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Planung, Vorbereitung und andere

Katastrophen

Das große Kopfzerbrechen

Oktober 2017. So eine große Reise muss gut vorbereitet sein. Bereits seit einem halben Jahr verbringe ich Stunden damit, alle Orte, die Goethe einst besuchte, herauszusuchen und zu markieren. Ich überlege, wie lange ich mit meinem geplanten Budget von dreitausend Euro unterwegs sein kann und wie ich die Etappen aufteilen werde.

Zunächst schwebt mir eine Dauer von sechs Wochen vor. Schon die Vorstellung, sechs Wochen lang allein quer durch Italien zu reisen, lässt mich ganz tief durchatmen, und ich brauche bereits im Vorfeld einiges an Mut, mich überhaupt an dieses Projekt heranzuwagen. Aber die Vorfreude ist größer als die Angst und es ist ja ohnehin immer so, dass ich Dinge, die ich mir einmal in den Kopf gesetzt habe, durchziehe. Ich bin nämlich ein Sturkopf von Kindesbeinen an und so hätte nicht mal ich selbst mir diese Reise wieder ausreden können.

Zum Glück bin ich aber nicht nur sehr dickköpfig, sondern auch realistisch. Mir ist klar, dass sechs Wochen eindeutig zu stressig wären und ich vermutlich keinen Spaß bei der Sache hätte. Es bleibt eigentlich nur eine Möglichkeit: um mindestens zwei Wochen zu verlängern. Ich rechne mir also durch, wie lange ich für jede Etappe brauchen will und wo ich wie viele Nächte schlafen werde. Für jede Etappe lasse ich ein bis zwei „Puffertage“, die ich dann recht kurzfristig noch verplanen kann. Die jetzige Route scheint mit dieser Länge perfekt aufgeteilt, was aber auch bedeutet, dass ich den geplanten Geldbetrag pro Tag runtersetzen muss und mich mit durchschnittlich fünfzig Euro pro Tag vermutlich an der Grenze des Möglichen bewegen werde, denn noch mehr Geld als die dreitausend Euro will (und kann) ich keinesfalls in die Hand nehmen. Ich verkaufte für die Erfüllung dieses Traums eigens mein Auto! An die gesetzte Bugdetgrenze will ich mich unbedingt halten, egal wie. Somit ist klar: fünfzig Euro pro Tag und nicht mehr! Dass das bei durchschnittlichen Übernachtungskosten von etwa dreißig Euro pro Nacht eine Herausforderung wird, ist mir klar. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich solche Aufgaben nicht als einladende Challenge sehen würde, und beschließe, dem Plan – so wie er steht – eine Chance zu geben.

Jedenfalls ist die erste Planungsphase damit einmal fast abgeschlossen. Die Route, der Zeitplan und das Budget stehen fest. Bleibt nur mehr die Frage, wann ich meinen ausgeklügelten Plan realisieren will. „Irgendwann 2018“ ist nun eben nicht mehr exakt genug. Im Jänner oder Februar zu starten, kommt für mich nicht in Frage, da ich ein Wintermuffel bin und die Aussicht auf Schnee und kalten Wind in Südtirol und Oberitalien nicht wirklich verlockend ist. Kurz denke ich an den Sommer, aber diese Idee verwerfe ich dann aus zwei Gründen wieder: zum einen, weil es im Süden richtig heiß werden kann und ich dann vermutlich schwitzend mit Sack und Pack am Rücken diese Reise verteufeln würde; zum anderen, weil mein frischgebackener Ehemann Harry seinen Betriebsurlaub nicht für einen Besuch auf MEINER Reise aufwenden soll. Was wir im Sommer machen, soll eine gemeinsame Entscheidung sein und sich nicht nur an meinen Plänen orientieren. Also bleibt nur die Möglichkeit, irgendwann zwischen März und Juni unterwegs zu sein. Da es mir nicht sehr einfühlsam erscheint, an unserem ersten Hochzeitstag Ende Mai nicht zu Hause zu sein, kristallisiert sich Mitte März bis Mitte Mai als idealer Zeitraum heraus.

Eine lange Liste

Dezember 2017. Das Projekt ruhte die letzten Wochen ein wenig. Die Eckpfeiler stehen ja und zu Tode planen wollte ich mich nicht. Aber jetzt, etwa drei Monate vor Reisebeginn, mache ich mir Gedanken darüber, was ich für die Reise noch brauchen werde und was ich noch wissen sollte. So beginne ich damit, Infos über die Orte, die ich besuchen will, zusammenzutragen. Ich lese mich schon ein bisschen ein, viel bleibt aber nicht hängen. Es grenzt wahrscheinlich auch an Wahnsinn, sich Infos von über fünfundzwanzig Orten im Vorfeld merken zu wollen, oder? Pinterest sei Dank, dass ich mir die Artikel dort einfach abspeichern und unterwegs leicht darauf zugreifen kann. Natürlich führe ich mir auch Goethes Buch noch einmal zu Gemüte – diesmal aber als E-Book, in dem ich wichtige Stellen und relevante Punkte gleich markieren kann.

Viel aufreibender und schwieriger erweist sich die Recherche zu den notwendigen Utensilien, die ich unbedingt mitnehmen sollte. Ich lese Backpacker-Berichte und praktische Ratgeber, was zur Folge hat, dass meine Packliste immer länger und länger wird. In meinen Gedanken wird daher auch mein Rucksack, den ich noch nicht mal habe, immer schwerer. Für mich ist klar, dass mein zukünftiger Weggefährte keinesfalls mehr als fünfzig Liter fassen soll. Da ich mit 1,62 Metern doch einigermaßen kompakt geraten bin, sieht ein Sechzig-Liter-Rucksack an mir aus wie ein vollgestopfter Heukorb an einer alten Sennerin. Wäre dieser dann noch gefüllt, würde ich wohl rücklings umfallen und wie ein Käfer am Rücken um Hilfe schreien. Dieses Szenario will ich mir auf alle Fälle ersparen! Ich entscheide mich deshalb für ein etwas kleineres Modell. Dass die Suche nach dem „perfekten“ Rucksack aufgrund meiner hohen Ansprüche kein Zuckerschlecken ist, muss mein Mann ausbaden: Egal, wo wir einkaufen, habe ich das Bedürfnis, hunderte Rucksäcke anzuprobieren. Dabei gelten meine Sorgen hauptsächlich meinem Rücken, der in den Vorjahren sehr oft das tat, was er nicht sollte: weh. Schließlich finde ich dann doch das Gepäckstück meiner Vorstellungen und kann mich nun der Liste mit allen anderen Sachen widmen. Viele von diesen Dingen streiche ich wieder, weil sie mir sinnlos erscheinen, einiges habe ich bereits zu Hause und manches gebe ich zurück, weil es einfach nicht in den Rucksack passt.

Jänner 2018. Der Bekleidungseinkauf nach Weihnachten steht schon ganz im Zeichen der Reise, denn ich kaufe mir nur Sachen, die leicht, praktisch und schnell trocknend sind. Schuhe und Jacke unterziehe ich schon bei Kurztrips anfangs des Jahres einem Bestandstest, um mir wirklich sicher zu sein. Die größte Neuanschaffung, die ich extra für die Italienreise tätige, ist eine kleine Kamera. Mit ist nämlich klar, dass ich die große Spiegelreflexkamera keinesfalls mitschleppen kann – und so erstehe ich eine Profikompakte, klein und handlich, super leistungsstark und für meine Verhältnisse sauteuer.

Schließlich buche ich die Unterkünfte für die erste Etappe, den Zug für An- und Rückreise, die Fähre für die Überfahrt nach Sizilien und freue mich auf das immer näher kommende Abenteuer. Meine Vorfreude erleidet jedoch einen kurzen Dämpfer, denn bis kurz vor der Abreise finde ich partout keine günstigen Unterkünfte in Sterzing und Bozen. Ich sehe mich schon unnötig Geld in Drei-Sterne-Hotels liegen lassen, nachdem auch meine Anfragen für Couchsurfing erfolglos bleiben. Erst ganz kurzfristig ergeben sich dann doch zwei Übernachtungsmöglichkeiten, die ich über Airbnb finde. Eigentlich wollte ich diese Plattform meiden, aber was soll's. Es ist der Beginn von ganz vielen Momenten, in denen ich Prinzipien über Bord werfe.

Zweifel und Panik

Ein paar Wochen vor Aufbruch, mitten im Planungsendspurt, zweifle ich an der Art und Weise, wie ich das ganze Projekt angehe. Es stellt sich mir die Frage, ob Goethe seine Reise auch so genau plante. Nein, tat er natürlich nicht. Als Reiseführer dienten ihm nur die Erzählungen seines Vaters und zwei Bücher, die er bei sich trug: der „Volkmann“ und der „Winckelmann“. Den „Volkmann“, damals das Nonplusultra, was das Wissen über Italien abgelangte, zog er heran, um mehr über antike Bauwerke und verschiedene Orte heraus zu finden, der „Winckelmann“ fungierte als ausgiebige Quelle zu Sizilien. Mehr Wissensgrundlage hatte Goethe nicht und außer dem Vorhaben, Rom sehen zu wollen, gab es vermutlich keine genaue Route oder einen Zeitplan.

Heutzutage tut man sich relativ leicht: Im Internet steht (fast) alles, was man wissen muss und will. Ich kann so meine Unterkünfte und Züge bequem online im Vorhinein buchen und meine Kosten ziemlich gut abschätzen. So gesehen war die Reise für Goethe sicher ein größeres und unbekannteres Abenteuer als für mich. Abgesehen davon, dass ich einige der Orte auf der Route schon kenne, weiß ich auch ungefähr, was mich an denen, die mir noch unbekannt sind, erwartet. Goethe wusste das sicher nur ansatzweise und jede Station, die er auf der Karte absteckte, beinhaltete das große Geschenk des Neuen und Unbekannten. Ich muss mich schon mit weniger Ungewissheiten zufrieden geben. Das ist sicherlich der Preis, den meine Generation für die vielen verfügbaren Informationen bezahlt.

Ich muss aber gestehen, dass ich auch ohne den Duft des großen, unbekannten Abenteuers schon sehr aufgeregt bin. Denn es handelt sich um meine erste längere Reise (bisher waren drei Wochen am Stück das höchste der Gefühle) und vor allem die erste richtige Reise allein. Die Fragen, ob ich das wohl alles schaffen werde, ob es mir irgendwann zu viel werden könnte, ich das bisher unbekannte Gefühl des Heimwehs spüren werde und ob die Reise wirklich so großartig wird, wie ich sie mir ausmale, stelle ich mir beinahe jeden Tag. Ein paar Wochen Zeit habe ich ja noch für die Vorbereitung, aber ich spüre, dass es immer ernster wird und meine Pläne immer konkreter werden.

Auch mache ich mir Gedanken darüber, inwieweit ich meine Reise denn mit der von Goethe überhaupt vergleichen kann. Generell wäre ich ja gern wie Goethe mit der Postkutsche gefahren, aber erstens würde ich dann vermutlich fünfzig statt acht Wochen brauchen, und zweitens gibt es diese Möglichkeit gar nicht mehr. Ob das in Zeiten des Vintage-Booms eine Geschäftsidee wäre, wieder Reisen mit Kutschen anzubieten, so wie früher in guten (oder schlechten) alten Zeiten? Solche abstrusen Einfälle kommen mir in den letzten Wochen, bevor ich abreise.

Gerade als es dann tatsächlich ans Packen geht, kommt mir in den Sinn, dass ich bisher nie darüber nachgedacht habe, was Goethe eigentlich im Gepäck hatte. In seinem Buch gibt es nur vage Hinweise dahingehend und es ist mir nicht klar, ob er eher mit leichtem Gepäck reiste oder brav andere für sich schleppen ließ. Auch wie viel Geld er denn überhaupt bei sich hatte und wie er dieses sicher verstaute, ist angesichts meiner eigenen Versuche, das Geld im Rucksack zu verstecken, plötzlich relevant. Ich beschließe, immer möglichst wenig Bargeld bei mir zu haben, und dieses – genau wie auch Kredit- und Bankomatkarte – auf mehrere Täschchen aufzuteilen.

Je näher die Reise kommt, umso mehr Angst habe ich, einerseits vor dem langen Alleinsein, andererseits vor den Herausforderungen und den Hürden, die auf mich warten. Ständig geistern in meinem Kopf Fragen herum wie: „Wird mit den Zugverbindungen alles klappen? Finde ich überhaupt immer ein Zimmer? Was wenn nicht? Wird das Geld reichen? Wie bleiben ich und mein Hab und Gut auf dieser Reise unversehrt?“ Mich kurz vor der Reise mit Diebstahldelikten und Gewalt an Frauen unterwegs zu beschäftigen, trägt nicht wirklich zur Minderung meiner Ängste bei. Soll ich vorher vielleicht noch einen Selbstverteidigungskurs besuchen oder mir ein Pfefferspray besorgen? Ein Messer habe ich jedenfalls dabei. Ich mache mir also sehr viele Gedanken darüber, was alles schiefgehen könnte. Meine größte Angst ist aber jene vorm Alleinsein. Goethe war zwar anfangs auch allein unterwegs, hatte dann aber Reisebegleiter. Zudem hatte er keine Partnerin daheim, die er vermissen konnte. Ich weiß nicht, ob mich der Trennungsschmerz nicht unglaublich lähmen wird. „Was, wenn ich die schönen Dinge unterwegs gar nicht so genießen kann, weil ich nur traurig bin und vor Sehnsucht dahinvegetiere?“, spricht eine meist leise, aber diesmal ganz laute Stimme der Angst in meinem Kopf. Ich sonst so mutige Frau mache mir plötzlich um alles Mögliche Sorgen.

Zum Glück wird aber nicht nur die Planung, sondern auch diese Angst immer wieder von alltäglichen Sorgen und Pflichten unterbrochen. So kreisen meine Gedanken zwei Wochen vor Abfahrt eigentlich mehr um Alltags- anstatt um Reisethemen. Meine Steuererklärung sollte noch gemacht werden und auch ein Back-up meiner Daten am Laptop. Dabei wäre es eigentlich klug, nochmal bei Goethe im Buch nachzulesen, was er bis Verona so machte und mir die noch ausständigen Unterkünfte für die erste Woche zu buchen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir die Zeit davonrennt.

Als ich mir dann doch Zeit dafür nehme, nochmal im Buch zu schmökern, frage ich mich, ob ich es überhaupt schaffen werde, die Details so differenziert wie Goethe wahrzunehmen. Er konnte über die Apfelbäume in Südtirol ja eine ganze Seite schreiben. Vielleicht lag es auch nur an seiner Sprachkunst, mit der er jedes Detail seiner Gedanken zum Ausdruck brachte. Eventuell habe ich genauso viele und gute Gedanken, kann sie aber nicht in der verspielten und eloquenten Art und Weise wie er zu Papier bringen. Ich nehme mir aber vor, mir auf Reisen um diese Feinheiten keine Gedanken zu machen, denn erstens würde ich einem sprachlichen Vergleich mit Goethe sowieso niemals standhalten und zweitens könnte es mir jeglichen Genussmoment verderben. Meine Worte müssen also genügen, auch wenn sie nicht so poetisch sind.

In der letzten Woche plagen mich wieder Zweifel und die wildesten Gedanken, zum Beispiel zum eigentlichen Zweck meines Vorhabens. Goethe meinte, seine Reise wäre eine Art Flucht gewesen. Seiner spontanen Abreise nach zu urteilen ist das auch sehr treffend. Doch was ist es bei mir? Der starke Wunsch nach einem Abenteuer, das Gefühl, sich einmal einen Traum erfüllen zu können, Trotzreaktion auf die eigenen Ängste vor dem Alleinreisen, Suche nach mir selbst? Vermutlich von allem ein bisschen.

Nicht wirklich einfacher macht die ganze Situation eine Diagnose meines Frauenarztes. Fünf Tage bevor es losgeht, entdeckt er bei einer Kontrolluntersuchung eine fünf Zentimeter große Zyste auf meinem Eierstock. Er schlägt zwar keine Panik, weil es prinzipiell nichts Gefährliches ist, aber will mich in vier Wochen zur Kontrolle wiedersehen. Das muss ich ihm leider absprechen, da ich ja nicht da sein werde. Also gibt er mir ein Ultraschallbild meiner ungewollten Reisebegleitung mit, um den italienischen Ärzten im Fall des Falles gleich zeigen zu können, was der Grund meines Aufsuchens ist. Er legt mir noch nahe, möglichst auf Yoga, rhythmische Sportgymnastik und andere Verrenkungen zu verzichten und bei Schmerzen sofort in ein Krankenhaus zu fahren, da ich sonst meinen Eierstock verlieren könnte. Das sind definitiv keine Nachrichten, die man vor einer großen Reise braucht!

Die allerschlimmste und bedrückendste Empfindung ist aber nicht die Angst um mich oder mein Gepäck, sondern die Traurigkeit über die Trennung auf Zeit von meinem Mann. Wenige Tage vor der Abreise will ich plötzlich nicht mehr wegfahren, weil er mir jetzt schon so fehlt! In jeder freien Minute schmiege ich mich an ihn, versuche, alles an Nähe und Liebe aufzunehmen, was geht – fast so, als könnte ich eine Batterie auf hundertfünfzig Prozent laden, um in der nächsten Zeit von den Reserven zu zehren. Die Vorstellung, so lange von Harry getrennt zu sein, zerreißt mir das Herz – und die Reise fühlt sich plötzlich nicht mehr richtig an.

Arkadien und Cornetti

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