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Neukölln

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Das einzige böhmische Dorf mit U-Bahnanschluss


Wir beginnen unseren Spaziergang dort, wo der Bummel durch den Reuterkiez endet, nämlich an der U-Bahnstation Rathaus Neukölln B.

Ursprünglich war das Rathaus Neukölln C ein preußischer Amtsbau mit Zinnen und Giebeln, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaut wurde, nachdem 1874 Böhmisch- und Deutsch-Rixdorf zusammengelegt worden waren. Durch die Vereinigung der beiden Dörfer und das starke Bevölkerungswachstum im Zuge des industriellen Booms brauchte man dringend ein neues Verwaltungsgebäude. Vom Kern dieses alten Amtshauses ist heute nichts mehr zu sehen, es wurde im 2.Weltkrieg so stark zerstört, dass auch die Überreste abgerissen werden mussten. Wir sehen heute die Erweiterungen des alten Amtshauses, das Stadtbaurat Reinhold Kiehl 1905 mit dem 67m hohen Rathausturm entworfen hatte. Auch Mies van der Rohe und Bruno Taut legten später Hand an und halfen, es zu einem Baudenkmal der frühen Moderne zu machen. Auch der Erweiterungsbau wurde im Krieg beschädigt, konnte aber in den 50er Jahren wieder aufgebaut und restauriert werden. Die kupferne Figur oben auf dem Turm, die sich immer nach dem Wind dreht, ist übrigens die Glücksgöttin Fortuna. Seit 1908 sieht sie auf das Treiben in den Neuköllner Häuserschluchten hinab. Einige Teile des Rathauses kann man besichtigen. In den Foyers gibt es wechselnde kleine Ausstellungen zur Geschichte des Bezirks und zum Haus selber.

Das Rathaus Neukölln im Rücken, laufen wir nun ein Stück die geschäftige und rund um die Uhr belebte Karl-Marx-Straße hinunter und lassen uns, ganz im Sinne des berühmten Spaziergängers Franz Hessel „… überspülen von der Eile der anderen und nehmen ein Bad in der Brandung der Menge“ (Franz Hessel, Spazieren in Berlin, original erschienen in Berlin 1929. Zitiert aus: Verlag für Berlin-Brandenburg, 2. Auflage, Januar 2013, p. 23).

Ein Bad der wirklich entspannenden Art können wir dagegen im Stadtbad Neukölln in der Ganghoferstr. 3, der dritten Straße, in die wir von der Karl-Marx-Str. aus nach links einbiegen, nehmen. Dieses bezaubernde und original restaurierte Jugendstilbad von 1914 steht unter Denkmalschutz und galt seinerzeit als eines der größten (bis zu 10.000 Besucher pro Tag!) und schönsten Bäder Europas. Der Architekt und Baustadtrat Reinhold Kiehl (s. Rathaus Neukölln) entwarf nach antikem Vorbild einen Gemeinschaftsbau für Stadtbibliothek und öffentliche Badeanstalt, der von außen nicht viel von der Pracht der russisch-römischen Badeanlage erahnen lässt. Es gibt eine große und eine kleine Schwimmhalle mit Travertinsäulen, Wandelgängen und Mosaiken nach antikem Vorbild und einen Saunabereich, der keine Wünsche offen lässt (Kräuter-, finnische, Dampfsauna, Caldarium, Sanarium, Massage, Dachgarten, Cafeteria, Tauchbecken, Ruheräume). Ein perfekter Tipp für einen Wellness-Tag!

Wir gehen die paar Schritte vom Stadtbad in der Ganghoferstraße zurück und biegen links wieder in die Karl-Marx-Straße ein. Unser nächstes Ziel, die Neuköllner Oper D, befindet sich seit 1988 in der Karl-Marx-Str. 131-133, im ehemaligen Rixdorfer Ballsaal in der Passage Neukölln. Auch dieser Bau wurde vom Architekten Reinhold Kiehl (s. Rathaus und Stadtbad) projektiert. Die Neuköllner Oper ist ein Autoren- und Uraufführungstheater, dessen Ensemble aus einem Team von festen Mitarbeitern und mit ihnen verbundenen Theatermachern besteht. In den 70er Jahren entstand die Neuköllner Oper als Gegenentwurf zur konventionell-bürgerlich besetzten Gattung „Oper“ und hatte zum Ziel, so lebensnah wie möglich vor allem auch in sogenannten „kulturfernen“ problematischen Bezirken wie Neukölln zu spielen. Zum Konzept gehört es auch, Musikproduktionen der verschiedenen Genres aufzuführen, wie z.B. Musical, Operette, Soap-Operette, Oper, Revue, Kindermusiktheater, Barockoper etc. Die Neuköllner Oper fördert auch den künstlerischen Nachwuchs in Berlin und kooperiert deshalb mit der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ und der Universität der Künste in Berlin. Die Produktionen sind witzig, frech und originell und viele halten die Neuköllner Oper (Berlins viertes Opernhaus neben der Staatsoper Unter den Linden, der Deutschen Oper und der Komischen Oper) für das kreativste und innovativste Musiktheater der Stadt.

Wir bleiben bei den kulturellen Highlights und gehen gleich noch ein paar Häuser weiter zum Heimathafen Neukölln E in der Karl-Marx-Str. 141. Schon zu Zeiten, als es noch hieß „In Rixdorf ist Musike …“, war hier der Salon Niesigk, in dem Tanzvergnügen stattfanden. Daraus wurde dann der Saalbau Neukölln, der nun das Volkstheater „Heimathafen Neukölln“ und das im Stil des 19. Jahrhunderts restaurierte klassische Kaffeehaus Café Rix beherbergt. Der Heimathafen Neukölln bietet seit 2009 neues Volkstheater aus Berlin und trägt der vielschichtigen kulturellen Mischung Rechnung durch einen Crossover an Stilen, Genres und Kulturen.

Das Café Rix mit seinem schönen Ambiente mit Goldstuck, großen Spiegeln und einem ruhigen Hofgarten lädt zum Entspannen ein. Womöglich in Vorfreude auf einen abwechslungsreichen Theaterabend nehmen wir uns ein Programmheft mit und gehen ein paar Schritte zurück, in die Passage der Neuköllner Oper. Jetzt kehren wir aber der Oper mitsamt ihrem Café Hofperle den Rücken und nutzen den Durchgang zur Richardstraße, die uns direkt ins Zentrum von Böhmisch-Rixdorf (Richardsdorf) führt.

Direkt gegenüber, in der Richardstr. 105 gibt es ein veritables Paradies für Trödelfans: ca. 1500 m² Trödel und Antikes aus allen Bereichen (Bücher, Möbel, Hausrat, Geschirr, Technisches etc.) im Trödel- und Antikhof, der teilweise überdacht, teils unter freiem Himmel ist.

Wer sein Geld hochprozentig anlegen und gleichzeitig ein typisch Berlinerisches Mitbringsel sucht, sollte in der Richardstr. 31 bei Getränke Sommerfeld Halt machen. Dieser Spirituosenladen verkauft schon seit vielen Jahrzehnten Spezialitäten aus dem Herzen von Böhmisch-Rixdorf wie Bunte Wolke, Persiko (das Kultgetränk der 70er Jahre), Kalmüser, ebenfalls ein ur-Berliner Gesöff und Rixdorfer Galgen, einen Kräuterlikör. 1922 wurde die Destillerie Grützmacher, die diese Liköre und Brände herstellt, nicht weit von hier, am Richardplatz/Ecke Hertzbergstraße, gegründet. Seit Ende der 90er Jahre werden die Spirituosen nicht mehr im eigenen Keller in Rixdorf, sondern in einer Fabrik in Mariendorf hergestellt, aber immer noch nach den alten Originalrezepten von vor fast 100 Jahren. Sommerfeld selber ist auch schon eine Institution im Viertel: eine nette Mischung aus Getränkehandel, Wohnzimmer und Nachbarschaftstreffpunkt.

Geistvolles - allerdings auf anderer Ebene - erwartet uns auch im Comenius-Garten F, Richardstr. 35, einem kleinen böhmischen Paradies und einer Oase der Ruhe und Erholung mitten im belebten, urbanen Neukölln.


Comenius

Der geniale böhmische Philosoph, Theologe und Pädagoge Jan Amos Comenius stand Pate für diesen 1995 eröffneten Garten. Eine seiner Maximen war, dass der Mensch zwar die Freiheit zur Umgestaltung der Welt hat – aber nur als Garten. Ein weiterer Grundsatz von Comenius ist, dass das Leben auch immer lebenslanges Lernen bedeutet, was sich auch in der Gestaltung des Gartens widerspiegelt, dessen verschiedener Bepflanzung einzelne Etappen des menschlichen Lern- und Lebensweges zugeordnet werden. Es gibt ein Veilchenbeet, einen Rosenhain, einen Wiesenteppich, einen Irrgarten, ein Arzneigärtlein, ein Seelenparadies und ein Mosaisches Becken. Den Eintritt ins Paradies erlangt man, indem man den kleinen silbernen Klingelknopf am Holzzaun drückt, und schon geht die Pforte auf. Das Ganze ist eine kostenlose Erholung für Neuköllner und gestresste Berlin-Besucher. Auch Spaziergänge mit philosophischen Gesprächen im Geiste des Comenius zur Erbauung von Körper und Seele finden nach vorheriger Vereinbarung statt.

Gut entspannt machen wir uns nun auf zu einem Besuch im Museum im Böhmischen Dorf (geöffnet donnerstags 14–17 Uhr, bzw. der erste oder dritte Sonntag im Monat 12-14 Uhr).

Wir verlassen den Comenius-Garten durch die Pforte, durch die wir gekommen sind, überqueren die Richardstraße und biegen direkt gegenüber in die kleine Kirchgasse ein. Schon sind wir im Herzen des Böhmischen Dorfes, in einer bäuerlichen Idylle mit Gärten, kleinen Gassen und alten Häusern. Das erste, was wir sehen, ist das Wahrzeichen des Böhmischen Dorfes, ein Denkmal des Königs Friedrich Wilhelm I., dem die böhmischen Siedler sehr dankbar waren, weil er ihnen so großzügig Schutz vor Verfolgung und Land zum Leben gewährt hatte. Der Denkmalsockel ist mit Reliefs verziert, die auf der einen Seite die Ankunft der böhmischen Exulanten und auf der anderen ihre neue Heimat, das Dorf Rixdorf, zeigen.

Auf dem Relief, das Rixdorf zeigt, ist im Hintergrund auch Gebirge zu sehen, offenbar eine Reminiszenz an die böhmische Heimat, denn richtige Berge gibt es in Neukölln nun wirklich nicht, mal abgesehen von den Hügeln der Rollberge. Nur ein paar Schritte vom ca. 100 Jahre alten Denkmal entfernt befindet sich der 1. Betsaal der Brüdergemeinde in der Kirchgasse 5. Bis 1907 wurde das Gebäude noch als Schule genutzt, später als normales Wohnhaus für mehrere Familien und seit 2005 beherbergt es neben den Privatwohnungen ein kleines Museum, das Museum im Böhmischen Dorf G, das dem Besucher Heimatkunde im wahrsten Sinne des Wortes nahe bringt. Die Mitarbeiterinnen sind sehr freundlich und engagiert und wissen viel zu berichten. Sie stammen alle selbst von den Rixdorfer Böhmen ab. Die Ausstellungsstücke stammen fast alle aus Familienbesitz. Die Gesang- und Gebetsbücher (auf deutsch und tschechisch), Fotos, Bücher, Spielzeuge, Lehrmittel, Kleidungsstücke und Hüte erzählen ihre eigene Geschichte von der alten und neuen Heimat. Besonders hübsch anzusehen sind die Häubchen der Herrnhuter Frauen, an denen man erkennen konnte, welchen Familienstand die Trägerin hatte und die bis in die 60er Jahre zwar aus Perlon, aber immer noch in Handarbeit einzig in Herrnhut in der Lausitz angefertigt wurden.


Idylle in Neukölln - das Böhmische Dorf

Unter dem Motto „Kinder entdecken das Böhmische Dorf“ führen die Mitarbeiterinnen des Museums auch Entdeckungstouren für Schulklassen durch, auf denen die Kinder die Bedeutung von Kleidung, Musik, Religion und Friedhofsgebräuchen für die Identität von damaligen und heutigen Einwanderern kennenlernen und feststellen, dass es Parallelen zwischen den modernen Anwohnern mit Migrationshintergrund und den böhmischen Exulanten von einst gibt.

Wir laufen durch die Kirchgasse zurück und biegen links in die Richardstraße ein, der wir bis zum Richardplatz folgen. Die kleine hübsche Betlehemskirche H aus dem 15. Jahrhundert (Ecke Schudomastr./Richardplatz) und die Historische Rixdorfer Schmiede prägen das Gesicht dieses ursprünglichen Dorfangers. Die Gebäude der denkmalgeschützten Schmiede stammen aus dem Jahr 1797. Jetzt wird in der Schmiede designorientierter Metallbau betrieben, es werden feine Klingen hergestellt, außerdem Schmiede-, Restaurations- und Schlosserarbeiten gemacht und man kann dort sogar Schmiedekurse besuchen oder einfach nur beim Schmieden zusehen.

Spezieller saisonaler Tipp: der romantische Rixdorfer Weihnachtsmarkt immer am zweiten Adventswochenende auf dem Richardplatz.

Wer möchte, biegt vom Richardplatz in die Kirchhofstraße ein und besucht den Böhmischen Gottesacker, der zu den ältesten heute noch genutzten Begräbnisstätten in Berlin gehört und ebenfalls viel über die Geschichte des Böhmischen Dorfes verrät, z.B. durch die Inschriften auf den alten Grabsteinen, die zum Teil noch auf Tschechisch sind.

Von der Kirchhofstr. biegen wir wieder in die Karl-Marx-Str. ein und zwar nach rechts in Richtung U-Bahnstation Karl-Marx-Straße. In der Karl-Marx-Str. 135 befindet sich das Puppentheater-Museum I. Ein Besuch dort ist ein besonderes Vergnügen für Kinder und Erwachsene. Hier erklärt Hausgeist Manfredi seinen Gästen, warum er so blutunterlaufene Augen hat und was zur Geisterstunde so alles los ist in seinem Museum. Ein kniehohes Teufelchen mit Pferdefuß stellt vorwitzige Fragen und Pinocchio lädt die Besucher zu Turnübungen ein. Die Puppenspielerinnen und Theaterpädagoginnen machen mit ihrer Begeisterung und Liebe zum Puppenspiel den Besuch zu einem Erlebnis und, überhaupt, ist man in guter Gesellschaft von Frau Holle, Paganini, Dr. Faustus und vielen anderen. Spätestens wenn man selber versucht hat, eine Marionette zu führen, wird klar, warum man mindestens acht Semester an der Hochschule für Bühnenkunst studiert haben muss, bis man es zum diplomierten Puppenspieler gebracht hat …

Besonders beliebt sind übrigens die Taschenlampenführungen für Kindergruppen, zu denen man sich aber auch mit eigenen Kindern oder Enkeln anmelden kann.

Nun sind wir nur noch ein paar Schritte von der U-Bahn Karl-Marx-Straße J entfernt, wo unser Spaziergang endet.

Neukölln hat noch viel mehr zu bieten. Ein paar U-Bahnhaltestellen weiter Richtung Britz z.B. kann man Wohnsiedlungen der klassischen Moderne wie die Rote Zeile oder die berühmte Hufeisensiedlung besuchen und sich durch eine Originalwohnung aus den 20er Jahren führen lassen. Gleich in der Nähe gibt es seit September 2013 einen prächtigen, farbenfrohen Hindutempel, in dem auch Andersgläubige sehr willkommen sind. Aber das ist schon wieder ein anderer Spaziergang …

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