Читать книгу JAGD NACH DEN DRACHENMEDAILLONS - Barbara Muschl - Страница 2
– KAPITEL 1: DER NEUE-
ОглавлениеEs war ein ganz normaler Morgen im Spätherbst – kalt, dunkel und regnerisch. Dichter Nebel durchzog die Straßen, die in den frühen Morgenstunden noch wie ausgestorben wirkten. Hie und da war ein gedämpftes Geräusch zu vernehmen, wobei man jedoch nicht eindeutig identifizieren konnte, aus welcher Richtung. Das einzige, das klar zuordenbar war, war der Klang meiner Schritte, die sich schnell über den kalten, grauen Asphalt bewegten. Der Regen hatte meine Kleidung schon längst durchnässt und auch die Kälte drang mir unaufhaltsam bis auf die Haut.
Ich erreichte die Haltestelle genau rechtzeitig, als der Bus ankam und stieg schnell ein. Erleichtert über Trockenheit und Wärme ließ ich mich auf die hinterste Sitzreihe sinken und nahm die Kapuze ab. Der Bus war fast leer. Das kam daher, dass ich in einem kleinen Ort wohnte, der eine halbe Stunde Busfahrt von der Schule entfernt war und der Bus von dort nur einmal stündlich fuhr. Daher war ich meistens schon eine dreiviertel Stunde vor Unterrichtsbeginn dort und somit auch die Erste.
Im Sommer war es bestimmt schön, durch den nahe gelegenen Park zu schlendern und den Sonnenaufgang und die warme Morgenluft zu genießen, doch jetzt, wo es kalt und regnerisch wurde, blieb mir nichts anderes übrig, als in der Klasse auf den Unterrichtsbeginn zu warten und mir die Zeit sinnvoll mit Lernen zu vertreiben.
Ich war erst vor kurzem hierher gezogen, nachdem meine Eltern bei einem Autounfall gestorben waren, um neu anzufangen, weshalb ich noch kaum jemanden kannte und ich war noch nie gut darin gewesen, Freunde zu finden. Eigentlich war ich nicht schüchtern oder ängstlich, aber ich hatte gelernt, niemandem zu vertrauen und deshalb ging ich selten auf Leute zu. Lieber beobachtete ich sie und machte mir so ein Bild von ihnen, weshalb ich jedoch auf meine Klassenkameraden „merkwürdig und reserviert“ wirkte.
Deshalb saß ich auch allein in der letzten Reihe und lebte ganz gut nach dem „leben und leben lassen“-Motto, nachdem man mich in der Klassengemeinschaft akzeptierte, aber eigentlich in erster Linie so tat, als wäre ich gar nicht da.
Als ich endlich keinen Rest der nassen Kälte mehr unter meiner Kleidung spürte, war die Fahrt vorbei – ich hatte die Schule erreicht und musste aussteigen. Schnell führten mich meine Schritte über den Vorplatz ins Hauptgebäude, wo es endgültig warm und trocken war, die Treppe hinauf und in die Klasse. An diesem Tag war es besonders nervig gewesen, den Schulweg hinter mich zu bringen. Außer dem Rucksack, in dem sich meine Schulsachen befanden, hatte ich eine große – nun vollkommen durchnässte - Sporttasche bei mir, denn nach der zweiten Stunde würde die Klasse einen einwöchigen Ausflug aufs Land machen.
Das war die Idee unserer Psychologie-Lehrerin gewesen; eine Art Selbstexperiment, um zu beobachten, wie sich eine Gruppe in Abgeschiedenheit und unter Bewältigung diverser Aufgaben entwickelte.
Natürlich erwartete der Großteil meiner Klassenkameraden ganz andere Dinge, wie ich nach und nach feststellen musste, als einer nach dem anderen die Klasse betrat und sich die ersten Gespräche entwickelten.
Das Hauptthema war selbstverständlich „Party“. Fast jeder hatte in seinem Gepäck mindestens drei Flaschen Alkohol und eine Stange Zigaretten versteckt, obwohl auf diesem Ausflug beides verboten war und ich nahm mir fest vor, mich von dem ganzen Geschehen so weit wie möglich fern zu halten.
Als es endlich zur Stunde läutete kam pünktlich auf die Sekunde unsere Mathelehrerin herein, worauf hin es schlagartig still wurde. Sie hatte die Angewohnheit, jedem, der den Mund während des Unterrichts unaufgefordert aufmachte, eine riesenhafte Ladung an Extra-Aufgaben aufzubrummen und keiner wollte es darauf anlegen, die Psychologie-Woche mit Integralrechnung zu verbringen.
Während die Hausaufgaben eingesammelt wurden, ging die Tür auf und herein kamen Marco, Florian und Luca, die drei gefürchtetsten Schläger der Schule. Sie waren dafür bekannt, jedem, der es auch nur wagte, ihnen in die Augen zu schauen, das Leben zur Hölle zu machen – aus reinem Vergnügen selbstverständlich. Sie sagten kein Wort, als sie unter den strengen Blicken der Mathelehrerin zu ihren Plätzen schlenderten und ihre Sporttaschen auf die Tische knallten. Hausaufgaben hatten sie natürlich dabei – vermutlich hatten sie wieder irgendeinen armen Halbstarken gezwungen, diese für sie zu machen…
Als das Thema Hausaufgaben endlich erledigt war und unsere Lehrerin sich gerade ein Opfer für die erste Rechnung an der Tafel überlegte, ging erneut die Tür auf und herein kam unsere Psychologie-Lehrerin, die gleichzeitig unser Klassenvorstand war, Frau Professor Hammerschmid. Erst dachte ich, sie wollte uns noch Infos zum Ausflug mitteilen, doch dann betrat hinter ihr ein Junge die Klasse und selbst Marco und seine Jungs wurden plötzlich aufmerksam. Professor Hammerschmid stellte ihn uns als den „Neuen“ vor – sein Name war Marek. Ein merkwürdiger Name, aber er passte zu ihm… Marek faszinierte mich von der ersten Sekunde an, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erklären konnte, wieso.
Scheinbar war ich damit jedoch nicht alleine. Während Professor Hammerschmid noch ein paar Dinge über den Ausflug sagte, begann überall in der Klasse Getuschel – vor allem unter den Mädchen, und es war klar, dass es um Marek gehen musste.
Er war in etwa einen Kopf größer als ich, wirkte von der Statur her sehr sportlich und seine Haut war braun gebrannt. Seine Haare waren pechschwarz und chaotisch durcheinander, wobei man trotzdem eine gewisse Absicht dahinter vermuten konnte. Er trug ein schwarzes Hemd, dessen oberste zwei Knöpfe offen waren, eine zerrissene Jeans und schwarze Sneakers. Das Faszinierendste jedoch war nicht, dass er in diesem Gesamtbild und seinem makellosen Gesicht einfach unglaublich gut aussah, sondern, dass seine blitzblauen Augen zu leuchten schienen und er eine Aura ausstrahlte, die ihm etwas Geheimnisvolles und Bestimmendes – ja, fast Magisches - verlieh.
Ich konnte in diesem Moment nicht sagen, was es war, aber als sich unsere Blicke trafen, hatte ich das Gefühl, dass er mein Leben auf geheimnisvolle Art verändern würde…
Als Professor Hammerschmid ihren Vortrag endlich beendet hatte, wies sie Marek an, sich auf einen freien Platz in der Reihe vor mir zu setzen und nachdem er das getan hatte – seine Sporttasche hatte er zuvor in eine Ecke gestellt – verließ sie die Klasse und der Unterricht wurde fortgesetzt.
Obwohl es keiner wagte, in Mathe zu quatschen, war es deutlich unruhiger als sonst. Mädchenblicke wandten sich ständig Marek zu, leises Gekicher durchschnitt immer wieder die Stille und was niemandem außer mir auffiel, waren die Blicke, die sich Marco, Flo und Luca zuwarfen.
Es war offensichtlich, dass die drei planten, den „Neuen“ in der Klasse „Willkommen zu heißen“, und zwar auf ihre Art. Wenn es etwas gab, das ich nicht ausstehen konnte, dann war es, wenn sie zu dritt auf Unschuldige losgingen. Doch Marek hatte ihnen nicht nur nichts getan, sondern hatte obendrein noch nicht einmal die Chance gehabt, vor ihnen gewarnt zu werden. Ich fasste den Entschluss, ihm zu helfen, aber ich musste es klug und subtil anstellen, denn wenn man ihnen direkt die Stirn bot, ging das selten gut aus…
Als es zur Pause läutete, warteten die drei Schläger, bis die Mathelehrerin aus der Klasse gegangen war, ehe sie sich zunickten – das war mein Auftritt. Ich stand auf, ging den Gang entlang Richtung Ausgang und zog im Vorbeigehen an Marcos Platz unauffällig seine Sporttasche vom Tisch.
Es gab ein lautes Klirren, als die Tasche am Boden auftraf und ich vermutete, dass soeben mindestens fünf Wodka-Flaschen zu Bruch gegangen waren. „HEY!“ Ich blieb stehen, drehte mich um und blickte mit perfekt gespielter Verwirrung auf die Tasche. „Oh… Marco… Das… Das tut mir wirklich leid, das wollte ich nicht!“ Marek war selbstverständlich sofort aus Marcos Kopf verschwunden und dieser kam auf mich zu, seine Kumpels im Schlepptau.
„Das war mein Proviant, den du da gerade zerstört hast.“, knurrte er wütend. Ich wich langsam rücklings an die Wand. Die Flaschen hatte ich nicht bedacht und natürlich war jemand wie Marco stinksauer, wenn er eine Woche ohne Alkohol auskommen sollte. In meinem Kopf hatte der Plan etwas anders ausgesehen – nun hatte ich ein Problem am Hals.
„Du bist doch auch erst seit kurzem in der Stadt, oder?“, mischte sich Flo ein. Ich biss mir auf die Lippe. Es stimmte, sie hatten mich bis jetzt nicht wirklich bemerkt und deshalb in Ruhe gelassen. „Na los, antworte!“, fauchte Luca mich an.
„Ja… Ich bin vor zwei Wochen hergezogen…“ „Kimberly, richtig?“, grinste Marco fies. Ich hielt seinem Blick stand und antwortete: „Ja…“
„Also Kimmy!“, Marco grinste. „Damit hätten wir eine kleine Differenz, die zwischen uns steht – ich hab keinen Wodka mehr! Da du neu bist, gebe ich dir gütigerweise die Chance, mir einen Vorschlag zu unterbreiten, wie du gedenkst, das wieder gutzumachen.“
Natürlich, es war dumm und vollkommen irrsinnig, aber ich hasste Typen wie Marco und es war mir wert, mit der Antwort zu kontern: „Na dann brauchst du dir ja zumindest keine Sorgen machen, dass du damit auffliegst…“
Marcos Augen verengten sich und gerade als er die Hand hob und zu einer Faust ballte, betrat Professor Hammerschmid die Klasse und Marco ließ in Sekundenschnelle von mir ab. Ich konnte mein Glück noch gar nicht richtig fassen und machte mich schleunigst auf den Weg zu meinem Platz. „Packt eure Sachen zusammen!“, befahl uns Professor Hammerschmid. „Die zweite Stunde fällt aus, wir fahren jetzt schon los – der Bus wartet schon auf euch.“ Etwas verdutzt räumten alle die Schulsachen in die Rucksäcke und packten ihre Sporttaschen.
Ich verließ die Klasse als eine der Ersten, um Marco und seine Jungs zu meiden, doch als ich an ihnen vorbeikam, zischte mir Luca zu: „Wart’s ab, Kleines, wir sind noch nicht fertig!“ Mein Magen verkrampfte sich, doch ich ließ es mir nicht anmerken und ging schnell die Treppe hinunter und verließ das Gebäude.
Auf der Straße vor dem Haupteingang wartete bereits ein Reisebus in der aufgehenden Morgensonne, die tapfer versuchte, sich durch den Nebel zu kämpfen und die Umgebung so in einen schaurigen roten Schleier hüllte. Der Regen hatte sich verzogen und allmählich lockerte die dichte Wolkendecke am Himmel auf. Ich stieg in den Bus, folgte dem Gang bis fast ganz nach hinten, warf Sporttasche und Rucksack in die Gepäckablage und ließ mich auf den vorletzten Zweiersitz fallen, wobei ich auf den Fensterplatz rutschte.
Ich rechnete nicht damit, dass sich irgendwer zu mir setzte, das passierte nie. Vor allem aber hoffte ich, dass mich Marcos Jungs hier nicht sofort ins Auge fassen würden, da sie auf solchen Busfahrten meistens die Plätze in der Mitte belagerten, um möglichst viel Essen und Getränke erpressen zu können.
Ich sah durchs Fenster, dass Marek einstieg und es wunderte mich nicht, dass erneut Mädchen zu kichern begannen. Die meisten von ihnen hatten sich einen Zweierplatz allein genommen, um sich nun zum Deppen zu machen und zu versuchen, ihn mit allerlei Dingen zu ködern. „Hey, Marek, setz‘ dich doch zu mir, ich hab selbst gemachte Kekse mit!“ „Was soll er denn mit deinen blöden Keksen, ich teil gerne mein Mittagessen mit ihm!“ „Marek, hier ist noch Platz - ich würde ja so gerne mehr über dich erfahren!“
Doch erstaunlicherweise würdigte Marek keines der Mädchen eines Blickes und nachdem sie relativ schnell begannen, zu streiten („Wegen dir ist er jetzt weg!“-„Wegen mir? Du hast ihn doch verscheucht mit deinen blöden Keksen!“), sah ich wieder aus dem Fenster.
Marco, Flo und Luca verließen soeben die Schule und schlenderten mit einer Zigarette im Mund zum Bus, wobei Professor Hammerschmid sie abfing und sie zwang, die Zigaretten auszudämpfen, ehe sie ihnen eine kurze Standpauke hielt und sie dann einsteigen ließ.
„Entschuldige.“, hörte ich plötzlich eine Stimme direkt neben mir, die mich zusammenzucken ließ. Einen kurzen Atemzug lang hatte ich gedacht, es sei Marco, doch als ich mich zu der Stimme umwandte, sah ich direkt in ein Paar leuchtend blauer Augen – Marek. Er stand betont lässig am Gang, gegen einen Sitz gelehnt und offenbar kein bisschen beunruhigt dadurch, dass Marco gerade den Gang entlang kam.
„Ist da noch frei?“, meinte er und ich glaubte, den Anflug eines Lächelns erkennen zu können. Rundherum waren bestimmt noch acht Plätze frei, doch er schien fest entschlossen, dass er den neben mir wollte. „Äh… Ja, klar.“, stammelte ich etwas verwirrt und Marek warf seine Sporttasche und den Rucksack ebenfalls in die Gepäckablage und setzte sich neben mich.
Es dauerte keine fünf Sekunden, da stand Marco neben uns und mein Herz machte einen Sprung in meinen Hals, wo es wild zu schlagen begann. „Sieh mal einer an, wenn das nicht die kleine Kimmy ist… Du schuldest mir was.“ Noch ehe ich auf seine Forderung reagieren konnte, stand Marek auf. „Lass sie in Ruhe!“, meinte er ruhig, aber in seiner Stimme lag etwas Drohendes.
„Was willst du, du Gnom?“, lachte Marco und an seiner Seite erschienen sofort Flo und Luca. „Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass du schlecht hörst, aber ich wiederhol es gerne noch mal für dich: Lass das Mädchen in Ruhe und verzieh dich hier!“, entgegnete Marek leise, doch immer noch lag kein bisschen Angst in seiner Stimme. „Gibt es da hinten ein Problem?“, schallte Professor Hammerschmids Stimme durch den Gang. Marco, Flo und Luca wirbelten herum. „Aber nein, Frau Professor!“, säuselte Marco zuckersüß. „Dann ab mit euch auf eure Plätze, wir fahren jetzt los!“ Marco drehte sich noch ein letztes Mal zu Marek um und meinte: „Das war ein riesen Fehler, du Pfeife!“, ehe er seinen Kumpels zu ihren Plätzen in der Mitte des Busses folgte. Marek setzte sich wieder und nun war ich mir sicher – er grinste.
Ich sah ihn verwirrt an und er fing meinen Blick auf. „Was denkst du dir gerade?“, meinte er lächelnd. „Dass das eine ziemlich dumme Aktion von dir war.“, gab ich zurück. „Sich für jemanden, den du nicht mal kennst, mit Marco anzulegen, mein ich…“ Marek grinste noch immer. „Du meinst, so wie du, als du seine Tasche vom Tisch gezogen hast?“ Ich sah ihn verwirrt an. „Ich würde sagen, wir sind quitt.“ Er zwinkerte mir zu. „Falsch gedacht…“, meinte ich.
Professor Hammerschmid zählte alle Schüler durch und der Bus fuhr los. Vor uns lagen nun fünf Stunden Busfahrt, unterbrochen von einer halbstündigen Mittagspause, ehe wir unser Ziel erreichen würden.
„Du denkst also, du bist mir was schuldig?“, meinte Marek. „Ich denke nur, dass sich unsere beiden Aktionen in unterschiedlicher Größenordnung bewegen. Ich könnte Marek fünf Flaschen Wodka kaufen und die Sache wäre erledigt. Du aber warst so dumm, dich einzumischen – das war allein mein Problem…“
„Wir wissen beide, dass du ihm diese Flaschen nicht einmal kaufen würdest, wenn du reich wärst.“, grinste er. „Aber wesentlich interessanter finde ich, dass du scheinbar kein bisschen erleichtert über meine Hilfe bist.“ „Woher willst du wissen, dass ich ihm den Wodka nicht ersetze? Du kennst mich gar nicht…Und versteh es bitte nicht falsch, ich bin dir dankbar für deine Hilfe, aber ich bin es gewohnt, meine Probleme selbst zu lösen und jetzt ist es nicht mehr mein Problem, sondern zum gleichen Teil deines.“
„Mag sein, dass ich dich nicht kenne, aber jemandem einmal in die Augen zu sehen, kann mehr über ihn verraten als jahrelanger Kontakt…Dann ist Marco jetzt wohl unser Problem, aber du kannst mir vertrauen – er ist harmlos.“
Langsam wurde ich etwas wütend. Wie konnte er sich anmaßen, mich über diese Situation aufklären zu wollen? Sicher, er hatte Recht, was den Wodka anging, aber vermutlich hatte er einfach gut geraten. Doch er war den ersten Tag hier und hatte somit keine Vorstellung, was Marco anging.
„Wir sind jetzt eine Woche mit ihm in einer abgeschiedenen Waldhütte.“, klärte ich Marek auf. „Der wird uns umbringen…“ „Ich freu mich schon auf seine jämmerlichen Versuche…“ Marek grinste breit. Er musste komplett den Verstand verloren haben – Marco, Flo und Luca waren immerhin zu dritt und was Schlägereien betraf, kannten sie sich aus. Mir war jedoch klar, dass es keinen Sinn hatte, Marek gut gemeinte Ratschläge zu geben, denn ganz offensichtlich musste er seine Erfahrungen selbst machen.
Ich bereute, dass ich ihn in der Pause gerettet hatte, denn die Situation, der er damit entgangen war, wäre bestimmt weitaus erträglicher gewesen als die, in der er jetzt steckte.
Ich wandte meinen Blick von ihm ab und sah stillschweigend aus dem Fenster. Die Fahrt hatte begonnen und wir verließen die Stadt mit ihren grauen, steinernen Gebäuden, den vielen Autos und geschäftig vorbeihetzenden Menschen und schon bald zog vor dem Fenster eine ganz andere Landschaft vorbei – weite, grüne Wiesen und Äcker, auf denen der Morgentau glitzerte, Berge am Horizont, in denen der Nebel noch festhielt und Wälder, deren Baumkronen immer mehr ins Licht der aufgehenden Sonne getaucht wurden.
Marek hatte seit Beginn der Fahrt kein Wort mehr gesagt und als ich ihm einen kurzen Blick zuwarf, sah ich, dass sein Kopf auf seine Schulter gesunken und seine Augen geschlossen waren.
Als die Sonne bereits hoch am Himmel stand, der Nebel sich vollkommen verzogen hatte und die weite Landschaft draußen in hellem Tageslicht lag, hielt der Bus und Professor Hammerschmids Stimme schallte durch den Gang: „Wir sind hier an einer kleinen Raststation, wo wir jetzt eine halbe Stunde Halt machen werden. Ihr könnt euch hier frei bewegen – esst und trinkt etwas, macht eine Toilettenpause und vertretet euch ein wenig die Beine!“
Ich beobachtete durchs Fenster, wie Marco und seine Kumpels ausstiegen und ein paar Jungs folgten, um sie abseits von Professor Hammerschmids Blicken um ihr Mittagessen zu erpressen und nutzte die Gelegenheit. Marek schlief immer noch, also stieg ich vorsichtig über ihn, schnappte mir eine Wurstsemmel aus meinem Rucksack und verließ den Bus. Die Raststation war wirklich ziemlich klein und bestand genau genommen nur aus einer Tankstelle.
Dahinter erstreckte sich ein kleiner Wald, in den ein gewundener Pfad führte, und da Marcos Jungs in die andere Richtung verschwunden waren, folgte ich dem Weg.
Während ich meine Semmel aß, schlenderte ich immer tiefer in den Wald, bis ich nach kurzer Zeit zu einem kleinen See kam. Die Sonne brach durch die Baumkronen und ließ das Wasser glitzern und funkeln wie tausend Diamanten.
Ich schloss die Augen, hörte das Zwitschern der Vögel und roch die feuchte Erde und das modrige Unterholz. Doch plötzlich wurde die Idylle von einem leisen Knacken durchbrochen. Sofort öffnete ich die Augen und wirbelte herum. Weit und breit war nichts zu sehen, doch ich spürte, dass ich beobachtet wurde. „Lass den Quatsch, Marco!“, meinte ich. „Wenn du hier bist, zeig dich gefälligst, oder bist du dazu zu feige?“
Hinter einem Gebüsch tauchten tatsächlich Marco und Luca auf. Marco lachte. „Ich und feige? Du bist entweder verdammt mutig oder aber verdammt dumm, mich zu provozieren. Was meinst du, Luca?“ „Ich würde sagen, sie ist einfach naiv. Wo ist denn eigentlich dein Bodyguard, Kimmy?“
„Welcher Bodyguard?“, knurrte ich wütend. „Na der Neue, dieser Marek.“ „Ich brauch keinen Beschützer vor euch Witzfiguren!“ Ich hatte noch nie Hilfe gehabt und ich war auch jetzt auf niemanden angewiesen – Marco würde mich verprügeln, mit oder ohne Marek an meiner Seite.
„Witzfigur? Ich glaub, ich hör falsch!“, brüllte Marco. „Ich hab die Schnauze voll! Los, Luca, lehren wir die Kleine mal ein bisschen Respekt!“ Luca nickte. Die beiden kamen drohend auf mich zu – ich sollte mir schleunigst was einfallen lassen.
Blitzidee – ich riss schreckensgeweitet die Augen auf und machte ein paar Schritte von ihnen weg, den Blick dabei einen guten Meter über ihre Köpfe gerichtet. „Was ist denn?“, meinte Marco etwas verwirrt. „B… B… BÄR!“, stammelte ich und genau als Marco und Luca zusammenzuckten und panisch herumwirbelten startete ich durch und lief davon. Ich sah nicht zurück. Ich wusste, dass mich mein Ausflug nicht weit in den Wald geführt hatte und ich in dem Tempo schnell wieder zurück beim Bus sein würde und tatsächlich konnte ich bereits nach kurzer Zeit das Ende des Pfades erkennen.
Ich setzte zum Endspurt an – und fiel. Etwas hatte mein Bein blockiert und nun knallte ich mit voller Wucht auf den feuchten Erdboden. Meine Hände scheuerten über Wurzeln und Steine und ich spürte ein Brennen auf den Handflächen. Ich wandte mich um und sah Flo über mir stehen. „Wo willst du denn so schnell hin, Süße?“, grinste er breit. Hinter ihm kamen Marco und Luca angetrabt, keuchend die Hände an die Seiten gepresst. „Mann, die hat ein Tempo drauf…“ „Gut gemacht, Flo.“
Nachdem sie kurz nach Luft geschnappt hatten, bauten sie sich über mir auf und Marco packte mich am Kragen meiner Jacke und zog mich auf die Beine, ehe er mich hart mit dem Rücken gegen einen Baum schmetterte. Ein tief gehender Schmerz durchzog meinen gesamten Rücken und presste mir die Luft aus den Lungen, doch ich ließ mir nichts anmerken und starrte fordernd in seine kalten, grauen Augen.
„Dachtest du wirklich, dass du uns so leicht davon kommst?“, lachte Marco. „Das letzte Mal, als ich dich so nah vor mir hatte, konnte ich leider nicht zu Ende bringen, was ich angefangen habe – obwohl es schade ist, ein so hübsches Gesicht zu verunstalten.“ Er grinste und ballte abermals seine Hand über dem Kopf zu einer Faust. Ich schloss die Augen und wartete auf den Schlag, doch das einzige, das ich hörte war ein Raunen, das durch die Runde ging. Ich öffnete die Augen wieder.
Neben mir stand Marek, der Marcos Faust wenige Zentimeter vor meinem Gesicht abgefangen hatte und festhielt, betont lässig – eine Hand in die Tasche seiner Jeans gesteckt.
Es sah aus, als würde sich Marco mit aller Kraft wehren, doch Marek schien ihn ohne große Anstrengung festzuhalten, ehe er ihn mit einer Hand zurückstieß. Marco ließ meine Jacke los, stolperte durch Mareks Stoß rückwärts und fiel auf den Hintern. „Hab ich dir nicht gesagt, du sollst die Finger von ihr lassen?“, knurrte Marek und machte einen drohenden Schritt auf Marco zu.
Da mir Marco mit seinem Griff die Luft abgeschnürt hatte, fiel es mir kurzzeitig schwer, mich wieder auf meinen eigenen Beinen zu halten und zu atmen, sodass ich mich am Baum abstützte.
„Was fällt dir eigentlich ein?“, fauchte Luca und half Marco auf die Beine, ehe alle drei geschlossen auf Marek zukamen. „Das ist deine letzte Chance, geh mir aus dem Weg und ich werde dich nicht ganz so schlimm verprügeln!“, drohte Marco, doch Marek baute sich schützend vor mir auf.
Was auch immer dann geschah, konnte ich nicht sehen, doch irgendetwas an Marek schien den drei Schlägern urplötzlich eine riesen Angst einzujagen, denn sie stammelten augenblicklich verwirrte Dinge wie „Was… was ist das für ein Trick?“ und „Was tust du da?“, ehe sie stolpernd vor ihm zurückwichen und davonliefen.
Marek wandte sich zu mir um. „Alles okay bei dir?“ Ich nickte und in meiner maßlosen Verwirrung über das, was gerade geschehen war, ließ ich zu, dass er meine Hand nahm und mich zurück zum Bus brachte – gerade rechtzeitig zur Abfahrt.
Ich nahm kaum wahr, dass mir die anderen Mädchen wütende Blicke und leise Beschimpfungen zuwarfen, als ich hinter Marek in den Bus stieg, der noch immer keine Anstalten machte, meine Hand loszulassen. Er führte mich zu unseren Plätzen und erst als ich saß und der Bus weiter fuhr fand ich die Sprache wieder.
„Was zur Hölle war das gerade?“ Marek sah mich an. „Was meinst du?“ „Tu nicht so! Woher wusstest du wo ich war? Warum hast du mir geholfen? Wie konntest du Marcos Schlag so leicht abblocken und was hast du ihnen gesagt, was sie so erschreckt hat?“ „Ich bin Flo gefolgt, als er in den Wald ging und ich dich nirgendwo finden konnte.“ „Und die restlichen Antworten?“ Er schwieg.
„Marek!“ „Was willst du?“ „Antworten!“ „Die ich dir nicht geben werde. Jedenfalls jetzt noch nicht.“ Ich sah ihn wütend an und stand auf. „Wie du willst – dann hab ich auch keinen Grund, hier zu bleiben.“ Er verschränkte die Beine, sodass ich nicht an ihm vorbeikam und meinte leise: „Setz dich!“ Ich ignorierte ihn und als ich Anstalten machte, über seine Beine zu steigen, zog er mich mit sanfter Gewalt zurück in meinen Sitz und schlug mit der flachen Hand gegen die Fensterscheibe – so nah an mir vorbei, dass sein Unterarm Millimeter entfernt von meinem Hals war.
Mein Herz raste vor Schreck – wie konnte er so schnell und präzise agieren? „Nimm sofort die Hand da weg, oder ich tu dir weh!“, fauchte ich. „Tu dir keinen Zwang an…“ Seine blitzblauen Augen funkelten. Ich wollte ihm wirklich nicht wehtun, doch ich ließ mich nicht herumkommandieren und auf meinem Platz festhalten wie ein Hund. Zuerst versuchte ich, mich mit meinem ganzen Körper gegen seinen Arm zu stemmen – hoffnungslos. Dann setzte ich alle Kraft daran, seinen Arm mit meinen Händen wegzuziehen, doch immer noch bewegte sich seine Hand an der Scheibe keinen Millimeter.
Ich seufzte. Er ließ mir keine Wahl. Ich bohrte meine Nägel so tief ich konnte in seinen Unterarm und fügte ihm tiefe Kratzer zu, bis ein paar Tropfen Blut auf meine erdverschmierte Jeans fielen – Marek zuckte nicht einmal mit der Wimper. Mein Herz schlug mir nun bis zum Hals. Ich sah ihm in die Augen, fest entschlossen, mir die Angst, die in mir hochstieg, nicht anmerken zu lassen.
Ich war eigentlich sehr sportlich, gut trainiert und nicht schwach, doch Marek brauchte nur eine Hand, um mich mühelos in Schach zu halten – ich wollte es nicht glauben. Zudem schien er gegen jeden Schmerz völlig immun zu sein. Marek hielt meinem Blick stand. „Lass mich los!“, drohte ich. Er grinste. „Sonst was? Du bleibst schön hier. Marco und seine Jungs schauen die ganze Zeit zu uns nach hinten. Wenn du aufstehst, haben sie dich.“ „Das ist ja wohl mein Problem!“, knurrte ich und versuchte erneut, mich aus seinem Griff zu befreien, doch vergebens.
Nach weiteren fünf Minuten, in denen Marek keine Anstalten gemacht hatte, sich zu bewegen, ließ ich schmollend von seinem Unterarm ab und die Erschöpfung überkam mich, sodass ich die Augen schloss und mein Kopf auf Mareks Arm sank.