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2. Kindheit in Frankfurt: Musikalisches Elternhaus und bürgerliche Musikkultur
Оглавление„… denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte. Dieser Umstand, welcher die Meinigen in große Not versetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbürgern zum Vorteil, indem mein Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, daher Anlaß nahm, daß ein Geburtshelfer angestellt, und der Hebammenunterricht eingeführt oder erneuert wurde; welches denn manchem der Nachgebornen mag zugute gekommen sein.“
(Dichtung und Wahrheit, I. Teil, 1. Buch)
So bewirkt Johann Wolfgang von Goethe schon durch seine dramatische Geburt eine nachhaltige, positive Veränderung des Weltgeschehens, wenn auch zunächst im Kleinen. Doch es soll nicht das letzte Mal gewesen sein, dass er einen Meilenstein setzt. Er wird am 28. August 1749 im heute so bezeichneten „Goethe-Haus“ am Hirschgraben in Frankfurt am Main geboren. Seine Kindheit fällt in die Zeit der Aufklärung, in der die alten, starren Ordnungen durch neue ersetzt werden; an die Stelle der höfischen Kultur mit den Zentren Kirche und Schloss tritt mehr und mehr die bürgerliche Kultur im privaten Haus oder Salon. Um die neuen Ideen zu verbreiten, bedient man sich zunehmend des aufkommenden „Massenmediums“ Presse, z.B. in Wochenzeitschriften, oder aber der Kunst, die bisher im Dienst der Kirchen und Fürstenhöfe gestanden hatte. Die Kunst scheint für die Verbreitung des neuen Gedankengutes besonders geeignet. So vernünftig die Lehren der Aufklärung anmuten, die „Unmündigen“, die man befreien will, empfinden die geistige Selbstständigkeit als unangenehm und haben sich an die Unmündigkeit gewöhnt. Die Kunst spricht neben dem Verstand die Sinne an und bereitet Genuss – sie soll die Aufnahme der bitteren Pille Aufklärung erleichtern. Das ist die Nachricht, die in dieser Zeit verfolgt wird: Revolution macht man nicht mit den Füßen, und das Schwert in der Hand war noch nie ein guter Ratgeber.
Der heranwachsende Goethe sieht und hört in seiner Jugend italienische und französische Opern auf der Theaterbühne und in den Frankfurter Kirchen und Konzertsälen die von der Musica sacra1 beeinflusste Musik. Zudem prägen durchreisende Virtuosen oder öffentliche Umzugsmusiken bei städtischen Festlichkeiten sein frühes Musik-Erleben. Durch Auftritte der Truppen des Straßburgers Theobald Marchand (1741–1800) lernt der Junge z.B. Opera buffa2 und Opéra comique3 kennen. Starke Handelsbeziehungen zwischen Italien und Frankfurt bringen italienische Musik in die Stadt am Main. Auch in Goethes Elternhaus hat Musik ihren festen Platz. Vater Johann Caspar (1710–1782), von Berufs wegen Kaiserlicher Rat ohne Amtsausübung, ist ein geradezu pedantischer, ordnungsliebender Mensch von recht trockener Art und streng gegen sich und andere. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, seine 21 Jahre jüngere Ehefrau und die Kinder einem ausgeklügelten Bildungsprogramm zu unterziehen, in dem die Musik einen hohen Stellenwert einnimmt. Wie in vornehmen bürgerlichen Kreisen üblich, wird der Sohn von Hauslehrern erzogen, vorzüglich in den „schönen Wissenschaften“ Rhetorik und Poetik sowie im Schönschreiben. Neben alten Sprachen lernt Johann Wolfgang Französisch und Englisch, später auch Hebräisch. Das tägliche Lesen der Bibel sowie der regelmäßige Besuch des Gottesdienstes sind selbstverständliche Bestandteile der religiösen lutherischen Erziehung. „Vom Vater hab ich die Statur,/Des Lebens ernstes Führen,/Vom Mütterchen die Frohnatur/Und Lust zu fabulieren“ (Zahme Xenien4 IV), schreibt er später. Mutter Catharina Elisabeth (1731–1808), Tochter des bereits angeführten Frankfurter Schultheißen, heiratet mit 17 und bringt im Laufe ihrer Ehe sieben Kinder zur Welt. Fünf muss sie früh zu Grabe tragen, es bleiben ihr nur Johann Wolfgang und seine 15 Monate jüngere Schwester Cornelia Friederica Christiana (1750–1777, spätere verheiratete Schlosser). Von ihren Eltern selbst, wie damals üblich, nicht umfassend ausgebildet, sondern standesgemäß verheiratet, ermöglicht ihr ihr Ehemann in den ersten Jahren der Ehe eine Klavier- und Gesangsausbildung. Oftmals begleitet sie dann den Sänger Domenico Giovinazzi (1693–?), wenn dieser Arien aus seiner Heimat intoniert. Goethes Vater hatte als junger Mann eine Reise nach Italien unternommen und darüber einen umfassenden Bericht geschrieben. Ehrgeizig wie er ist, hatte er sich vorgenommen, dass dieser Bericht auf Italienisch abgefasst sein sollte, einer Sprache, die er schon vor seiner Abreise in Frankfurt erlernte. Jahre später noch verbringt er viel Zeit damit, den Reisebericht in Form zu bringen. Dabei wird ihm schnell bewusst, dass er sprachkundige Hilfe benötigt, und so nimmt er Domenico Giovinazzi, der seit längerem in Frankfurt Italienisch unterrichtet, in die Pflicht. Dabei lernt Goethe nicht nur deutsche, sondern auch italienische Arien kennen. Die von Paolo Rolli getextete Arie „Solitario bosco ombroso“ kennt er schon auswendig, bevor er sie überhaupt versteht (Dichtung und Wahrheit, I. Teil, 1. Buch). Da sein Vater für ihn bereits die Juristenlaufbahn im Auge hat, lernt Johann Wolfgang aber zunächst Latein, während die Schwester Cornelia vom Vater selbst in der „Sprache der Zerstreuung und des Vergnügens“, Italienisch, Unterricht erhält. Dies hindert den Sohn des Hauses jedoch nicht daran, bei seiner Schwester „mitzulernen“, wie er ihr später in einem Brief am 7. September 1766 aus Leipzig gesteht. Als 13-Jähriger wendet sich der Jugendliche italienischer Kirchenmusik zu und studiert die Texte, unter anderem bei einigen von dem Schöffen, Musikreisenden und Dichter Johann Friedrich Armand von Uffenbach, 1687–1769, aus Italien importierten Oratorien. 1764 wird Goethe Zeuge der Krönungsfeierlichkeiten Josephs II. (1741–1790) zum römisch-deutschen Kaiser im Frankfurter Dom und lernt dabei auch den katholischen barocken Kirchenstil in all seinem Prunk kennen.
Vater Goethe spielt Flöte und Laute, die er, wie Johann Wolfgang mit leiser Ironie bemerkt, länger stimmt, als dass er darauf spielt. Er veranlasst 1763 Klavierunterricht für seine Kinder bei dem Kantor Johann Andreas Bismann (1715–1811). Nicht ohne Humor schildert Goethe später, wie er selbst als junger Mensch den aus Thüringen stammenden Musiker Bismann seinen Eltern als Klavierlehrer für sich und seine Schwester vorschlägt:
„Daß wir das Klavier lernen sollten, war ausgemacht; allein über die Wahl des Meisters war man immer streitig gewesen. Endlich komme ich einmal zufällig in das Zimmer eines meiner Gesellen, der eben Klavierstunde nimmt und finde den Lehrer als einen ganz allerliebsten Mann. Für jeden Finger der rechten und linken Hand hat er einen Spitznamen, womit er ihn aufs lustigste bezeichnet, wenn er gebraucht werden soll. Die schwarzen und weissen Tasten werden gleichfalls bildlich benannt, ja die Töne selbst erscheinen unter figürlichen Namen. Eine solche bunte Gesellschaft arbeitet nun ganz vergnüglich durcheinander. Applikatur und Takt scheinen ganz leicht und anschaulich zu werden, und indem der Schüler zu dem besten Humor aufgeregt wird, geht auch alles zum schönsten vonstatten.“
(Dichtung und Wahrheit, I. Teil, 4. Buch)
1769 schafft Johann Caspar ein Pyramidenklavier, die sog. „Giraffe“ an, ein aufrecht stehendes Hammerklavier5. Noch am 8. Februar 1795 schreibt der Mediziner und Schriftsteller David Johann Veit (1771–1814) an Rahel Levin (1771–1833), die spätere Gattin des Chronisten Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858), über seine Begegnung mit dem Schriftsteller: „Noch eines, das ich nicht vergessen möchte: er spielt Klavier, und gar nicht schlecht.“ Auch Goethes Mutter führt ihre Studien beim Vizekapelldirektor Beck fort. Dadurch animiert schreibt Goethe 1765 das Opernlibretto „La sposa rapita“ („Die geraubte Braut“), das er später jedoch verbrennt. Im gleichen Jahr ist der junge Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) mit seiner Schwester Maria Anna („Nannerl“, 1751–1829) zu Besuch in Frankfurt am Main. Es ist schon ihre zweite große Konzertreise, die das Staunen der musikalischen Welt hervorruft. Der Auftritt des Geschwisterpaares beeindruckt den 14-jährigen Goethe jedoch zunächst nicht so sehr, wie seine nachfolgende Begeisterung für Mozart annehmen lassen sollte. Er äußert sich in den Gesprächen zu seinem Freund (nicht, wie oftmals angenommen, Sekretär) Johann Peter Eckermann (1792–1854) später wortkarg: „Ich habe ihn als siebenjährigen Knaben gesehen, wo er auf einer Durchreise ein Konzert gab. Ich selbst war etwa vierzehn Jahre alt, und ich erinnere mich des kleinen Mannes in seiner Frisur und Degen noch ganz deutlich“ (zu Eckermann, 8. Februar 1830).
Hausmusiken im Hause Goethe gehören ebenso zum Programm wie ein Abonnement für Subskriptionskonzerte, zum Beispiel die vom bereits erwähnten Schöffen Uffenbach. Der junge Privatgelehrte interessiert sich insbesondere für Opernhäuser und Theater, für Kirchen und Paläste, besucht zudem die öffentlichen Bibliotheken, Galerien und Sammlungen. Er erwirbt auf seinen Reisen zahlreiche Bücher, Graphiken, Gemälde sowie musikalische und wissenschaftliche Instrumente, die mit seinem Vermächtnis 1769 nach Göttingen gelangen. Obschon einige sein eigenes Mitwirken in den Konzerten als Sänger für einen Schöffen als unwürdig empfinden, ergreift er Goethe als Persönlichkeit sehr wohl. Immerhin ist er neben dem letzten großen Solo-Gambisten Carl Friedrich Abel (1723–1787), der 1758 im Hause Goethe auftritt, der Einzige, den der Weimarer später in „Dichtung und Wahrheit“ ausdrücklich als Musikschaffenden und interessante Begegnung erwähnt.
Musik ist in dieser Zeit sowohl geselliges als auch geistiges Bedürfnis. Die Sprache, später Goethes dichterisches Handwerk, steht in seinen Augen in ihrer Ähnlichkeit der Musik sehr nahe. In der Epoche der Klassik weicht die Wichtigkeit der harmonischen Vielfalt des Generalbasses des Barock einer mit neuen rhythmischen und motivischen Elementen angereicherten Oberstimme. Durch diesen wesentlichen metrischen Charakter, angeregt durch die Vorstellung des Ein- und Ausatmens, lehnt sich die Musik an die Sprache an. Schon als kleiner Junge korrigiert Goethe die Choräle der sonntäglichen Kirchenmusiken, weil er sie im Hinblick auf die Melodie als sprachlich zu schwach empfindet. Schon früh zeigen sich seine Bemühungen, in die Tiefe einer Sache vorzudringen und Winkel zu beleuchten, die anderen vielleicht verborgen bleiben.