dem Hocker eingeschlafen.
Meine Seele versank in einem Meer undurchdringlicher Finsternis und versuchte, am Ufer der Ewigkeit zu landen. Aber eine Strömung riss mich immer wieder fort, zog mich zurück in die Finsternis, warf mich erneut an das Ufer. Ich wollte rufen, aber niemand war da, um mich zu hören. Ich war allein.
Als ich die Augen aufschlug, hockte meine Mutter neben meinem Lager und hielt meine Hand. »Er ist aufgewacht! Tenger sei Dank!«
»Hör auf, so einen Unsinn zu erzählen. Temur hat nicht geschlafen. Er war tot«, sagte Kökschu leise.
Ich war verwundert. Ich war gestorben. Und nun lebte ich wieder.
Kökschu hielt mir die Trinkschale an die Lippen. »Trink! Du wirst wieder schlafen.«
Ich schob die Schale weg. »Ich will nicht mehr schlafen.«
»Du musst, Temur. Wie willst du sonst gesund werden?«
»Ich will gesund werden, aber ich will nicht mehr träumen!«
Der Schamane hob die Augenbrauen. »Erzähl mir deinen Traum!«
Während ich auf meiner Filzmatte lag und über den Traum nachdachte, konnte ich alles wieder sehen und empfinden. Ich spürte den Sand, den Schnee und das Meer. Ich fühlte die Hitze und die Kälte. Ich sah Himmel und Erde. Ich roch den Duft der Steppe und spürte den Wind auf meiner Haut. Aber wenn ich nach den Sinn der Worte und Bilder suchte, die meine Gedanken zerfaserten, dann war dort nur Nebel. Ich konnte fühlen, aber nicht verstehen.
Aber ich erinnerte mich deutlich an die Bilder und die Worte, die mit ihnen zusammen aus meinem Gedächtnis aufstiegen. Nichts, was ich je mit meinen Augen sah, war so hell und klar wie das, was ich gesehen hatte, und keine Worte, die ich jemals mit meinen Ohren gehört habe, waren gleich den Worten, die ich vernommen hatte.
Je älter ich wurde, desto deutlicher wurde für mich der Sinn dieser Bilder und Worte. Heute weiß ich, dass mir mehr offenbart wurde, als ich jemals mitzuteilen vermag. Dieser Traum war mein Leben, mein Auftrag, mein Wesen, meine Bestimmung. Er war alles. Er war Ich.
Von den siebenundneunzig Jurten unseres Ordu waren fünfundsechzig verbrannt worden. Die Pest hatte ganze Familien ausgelöscht, den Mann, die Frauen, die Kinder. Wir Mongol gingen damals sehr pragmatisch mit dem Tod und seiner Hinterlassenschaft um. Die überlebenden Frauen und Kinder wurden auf die anderen Familien verteilt und lebten nun in anderen Zelten. Das Ordu war so ausgestorben, dass wir in diesem Herbst nicht weiterziehen konnten. Wir waren nicht genug Leute, um unseren Besitz zusammenzupacken und auf die Pferde und Kamele zu verladen.
Die großen Herden des ehemals reichen Ordu hatten die umliegenden Weiden bereits vor Wochen, bei Ausbruch der Pest, abgegrast und fanden nun kein Futter mehr. Die Tiere entfernten sich auf der Suche nach Nahrung immer weiter vom Lager. Die Männer waren zu geschwächt, um tagelang durch die Steppe zu irren, um die Tiere wieder zusammenzutreiben. Und der Winter kam früh in diesem Jahr. Der erste Schnee fiel im ersten Herbstmond.
Warum hatte ich überlebt und alle anderen nicht? Warum ich? Warum war ich zurückgekehrt, nachdem ich einen Blick hinter den Letzten Horizont geworfen hatte?
»Tenger hat dir ein neues Leben geschenkt, damit du Schamane wirst«, erklärte mir Kökschu beim Abendessen in unserer Jurte.
Der Schamane hatte sich in den letzten Wochen öfters selbst zum Essen bei uns eingeladen. Mir war nicht klar, ob es ihm um meine Seele oder den Körper meiner Mutter ging. Oder um das Essen, das sie ihm vorsetzte.
»Ich habe keinen Vater, dem ich nachfolgen könnte.«
»Und ich habe keinen Sohn, Temur. Du könntest mir nachfolgen.«
Meine Mutter sah den Schamanen missbilligend an. Hielt sie Kökschus Worte für einen erneuten Versuch, in ihr Bett zu kommen? Seine letzten Bemühungen waren bereits in der Planungsphase von meiner Mutter zunichte gemacht worden.
»Ich habe keine Geister ...«, begann ich.
»Ich werde dich lehren, sie zu rufen«, versprach der Schamane. »Ich werde dich alles lehren, was ein Schamane wissen muss.«
»Das werdet Ihr nicht tun, Kökschu!«, protestierte meine Mutter.
»Du hast ihn vom Himmel empfangen! Gib ihn dem Himmel zurück!«, forderte der Schamane.
»Er gehört mir. Mir allein!«
»Er hat die Fähigkeit«, sagte Kökschu.
»Er hat sie nicht.«
»Er hat sie wie sein Vater«, sagte Kökschu.
Ich war überrascht. Und wütend! Er wusste also doch, wer mein Vater war! Warum sprach niemand mit mir darüber?
»Wenn die Zeit gekommen ist, wird Temur wissen, zu wem er gehört. Bis dahin werde ich ihn lehren. Er wird ein Schamane werden.«
»Es ist Zeit!«, flüsterte Kökschu.
Ich lag neben meiner schlafenden Mutter unter einem Schaffell. Mein Gesicht hatte ich gegen ihre nackten Brüste gepresst, nachdem Toda gegangen war, und in dieser Stellung waren wir eingeschlafen.
Kökschu kniete neben mir und hob das Fell an. Die eisige Kälte ließ mich frösteln. »Es ist Zeit! Komm, Temur!«
»Wohin?«, fragte ich verschlafen.
Kökschu antwortete nicht. Und er wartete nicht auf mich.
Ich schlüpfte unter der Decke hervor und zog mich eilig an: Hosen, Stiefel, Deel und Dacha, zuletzt die Malgaj aus Wolfspelz. Dann trat ich hinaus in die Nacht.
Die flache Einsamkeit war durch den Weißmond hell erleuchtet. Eine wie Glasscherben funkelnde Schneeschicht bedeckte die steinhart gefrorene Steppe. Die Kälte brannte auf meinem Gesicht wie Feuer. Ich hätte mir das Gesicht mit Bärenfett einreiben sollen, um es zu schützen.
Neben der Jurte wartete Kökschu in der weißen Wolke seines Atems. Unter seinem Wolfspelzmantel trug er das lange Schamanengewand. Ich folgte ihm durch Schnee und Eis bis zum Rand des Ordu. Dort blieb er wie angewurzelt stehen. »Von hier an musst du alleine gehen!«, forderte er mich auf.
»Wohin?«
»Zum Schneehorizont. Du musst beginnen, deinen Traum zu verwirklichen. Heute Nacht.«
Kökschus Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Überzeugende Argumente wie eine warme, weiche Bettdecke neben einer noch glühenden Feuerstelle tat er mit einer einzigen Handbewegung ab.
Also lief ich los. Durch die Kälte. Durch die Nacht. Im silbernen Licht des Mondes. Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln.
Zuerst lief ich viel zu schnell und kam rasch außer Atem. Die kalte Nachtluft stach in meiner Lunge. Dann wurde ich langsamer und das Atmen wurde erträglicher. Ich schlug den Pelzkragen meiner Dacha hoch, sodass Nase und Mund bedeckt waren.
Nach mehreren hundert Schritten drehte ich mich um und sah Kökschu am Rand des Ordu stehen. Würde er dort warten, bis ich zurückkehrte?
Ich lief einen Hügel hinauf. Meine Reitstiefel hatten flache Absätze, die ich in den Schnee bohrte, um Halt zu haben. Einmal fiel ich hin, doch ich erhob mich und rannte weiter.
Wohin sollte ich überhaupt laufen? Kökschu hatte mir nicht gesagt, wie weit der Horizont entfernt war. Also wollte ich erst einmal auf den nächsten Hügel laufen, um mich dort umzusehen. Mein nächstes Ziel war eine einsame Weide. Ich brauchte lange, bis ich dort war. Zu Pferd war die Strecke in kurzer Zeit zu bewältigen, aber laufend brauchte ich viel länger.
Als ich den Baum endlich erreichte, war ich trotz der eisigen Kälte unter meiner Felldacha nassgeschwitzt. Wenn ich jetzt stehen blieb, würde ich auskühlen und krank werden. Also teilte ich mir meine Kräfte ein und lief weiter, immer weiter.
Vom Baum aus gesehen war der Horizont nicht besonders weit entfernt gewesen, gleich hinter dem nächsten Hügel. Dorthin lief ich. Aber je weiter ich mich vom Ordu entfernte, desto ferner schien mir der Horizont. Auf dem übernächsten Hügelkamm schien er unerreichbar. Und trotzdem lief ich weiter.
Der Mond neigte sich über den Horizont vor mir. Ich war wohl schon über eine Stunde unterwegs. Ich war müde, aber ein Stückchen wollte ich noch laufen. Ob Kökschu noch auf mich wartete?
Als der Mond untergegangen war, wurde es finster in der Welt. Die Trennlinie zwischen Himmel und Erde war verschwunden. Ich blieb stehen. Nirgendwo war noch ein Stückchen Horizont zu sehen. Finsternis. Einsamkeit. Nichts. Nur ich selbst.
Was sollte ich tun? Ich hatte den Horizont nicht erreicht, wie Kökschu es mir aufgetragen hatte. Ich wollte mich auf den Rückweg machen. Ich suchte in der Dunkelheit die Spuren, die ich hinterlassen hatte. Aber ich konnte nichts erkennen. Als ob ich nie hier gewesen war!
Welche Spuren kann ein Mensch in der Welt hinterlassen, damit man sich seiner erinnert? Er kann mutige Taten vollbringen, die am Lagerfeuer erzählt werden. Er kann Schlachten schlagen und Reiche erobern. Er kann zerstören und wiederaufbauen. Er kann die Wahrheit über sich selbst herausfinden, aber das wird nie jemand außer ihm selbst erfahren. Ich wollte leben, um all das nachzuholen! Um meinen Traum zu verwirklichen! »Suche deinen Vater!«, hatte das Feuerpferd in meinem Traum befohlen. Wo sollte ich nach ihm suchen? Oder hatte ich ihn bereits in Kökschu gefunden, der mich als seinen Sohn und möglichen Nachfolger als Schamane bezeichnet hatte?
Ich wartete auf den Sonnenaufgang. Das erste Licht dieses Morgens war so silbrig wie ein zugefrorener Flusslauf. Als dieser erste Schimmer so blau wie der Stahl eines Schwertes wurde, machte ich mich auf den Weg zurück. Die halbe Nacht war ich dem Mond hinterhergelaufen, jetzt ging ich der Sonne entgehen. Als sie sich rot glühend über den Horizont erhob, begann ich zu laufen. Der Schnee vor mir begann zu glühen, erst blutrot, dann in der Farbe der Feuerglut, dann in der Farbe des Goldes. Schon von weitem konnte ich im Gegenlicht den einsamen Baum erkennen. Ich lief und lief und lief und machte nicht Halt.
Dann sah ich vom nächsten Hügelkamm aus das Ordu, die Jurten, die Herden weit draußen auf den Weiden, die berittenen Männer, die aufbrachen, die Tiere zusammenzutreiben, die Frauen beim Dungsammeln, die Kinder beim Wasserholen am Eisloch des Flusses.
Kökschu erwartete mich dort, wo ich ihn verlassen hatte. Er nahm mich bei der Hand und schleppte mich zu seiner Jurte.
Als ich über die Schwelle trat, lief ich gegen eine Wand aus Feuerglut. Es war dunkel und heiß in seinem Zelt.
»Zieh dich aus, Temur!«, befahl mir Kökschu.
Ich nahm die vereiste Malgaj ab. Mein Schweiß war in silbrigen Perlen im Pelz gefroren. Dann zog ich die Dacha aus und wollte mich schon ans wärmende Feuer setzen.
»Alles!«, befahl Kökschu, der Milch aufsetzte.
Zögernd begann ich meine Deel aufzuknöpfen und die Stiefel auszuziehen. Nur mit meiner weiten Hose bekleidet, hockte ich mich ans Feuer.
In einem Lederbeutel zerstampfte Kökschu Tee und Kräuter, die er in die kochende Yakmilch warf. Dann siebte er den Tee durch und würzte ihn mit Salz. Kökschu reichte mir eine Schale mit heißem Tsaj, in die er einen Klecks gelbe Yakbutter getan hatte. Der Tee stank widerlich.
»Was ist das, Kökschu? Verdorrtes Steppengras?«
Kökschu nahm mir gegenüber Platz. Er trank seinen Tsaj aus einem silbernen Trinkbecher. »Er wird dich wärmen.«
Das tat er. Und noch etwas anderes. Mir war so schwindelig, als hätte ich zwei oder drei Schalen Airag getrunken. Oder vier. Ich fühlte mich so leicht wie ein Adler über der sommerlichen Steppe.
Kökschu begann leise zu singen. Er hatte eine Stimme weich wie Seide und klar wie ein Gebirgsquell. »Ein weißer Adler schwingt sich empor, durch Türkis und Indigo.«
Kökschu begann die Trommel zu schlagen. Unzählige Male hatte ich nachts dem Klang seiner Trommel gelauscht. Aber nie zuvor war mir der Rhythmus so unwiderstehlich, so mitreißend, so berauschend, so ... ekstatisch erschienen. Mein Geist ritt auf dem Rhythmus und dem Klang der Worte hinauf in den Himmel. »Goldenes Sonnenlicht reflektiert auf Federspitzen. Wind und Stille streicheln die ausgebreiteten Flügel.«
Kökschu sah mir zu, als ich meine Flügel entfaltete, um mich höher in den Himmel zu schwingen. »Der weiße Adler tanzt über den Himmel, von Horizont zu Horizont, steigt hinauf zur Sonne, steigt höher, hinauf zum Himmelsgott Tenger«, sang er.
Über mir war der blaue Himmel, ganz tief unter mir brannte das Feuer. Seine Hitze war hier oben nicht mehr zu spüren. Ich ließ mich noch höher treiben und sah auf die Welt unter mir herab, das Grasland, die sanft gewellten Hügel, die Schneeberge im Norden, die Wüste im Süden. Ich konnte alles sehen. Schwerelos glitt ich durch das warme Blau, schwebte hierhin und dorthin und stieg immer höher. Ich war Tenger ganz nahe. Dann war ich so hoch, dass das Blau beinahe schon Schwarz war. Aber ich wollte noch höher hinaus, noch viel höher. Hier gab es keinen Horizont. Je höher ich stieg, desto heißer wurde es. Jetzt war ich am Mond vorbeigeflogen und näherte mich der Sonne. Es wurde heißer und heißer.
Ein Wort weckte mich. Jemand hatte meinen Namen gerufen.
»Temur!«
Es konnte nicht sein. Meine Mutter war nicht hier oben im Himmel. Ich hielt die Augen geschlossen.
»Wach auf, Temur!«
Jemand fasste mich an der Schulter und drückte meine Schwingen zurück an den Körper. Ich verlor an Auftrieb und begann zu stürzen.
»Verdammt sollt Ihr sein, Kökschu! Was habt Ihr mit meinem Sohn gemacht?«
Ich stürzte zurück zur Erde. Aber es wurde nicht kühler, sondern noch heißer. Ich glaubte zu verbrennen.
Meine Mutter hob mich aus der glühenden Asche des niedergebrannten Feuers heraus und legte mich auf die Filzmatte neben der Feuerstelle.
Ich schrie vor Schmerz und dieser Schrei weckte Kökschu.
Verwirrt sah er meine Mutter vor mir knien und mir meine Deel überziehen. Sie war so wütend, dass sie meinen fragenden Blick mied. Meine Stiefel zog sie mir nicht an. Die Fußsohlen waren von der glühenden Asche des Feuers verbrannt. Sie nahm mich auf ihre kräftigen Arme und trug mich zum Eingang des Zeltes, nicht ohne dem Schamanen einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.
»Mein Sohn wird Euer Zelt nie mehr betreten, Schamane! Nie mehr! Habt Ihr mich verstanden?«
Kökschu sah sie an. Bedauern sprach aus seinem Blick. »Er hat die Gabe! Er war mit mir ...«
»Nie mehr!«, fauchte meine Mutter.
Fünf Tage lang verließ ich unsere Jurte nicht. Ich konnte nicht gehen. Meine Beine schmerzten von der Anstrengung des nächtlichen Laufes, meine Füße waren von der Glut des Feuers mit großen Brandblasen übersät. Solange ich mich im Zustand der Inspiration befunden hatte, hatte mir die Glut nichts ausmachen können, aber als aus dem Himmel zur Erde zurückstürzte, begann das Feuer meinen Körper zu verbrennen.
Meine Mutter wusste wohl, dass sie die Schuld an meinen Schmerzen trug und nicht der Schamane. Sie sprach kein Wort mit mir. Ich wusste nicht, was ich mit ihr reden sollte, also schwieg ich ebenfalls. Ein Gedanke ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte die Gabe, hatte Kökschu ihr gesagt. Wie mein Vater.
Ich litt. Nicht an den Schmerzen in meinen Beinen, sondern an der Vorstellung, nicht mehr das Zelt des Schamanen betreten zu dürfen. Meine Mutter hatte mir gegenüber ihr Verbot wiederholt. Wenn sie mich auch nur in der Nähe der Schamanenjurte fand, würde sie mich schlagen wie ein störrisches Yak. Ich glaubte ihr und befolgte das Verbot. Stattdessen trafen wir uns außerhalb des Ordu. Kökschu hatte mein Leiden erkannt und versuchte es zu lindern. Nicht mit Kräutern, sondern mit Wissen.
Ich wurde nicht wirklich Kökschus Schüler, weil meine Mutter es ihm verboten hatte, aber er schamante in meiner Gegenwart und ich lernte vieles von ihm. Die andere Sicht der Dinge. Selbstdisziplin. Gehorsam. Unterwerfung unter einen höheren Willen. Aber auch Intuition und Selbstvertrauen. In einer Zeit, als Gleichaltrige mit dem Bogen zu schießen und das Holzschwert zu führen lernten, lernte ich schamanen. Mein Weg durch die Welt der Geister, wo man die Antworten schon kannte, noch bevor die Frage gestellt war, schien vorherbestimmt. Kein Mensch will freiwillig Schamane werden, denn es ist eine anstrengende Tätigkeit für Körper und Geist. Die Gabe hat man nicht, man erleidet sie, wenn man zum Schamanen berufen ist. Und wer sich weigert, seiner Berufung zu folgen, muss mit dem göttlichen Unwillen leben. Oder sterben.
Meine Seele erwachte aus dem zufriedenen Dämmerzustand eines Menschen, der sich selbst noch nicht bewusst war, seiner Fähigkeiten, seiner Stärken und seiner Schwächen. Und seiner Sehnsucht nach dem Undenkbaren. Ich wurde zum Weltenwanderer zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, dem Sichtbaren und Unsichtbaren, dem Hörbaren und Unhörbaren, dem Denkbaren und dem Undenkbaren, zwischen Himmel und Erde, zwischen Welt und Seele. Ich begann Schatten und Geister zu hören und in die Zeit hineinzusehen.
Kökschu lehrte mich die Schamanentrommel zu schlagen, um mich in tiefe Trance zu versetzen und er zeigte mir auch, wie ich aus der anderen Welt wieder zurückkehren konnte. Kökschu lehrte mich das tagelange Fasten, um mich auf eine große Jenseitsreise vorzubereiten. Er lehrte mich die Zubereitung berauschender Getränke und die Wirkung von Heilkräutern und Wurzeln. Er lehrte mich die Deutung des Schulterknochenorakels, wofür ich ihm und Tenger ein weiteres Schaf aus unserer Herde opferte. Dieses Mal schlachtete ich das Schaf nicht heimlich, sondern direkt vor der Jurte meiner Mutter. Falls sie bemerkt hatte, dass das Schulterblatt fehlte, als sie die Fleischbrocken in den Kochtopf tat, kommentierte sie diese Erkenntnis nicht.
Kökschu zeigte mir, dass ein Schamane mehr war als ein verrückter Medizinmann. Er war Sänger, Dichter, Musiker, Wahrsager, Priester und Heiler. Kökschu machte mir die Welt begreifbar. Er zeigte mir das ekstatische Gefühl von Einsamkeit und das unendliche Glück grenzenloser Freiheit. Er schärfte alle meine Sinne, damit ich das Unsichtbare erkennen konnte. Er lehrte mich, eigene Entscheidungen zu treffen, ohne auf die Meinung anderer zu hören. Ich nahm das Wissen in mich auf wie ein durstiges Kamel das kühle Wasser nach einer Wüstendurchquerung.
Ich litt wieder. Nicht unter körperlichen Schmerzen oder einer unstillbaren Sehnsucht, sondern an der Ohnmacht, Dinge sehen zu können, die andere nicht sahen und nicht darüber sprechen zu dürfen. Mit niemandem.
Noch vor dem Neujahrsfest führte Kökschu meinen ersten Tschanar, die erste von dreizehn Schamanenweihen, durch. In der Nacht meiner Unterwerfung unter den göttlichen Willen war ich sterbenskrank, nicht nur aus Angst vor der Reaktion meiner Mutter, wenn sie von meinem nächtlichen Aufstieg in die Zweige des Weltenbaums erfuhr, einer Weide außerhalb des Ordu, schlank gewachsen, biegsam im Wind, anspruchslos.
Während der heiligen Zeremonien fiel ich vor Schwäche um und blieb wie benommen im Schnee liegen. Die Visionen waren überwältigend gewesen. Ich nahm die Wirklichkeit nicht mehr wahr, bis sich Kökschu besorgt über mich beugte. »Du hast eine unglaubliche Kraft in dir, Temur. Dein Körper ist noch nicht so stark, dass er das Feuerpferd in dir zähmen kann. Lass dir Zeit, du hast in deinem Leben noch zwölf Tschanars vor dir!« Er half mir auf die Beine. Gemeinsam setzten wir die Opferzeremonien im Birkenwald außerhalb des Ordu fort.
Dann trat ich meine erste Reise an in die Welt jenseits von Schein und Sein, in die Welt des Entweder Und Oder. Der Weg dorthin war so wenig festgelegt wie der Zeitpunkt der Wiederkehr. Weder wusste ich, wo der Horizont des Wahrseins lag, noch wie ich ihn in Richtung des Wahrmachens überschreiten konnte.
Es ist nicht wichtig, in welcher Richtung du aufbrichst. Es ist nicht wichtig, wie viele Umwege du machst, um zum Ziel zu kommen. Es ist nicht wichtig, wie du ankommst. Nur dass du ankommst und alles Gesehene, Gehörte, Erlebte, Erlittene mit dir nimmst.
In diesem Winter war die Steppe mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, die Flüsse waren ellendick gefroren, das Eis schimmerte wie chinesisches Glas und spiegelte den opalblauen Himmel.
Meine Mutter begann Tage vor dem Neujahrsfest Tsagaan Sar Hammelsuppe zu kochen, chinesische Teeziegel zu Pulver zu zerstoßen, gefrorenen Airag in der Jurte aufzutauen, und Neujahrsbrote zu backen. Am Vorabend des Festes feierten meine Mutter und ich zusammen mit meinem Freund Jesutai mit einem Essen im Kreis der Familie.
Am Neujahrsmorgen versammelten sich die Familien beim Beki. Wir überreichten Fürst Toda Khadags, himmelblaue Seidentücher, als Zeichen des Respekts. Ich beobachtete Munlik, der in der letzten Reihe der Anwesenden stand und den Blick gesenkt hielt, als sich Toda für das Vertrauen bedankte und sich einen Khadag über die Schultern warf.
Schon mittags begann ich mit meiner Runde durch die Jurten. Überall wurde Hammelbraten aufgetragen, ein Berg von Neujahrsbroten, frischem Käse und saurem Aaruul-Quark. Aber am liebsten mochte ich die braunen Zuckerstücke aus dem Land Chin, den die chinesischen Händler uns gegen Kamele und Schafe getauscht hatten. Meine Trinkfestigkeit wurde in diesem sechsten Lebensjahr auf die Probe gestellt. Zum Hammel wurde eine Tasse gesalzenen Tee gereicht, während eine Schale mit Airag kreiste. Niemals blieb eine der beiden Schalen leer. Immer wieder trank ich einen Schluck, während die Gastgeberin die Schale sofort wieder auffüllte. Ich brachte Trinksprüche auf die besuchte Familie aus, auf Gesundheit, Glück und Reichtum. Wir tranken auf den überstandenen Winter, auf milderes Wetter, eine baldige Schneeschmelze ohne Überschwemmungen, auf gesunde Lämmer, auf viel Wolle im Sommer, auf eine gute Murmeltierjagd, auf einen langen, milden Herbst und einen warmen Winter ohne Viehverlust.
Je mehr ein Mongol trinkt, desto mehr wird er streiten. Als ich am zweiten Festtag Munliks Jurte betrat, um ihm ein glückliches neues Jahr zu wünschen, wehte mir mit dem Duft von Arkhi der Streit entgegen. Wie angewurzelt blieb ich im Eingang des Zeltes stehen, direkt hinter dem Türfilz. Jesutai prallte von hinten auf mich und stolperte über die Schwelle. Ein böses Omen! Mit Jesutais Sturz war mir die Aufmerksamkeit aller Anwesenden für einen Augenblick sicher. Fast aller. Munlik und Toda beachteten mich gar nicht.
»Das ist eine Fehlentscheidung, Toda!«, brüllte Munlik.
»Das ist deine Meinung, Munlik! Es ist nicht die Meinung des gesamten Ordu!«, schrie Toda ebenso laut zurück.
»Viele denken wie ich!« Munliks Lautstärke war eine Beleidigung für den Fürsten. Ein Mongol schreit nicht.
»Viele, ja! Aber nicht alle, Munlik!« Toda bemühte sich um eine normale Stimmlage. Aber seine Stimme zitterte vor Zorn. »Wenn du der Meinung bist, die Mehrzahl der Klanfamilien zu vertreten, dann lass dich von ihnen doch zum Fürsten wählen!«
»Es ist sicherer, sich Temudschin anzuschließen, Toda Beki.« Ich bemerkte, dass Munlik Toda seinen Titel Beki zurückgegeben hatte.
»Sicherer für wen? Für Temudschin? Für dich, der du ihm schon die Windeln gewechselt hast? Für Dschamuga? Für mich?«
»Sicherer für uns alle. Temudschin stellt seine Anhänger unter seinen Schutz.«
»Schutz wovor?«, fragte Toda gefährlich ruhig.
»Schutz vor unseren Feinden.«
»Und wer, glaubst du, Munlik, sind unsere Feinde?«
»Dschamuga ist einer davon«, warf Munlik vage ein.
»Erklär mir das, Munlik! Vielleicht ist mir in den letzten Monden etwas entgangen.«
»Dschamuga sammelt ein Heer«, sagte Munlik.
Viele der am Feuer Sitzenden murmelten unruhig.
»Das tut Temudschin auch«, antwortete Toda.
»Dschamuga will die Macht übernehmen. Er will herrschen.«
»Das will Temudschin auch.«
»Temudschin hat mehr Anhänger. Viele Stämme sind zu ihm gezogen. Die Fürsten Kuschar und Altan sind in seinem Lager. Euer Vater ist ebenfalls dort.«
»Ich soll mich also deiner Meinung nach dem Stärkeren anschließen?«, fragte Toda.
»So will es das Gesetz der Steppe!«
»Du musst mir dieses Gesetz nicht erklären, Munlik«, sagte Toda ärgerlich. »Ich bin hier geboren.«
»Wie also werdet Ihr entscheiden, Toda Beki?«, fragte Munlik.
Die Anwesenden hingen an Todas Lippen. Hier und jetzt wurde das Schicksal des Klans entschieden.
»Wir werden hier bleiben. Wir sind zu wenige, um die Herden nach Westen zu treiben und das Lager zu verlegen. Wir sind zu schwach, um seine Unterstützung zu erflehen«, murmelte Toda so leise, dass seine Worte im Prasseln des Feuers fast untergingen.
»Ein Starker braucht keine Unterstützung, Toda Beki. Wir sind schwach. Wir sind leichte Beute für Dschamuga.«
Toda sah Munlik nachdenklich an. »Wenn du zu Temudschin ziehen willst, dann tu das, Munlik. Ich werde dich nicht aufhalten.«
Am nächsten Morgen suchte ich Munlik auf, als er eine seiner Kisten auf ein Kamel schnallte. Immer wieder streifte sein Blick den westlichen Horizont. Dort drüben war Temudschins Lager.
Seine Söhne zerlegten Munliks Jurte, schoben die Scherengitter zusammen und falteten die Filzbahnen zu einer großen Rolle. Kökschu trug die Töpfe zusammen, um sie auf den Wagen zu laden. Immer wieder warf er mir einen Blick zu. Seinen Vater sah er nicht an.
Ohne ein Wort zu sagen, half ich Munlik beim Aufladen. Als die letzte Truhe seiner Habe auf dem Wagen und den Kamelen verstaut war, sagte ich: »Ich bin traurig. Ihr werdet uns verlassen, Munlik.«
»Ich liebe Temudschins Mutter. Ich habe sie schon geliebt, als sie noch die Frau seines Vaters war. Ich will sie heiraten.«
»Und liebt sie Euch?«
»Vielleicht nimmt sie mich. Sie muss nicht.«
»Dann werdet Ihr Temudschins Stiefvater. Man sagt, sie wollen Temudschin zum Khan machen.«
»Woher bei allen Geistern weißt du das schon wieder? Du bist mir unheimlich, Temur. Immer weißt du Dinge vorher, bevor sie geschehen können. Kannst du in die Zeit hineinsehen?«
Kökschu begann, mich die Gesetze der Welt zu lehren. Das Gesetz der Einheit, das besagte, dass jeder Teil der Welt, ob sichtbar oder unsichtbar, aus zwei Teilen bestand. So wie Licht und Finsternis, Hitze und Kälte, Krieg und Frieden nur die beiden Teile einer Einheit waren, die keinen Namen besaß. Dass auch Himmel und Erde nur zwei Aspekte Gottes waren. Dass es die Wahrheit nicht gab, weder in dieser noch in der anderen Welt. Nur in beiden gleichzeitig.
Er ließ mich in seinen Schamanenspiegel blicken und ich erkannte mein seitenverkehrtes Bild. Je tiefer ich mich in jene Spiegelwelt versenkte, desto unwirklicher erschien mir die Welt diesseits des Spiegels. Irgendwo zwischen mir und meinem Spiegelbild lag die Ebene, um die gespiegelt wurde, und die war nicht wahrnehmbar. Diesen unsichtbaren Punkt nannte Kökschu die Ganzheit.
Die Menschen machen den Fehler, zu ignorieren, was ihre Sinne nicht wahrnehmen. Sie haben verlernt, zwischen den Zeilen zu lesen und das Ganze zu sehen. Alles Sichtbare ist nur Symbol. Die Wirklichkeit dahinter ist für den Menschen nicht erkennbar.
Die Schneeschmelze hatte noch nicht eingesetzt, als wir das Winterlager abbrachen und zu neuen Weideflächen zogen. Die Jurten wurden innerhalb weniger Stunden zerlegt und auf zweirädrige Wagen verladen, die von Yaks gezogen wurden. Die Truhen, Filzteppiche und Herdgestelle wurden auf die Lastkamele verteilt. Die Herden waren bereits Tage zuvor von den Männern zusammengetrieben worden. Pferde, Yaks, Ziegen, Schafe und Kamele scharrten auf den schneebedeckten Weiden rings um das Lager nach Gras.
Im ersten Frühlingsmond des Jahres des Schweins (1191) errichteten wir das Lager nahe den Quellen des Kherlen. Fürst Dschamuga schlug wenige Tage nach uns sein Lager in der Nähe auf. Auf dem Weg dorthin machte er mit seinen engsten Freunden Rast in Todas Zelt.
Todas Erste Gemahlin war eine Cousine von Dschamuga. Und ihr Sohn Jesutai war im gleichen Alter wie Dschamugas Tochter. Deshalb nahm mein Freund an dieser Unterredung im Zelt des Beki teil. Warum ich dabei war, wusste niemand. Aber es fragte auch niemand.
Toda empfing Dschamuga mit allen Ehren, seine Frau empfing ihren Cousin mit einem Hammelbraten, der dem Neujahrsfest angemessen gewesen wäre. Wie selbstverständlich ließ sich Dschamuga nach seinem Eintreten in Todas Jurte und dem zeremoniellen Beriechen seiner Verwandten auf dem Ehrenplatz gegenüber dem Jurteneingang nieder, nicht auf der ihm als Gast traditionell zustehenden Westseite der Jurte. Und obwohl Dschamuga fast zwei Jahre jünger war als Toda und sein Rang als Beki der Dschalair nicht höher war als der des Beki der Kiyat, duzte Dschamuga Toda wie einen jüngeren Bruder.
Während Toda die Hammelstücke verteilte, beobachtete ich Dschamuga. Er war so groß wie Temudschin. Seine kostbare Seidendeel war elegant geschnitten und betonte seine muskulösen Schultern. Der silberverzierte Schwertgurt stammte vermutlich von einem Beutezug in einem der chinesischen Dörfer nördlich der Großen Mauer. Der Beki trug sein schwarzes Haar in aufgesteckten Zöpfen, die seitlich der Ohren durch verzierte goldene Ringe gehalten wurden. Dschamuga untermalte jedes seiner Worte mit einem charmanten Lächeln, dessen Intensität er offenbar genau unter Kontrolle hatte. Es war das Lächeln eines Tigers.
Schon während des Essens drehte sich das Gespräch nicht mehr um die Herden, die neuen Weidegründe und die gemeinsame Jagd der beiden Klans, sondern um Loyalität, Bündnisse und Erwartungen. Ich begann mich zu fragen, ob Dschamuga seinen Frühlingslagerplatz mit Bedacht gewählt hatte. Er schien Toda Beki und sein Ordu als Beute zu betrachten, die es durch geschicktes Taktieren zu gewinnen galt. Er wollte Toda, der durch seine Unentschlossenheit zum Machtfaktor in der Steppe geworden war, seinem Anda Temudschin abjagen und als Trophäe in sein Ordu führen. Hierzu setzte er jedes Mittel ein: Nettigkeiten, Versprechen und Drohungen.
»Der Zusammenhalt der Stämme ist seit Kutula Khans Tod zerbrochen. Kutula starb als Besiegter. Mit ihm haben wir alle verloren. Wir brauchen einen starken Führer.« Dschamuga überließ es Todas Vorstellungsvermögen, wen er als starken Führer betrachtete. »Mein Anda Temudschin ist ein Mitglied der Familie von Kutula Khan. Vielleicht werden ihm die Bekis bald die Khanwürde anbieten. Vielleicht auch nicht, denn im Augenblick bin ich der Stärkere.«
Offenbar war sich Dschamuga seines Rufes nicht bewusst. Mondelang galt er als der geeignete Kandidat für die Wahl zum Khan, aber sein Ruf als unzuverlässiger Führer eilte ihm voraus. Temudschin hingegen galt als gerecht, großzügig und verwegen, besaß also genau jene Eigenschaften, die man seinen Verwandten Kutula und Ambakai Khan zuschrieb.
»Mag sein«, gestand Toda dem Cousin seiner Frau zu. »Aber Ihr züchtet Schafe, während Temudschin Pferde züchtet. Mit Schafen kann man keinen Krieg führen.«
»Jeder meiner Krieger verfügt über mehr als zehn Pferde. Ich bin in der Lage, Temudschin in einer einzigen Schlacht zu schlagen.«
»Warum sucht Ihr dann ein Bündnis mit mir?«
»Du hast Recht, Toda. Im Augenblick bist du nicht gerade in einer starken Position, wenn deine Gefolgsleute zu Temudschin überlaufen. Munlik hat vor wenigen Wochen Temudschins Mutter geheiratet. Er ist jetzt der Stiefvater meines Anda.« Dschamuga lachte. Dann besann er sich und beantwortete Todas Frage: »Ich brauche fähige Noyans.«
»Gegen Temudschin?«
»Ja«, sagte Dschamuga.
»Ihr versprecht mir also ein Kommando?« Dschamuga glaubte schon, Toda im Netz seiner Worte gefangen zu haben, als Toda einwandte: »Ich habe keine Erfahrung in der Kriegführung. Ich habe noch nie ein fremdes Ordu überfallen, um Beute zu machen.«
Dschamugas Blick verfinsterte sich. Doch nur für einen Augenblick, dann trat das Lächeln wieder in seine Mundwinkel. Er spielte mit Toda wie ein Tiger mit seinem Abendessen. Irgendwann würde er zuschlagen. »Das macht nichts, Cousin. Wir werden ein leichtes Spiel haben.«
»Temudschin ist ebenfalls mein Cousin«, wandte Toda ein.
»Ich weiß. Das wird ihn nicht davon abhalten, dich deines Titels als Beki zu entheben, wenn er Khan ist.«
Toda sah Dschamuga nachdenklich an. »Er hat mich mit ähnlichen Worten vor Euch gewarnt, Fürst Dschamuga.«
Dschamuga lachte und trank seine Airag-Schale leer, um sie sich von seiner Cousine nachschenken zu lassen. »Ich kenne meinen Anda gut. Seine Worte waren mit Bedacht gewählt. Er hetzt dich wie einen seiner Hunde gegen mich. Aber nicht mehr lange.«
War Dschamuga nicht bewusst, wie sehr er Toda durch den Vergleich beleidigt hatte? Todas Lippen verkrampften sich einen Augenblick. Er durfte sich nicht herausfordern lassen. »Die meisten Klans wollen einen Khan«, sagte er. »Wir bekriegen uns gegenseitig, statt unter einer starken Hand vereint gegen die Chin oder die Tatar ins Feld zu ziehen.«
»Ich werde als Khan unser Volk vereinigen«, versprach Dschamuga. »Ich werde eine neue Dynastie gründen.«
Das war Todas Stichwort, seinen Sohn ins Spiel zu bringen. Er winkte ihn zu sich heran und ließ ihn neben sich Platz nehmen. »Ich will Euch meinen Sohn Jesutai vorstellen, Dschamuga Beki.«
Dschamuga nahm Jesutais Hand und zog ihn zu sich herüber. »Er hat Glanz in den Augen. Er wird ein großer Krieger werden.« Dann wandte er sich an Jesutai. »Wie alt bist du, mein Sohn?«
»Sechs Jahre alt, Beki.«
»Du bist so alt wie meine Tochter Morghan, Jesutai. Ich würde mich freuen, deinen Vater und dich in drei Jahren als meine Gäste zu begrüßen, um dir die Hand meiner Tochter zu geben.«
Ich traute meinen Ohren nicht! Dschamuga war bereit, seine Tochter zu verkaufen, um ein Bündnis mit Toda zu erreichen?
Bevor ich über seine Worte nachdenken konnte, erhob sich Dschamuga und verabschiedete sich von Toda und seiner Frau. Im Eingang der Jurte blieb er kurz stehen, als ob ihm seine letzte Frage jetzt erst einfiel. »Lebt sie noch in deinem Ordu, Toda?«
»Sie hat das Ordu nie verlassen.«
»Ich werde sie besuchen«, sagte Dschamuga, als wäre es ein spontaner Einfall kurz vor seiner Abreise.
»Wie Ihr wollt.« Toda hatte es offenbar aufgegeben, Dschamuga zu sagen, was er tun oder was er besser unterlassen sollte.
Jesutai und ich folgten Dschamuga aus dem Zelt, weil wir ihm und seinen wartenden Begleitern die Pferde bringen wollten. Ich war überrascht, dass Dschamuga nach einer kurzen Unterredung mit einem seiner Begleiter zu Fuß den Weg durch unser Ordu einschlug. Als würde er den Weg kennen, begab er sich ohne Umwege zur Jurte meiner Mutter. Ich folgte ihm wie sein Schatten.
Meine Mutter wurde bleich wie der Weißmond, als sie nach seinem Klopfen mit der Reitpeitsche auf das Dachgestänge aus unserer Jurte trat und sich ohne Vorwarnung Dschamuga gegenübersah. Ihrem überraschten Gesichtsausdruck entnahm ich, dass sie ihn gut kannte, aber nie im Leben mit seiner Anwesenheit in ihrer Jurte gerechnet hätte. Dschamuga zog sie an sich, aber statt sie nur höflich zu begrüßen, was sie offensichtlich erwartet hatte, küsste er sie auf den Mund. Noch nie habe ich meine Mutter so flatterig gesehen wie einen kleinen Vogel.
Ich folgte den beiden in das Zelt. Nur um ganz sicherzugehen.
»Es ist lange her«, sagte Dschamuga, als er sich auf die zusammengerollten Bettdecken setzte und die Malgaj neben sich legte. Er schien eine Vorliebe für die Lieblingsplätze anderer Männer zu haben. Üblicherweise saß ich dort, wenn ich mit meiner Mutter allein war. Dschamuga warf mir bei meinem Eintreten einen irritierten Blick zu.
»Mein Sohn Temur«, stellte mich meine Mutter vor, als gehörte ich zum Mobiliar des Zeltes. Ich hielt es für sicherer, mich in der Nähe der Truhen aufzuhalten, um ihre Unterhaltung verfolgen zu können. Ich wurde eins mit den Schatten.
»Wie lange haben wir uns nicht gesehen?«, fragte Dschamuga, als wüsste er es nicht.
»Sechs Jahre«, sagte meine Mutter.
Ich starrte Dschamuga mit offenem Mund an.
»Ich hätte dich heiraten sollen«, sinnierte der Fürst.
»Das hätte nichts geändert, Dschamuga. Er wollte mich und hat mich einfach genommen.«
»Das habe ich ihm nie verziehen.«
»Ich auch nicht«, bestätigte meine Mutter.
»Du bist danach nicht zu mir zurückgekehrt. Er hat dich nicht lange behalten. Als er seine Frau wiederhatte, hat er dich in die Wüste geschickt.«
»Ihr hättet mich nicht mehr gewollt, Dschamuga.«
»Du irrst dich, Geliebte. Ich will dich noch heute.«
Sie sah überrascht auf. »Ich bin alt.«
»Du bist schön wie eine Rose«, schmeichelte er ihr mit sanfter Stimme.
»Die Rose hat jetzt Dornen, Dschamuga.«
Der Beki lachte und seine Augen funkelten. »Deine Dornen sind eine Herausforderung, aber kein Hindernis. Ich werde ganz vorsichtig sein.«
Er hatte ihre Hand ergriffen und führte sie an seine Lippen. Meine Mutter bewegte sich nicht. Dschamuga ließ ihre Hand los und begann ihre Deel aufzuknöpfen. Meine Anwesenheit schien er vergessen zu haben. Ich existierte nicht.
Meine Mutter saß unbeweglich vor ihm und genoss seine Hände auf ihrer Haut. So hatte ich sie noch nie gesehen. Wenn Toda auf ihr lag, um sich an ihr zu befriedigen, lag sie still und lächelte nicht. Bei Dschamuga war das anders. Er hatte eine unglaubliche Macht über sie, verzauberte sie durch seine bloße Anwesenheit. War sie in ihn verliebt gewesen? Die nächste Frage schoss wie ein Pfeil durch meine Gedanken. War Dschamuga mein Vater?
Dschamugas Leidenschaft für meine Mutter war ungebrochen. Mit der Hand hatte er eine ihrer Brüste umfasst und streichelte sie sanft. Dann ließ er sich rückwärts auf die Schlafmatte sinken und zog sie mit sich, bis ihr Kopf an seiner Schulter lag. Wieder verschwand seine suchende Hand unter dem Stoff ihrer Deel. Ihr Gesicht wurde ganz weich, so wie im Schlaf.
Dann glitt ihre Hand über seine Deel aus Chin-Seide, um die Verschlüsse auf der rechten Schulter zu öffnen. Während Dschamuga aus den langen Ärmeln des Gewandes glitt, beugte er sich über meine Mutter, um sie auf den Mund zu küssen. Sie antwortete bereitwillig in der gleichen Sprache, was ihn maßlos zu erregen schien.
Dschamuga und meine Mutter gaben sich Mühe, den anderen in Ekstase zu versetzen. Noch nie hatte ich gesehen, dass der Liebesakt derartig in die Länge gezogen wurde. Wenn Toda in unser Zelt kam, dauerte es keine Viertelstunde, bis er fertig war und die Jurte wieder verließ. Dschamuga aber tat Dinge mit meiner Mutter, die ihr gefielen.
Lautlos drückte ich mich in eine dunkle Ecke zwischen zwei Truhen und beobachtete die beiden. Aber sie hätten mich nicht einmal bemerkt, wenn ich mit lautem Trommelwirbel einen Schamanentanz aufgeführt hätte.
Sie drückte ihn auf das Lager zurück. Er lag auf der Seite, die ich nachts benutzte. Er sah meine Mutter erwartungsvoll an, als sie ihre Deel abstreifte und sich auf ihn legte. Ich war überrascht. Ich war noch nie auf die Idee gekommen, dass eine Frau oben liegen könnte. Aber offensichtlich tat sie mit Dschamuga das, was Toda sonst mit ihr tat. Sie bestimmte über das Wann und das Wie, sie gab die Geschwindigkeit vor und Dschamuga folgte ihr lächelnd. Gemeinsam erreichten sie den Höhepunkt.
Dann rollte sich meine Mutter von Dschamuga herunter und lag in seinen Armen. Er küsste sie auf das zerwühlte Haar. »Ich würde dich gerne mitnehmen, Geliebte«, flüsterte er in ihr Ohr. Sie sah ihn überrascht an und wollte etwas sagen. »Aber das wäre unklug. Ich brauche Toda.«
»Ich bin nicht mit ihm verheiratet, Dschamuga.«
»Aber er schläft mit dir.«
»Woher ...?«
»Ich weiß es«, sagte Dschamuga. Und er sagte es auf eine Weise, wie Kökschu von den Dingen sprach, die niemand außer ihm sehen konnte. Dschamuga erhob sich und begann sich anzukleiden. »Wenn ich Khan bin, werde ich dich heiraten.«
»Ihr habt fünf Frauen, Dschamuga. Soll ich die sechste werden?«
»Du wirst die Erste sein, Khatun«, versprach der Beki und knöpfte die Deel zu.