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2 Interpretative Ansätze in der qualitativen Forschung

Hendrik Wagenaar

2.1 Einleitung: Möglichkeiten und Herausforderungen in der interpretativen Analyse

Was bedeutet es, qualitative Daten „interpretativ“ zu analysieren? Die britischen Politologen Mark Bevir und Rod Rhodes haben Ansätze, die wir im Folgenden als „interpretative Analyse“ (IA) zusammenfassen, wie folgt definiert: „Interpretive approaches to political studies focus on meanings that shape actions and institutions, and the ways in which they do so“ (Bevir & Rhodes 2004, 130). Dies kommt einer Standarddefinition der IA in der Politikwissenschaft insofern nahe, als sie auf alle wesentlichen Elemente Bezug nimmt: auf politische Handlungen, Institutionen, Bedeutungen und die realitätsgestaltende Kraft dieser Bedeutungen. Unter Bedeutungen sind nicht nur Überzeugungen und Gefühle der Menschen gegenüber politischen Phänomenen zu verstehen, sondern Bedeutungen formen diese Phänomene. Um ein Beispiel zu geben: Ob wir Kleinkriminalität als Effekt von Armut und Ausgrenzung verstehen oder als individuelle und freie Entscheidung der Betroffenen, die für ihr Verhalten zur Verantwortung zu ziehen sind, wirkt sich auch auf die politischen Strategien aus, mit denen wir diesem gesellschaftlichen Phänomen begegnen.

Oberflächlich betrachtet klingt diese Definition wohl für die meisten Menschen sehr plausibel. Sie legt nahe, dass es für die Analyse insbesondere von Public Policy (also der inhaltlichen Ausgestaltung staatlicher Politik) wichtig ist, über offensichtliche Akte politischen Verhaltens hinauszugehen, wie zum Beispiel die Wahl einer bestimmten Partei oder die Unterstützung einer bestimmten politischen Maßnahme. [31]

UM ZU VERSTEHEN, warum etwa ein bestimmtes Politikinstrument nicht die beabsichtigten Wirkungen erzielt oder warum Menschen eine bestimmte Kandidatin wählen, ist es wichtig herauszufinden, was diese politische Maßnahme oder Kandidatin für diese Menschen bedeutet; welche Auswirkungen sie auf das Leben von Menschen haben.

Zu diesem Zweck ist es notwendig, andere Methoden als standardisierte Erhebungsinstrumente einzusetzen. Wir brauchen Methoden, die es uns ermöglichen zu erfassen und zu analysieren, auf welche Weise Menschen ihre Gefühle, Überzeugungen, Ideale, Bedürfnisse, Ängste und Wünsche zum Ausdruck bringen – und wie diese mit sozialen und politischen Praktiken verbunden sind.

Methoden zur Erfassung von Bedeutungen sind mittlerweile weit verbreitet. Denken Sie an qualitative Forschungsinterviews (siehe Kapitel 6) oder ethnographisch inspirierte Methoden wie die Beobachtung (siehe Kapitel 5). Es scheint alles darauf hinauszulaufen, einfach die Methode auf die Frage abzustimmen: Wenn wir eine zuverlässige Schätzung darüber haben wollen, wie ein politisches Phänomen in einer Bevölkerung verteilt ist oder inwieweit es statistisch mit einem anderen Phänomen in Verbindung steht, verwenden wir quantitative Forschungsmethoden. Wenn wir andererseits verstehen wollen, was bestimmte Politikinhalte für die von diesen betroffenen Menschen bedeuten, oder wie Menschen die Bemühungen einer staatlichen Institution zur Verbesserung ihrer Lebensumstände erleben, setzen wir interpretative, qualitative Forschungsmethoden ein. Das klingt doch ganz einfach, oder?

Wenn es nur so einfach wäre! Tatsächlich stoßen diejenigen, die sich von einem interpretativen Ansatz der Politikanalyse angezogen fühlen, schnell auf eine Reihe von Hindernissen, die einem Verständnis dieses Ansatzes im Wege stehen. Erstens umfasst die IA nicht einen Ansatz, sondern viele Ansätze. Bezeichnungen wie Rahmenanalyse (Frame Analysis), Ethnomethodologie, Diskursanalyse (oder neuerdings auch Critical Policy Discourse Analysis – ein Begriff, der keine präzise deutschsprachige Entsprechung hat), narrative Analyse, genealogische Analyse, Hermeneutik (mit oder ohne das Adjektiv „philosophische“), Phänomenologie, Strukturalismus und Poststrukturalismus oder Praxistheorie weisen auf eine enorme Vielfalt von Interpretationsansätzen und konkreten Methoden in der Sozialforschung hin, die nicht nur für Studentinnen verwirrend sein können. Darüber hinaus unterscheiden sich diese Ansätze nicht nur im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand oder die spezifische Vorgehensweise bei der Analyse, sondern auch in ihren philosophischen Annahmen. Diese Annahmen betreffen eine Reihe [32] von erkenntnistheoretischen und ontologischen Fragen – betreffend das Wesen der politischen Realität, die Rolle der Sprache in unserer Wahrnehmung der Welt oder den Platz der Werte in unserem politischen Diskurs. Jede einzelne von ihnen reicht aus, um eine ausgebildete Philosophin ins Schwitzen zu bringen – ganz zu schweigen von Menschen, die mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit gerade erst beginnen.

Zweitens ist eine interpretative Analyse intellektuell anspruchsvoll und praktisch herausfordernd. Es gibt Hunderte von Lehrbüchern zur qualitativen Forschung und ein paar gute zur interpretativen Analyse. Dennoch bleibt ihre Verwendung für viele Studierende frustrierend. Im Allgemeinen erklären diese Lehrbücher, wie man Daten sammelt, wie man deren Qualität sicherstellt, wie man die Daten für die Analyse organisiert und wie man sie schließlich analysiert. Was jedoch fehlt, ist der wesentliche Bestandteil der IA: die spezielle Interpretationstheorie, die das analytische Problem definiert, die die Datenerhebung vorantreibt und die der Analyse eine Richtung gibt. Diese Lücke entsteht nicht, weil die Autorinnen bei ihrer Aufgabe, die Methode gut zu erklären, versagen, sondern weil sie versuchen, etwas zu tun, was letztlich unmöglich ist: eine komplexe Fähigkeit durch ein Handbuch zu lehren. Es fällt uns nicht schwer zu verstehen, dass man das Segeln oder Klavierspielen nicht allein dadurch erlernen kann, indem man Bücher darüber liest. Man muss üben. Deshalb engagiert man eine Segel- oder Klavierlehrerin. Dasselbe gilt für die IA: Man kann sie nur erlernen, indem man sie unter der Anleitung einer erfahrenden Forscherin selbst öfters durchführt.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die IA (und die qualitative Forschung im Allgemeinen) Gegenstand erheblicher Missverständnisse ist, und das nicht nur unter Nachwuchswissenschaftlerinnen. Das bei Weitem größte Missverständnis besteht darin, dass sie oftmals als „subjektiv“ betrachtet wird. Dies ist ein großes Problem. Gutachterinnen wissenschaftlicher Fachpublikationen oder Forschungsförderungsanträge und auch Betreuerinnen von Abschlussarbeiten äußern regelmäßig ihre Bedenken über die angebliche Subjektivität eines interpretativen Forschungsdesigns. Andere wiederum schlagen vor, man solle das Design „verbessern“, indem man eine größere oder repräsentativere Stichprobe auswählt, Hypothesen formuliert oder Variablen formal operationalisiert. Einige meiner eigenen Forschungsanträge wurden abgelehnt, weil die Gutachterinnen offensichtlich qualitative Fallstudien mit quantitativen Stichproben verwechselten: Qualitative Fallstudien zielen auf theoretische Vielfalt ab, quantitative auf statistische Repräsentativität. Was diese Gutachterinnen also verlangen, basiert in der Tat auf einem Kategorienfehler: nämlich darauf, die Logik der quantitativen Forschung auf die qualitative Forschung zu übertragen. Damit tragen sie zum [33] Missverständnis bei, die qualitative Forschung sei quasi eine einfachere, „schwammigere“ Variante der quantitativen. Wenn es wirklich so wäre, dann könnten wir uns qualitative Forschung eigentlich ganz sparen. Aber so ist es glücklicherweise nicht.

Im nächsten Abschnitt werde ich argumentieren, dass Bedeutung, das Kernelement der IA, nicht subjektiv, sondern „situiert“ ist – was in vielen Fällen darauf hinausläuft, dass die Bedeutung faktisch objektiv ist.

2.2 Was ist Bedeutung?

Interpretative Erklärungen können am besten als Gegenbegriff zu kausalen Erklärungen verstanden werden. Wenn wir einen heißen Ofen berühren oder uns schneiden, verspüren wir Schmerzen. Dies ist ein alltägliches Beispiel für einen kausalen Zusammenhang: Die an den Händen wahrgenommene Hitze löst über neurale Wege das Schmerzempfinden aus – und wir ziehen reflexartig unsere Hand zurück, um Gewebeschäden zu vermeiden. Obwohl solche Beispiele ganz logisch klingen, sind kausale Zusammenhänge in der sozialwissenschaftlichen Forschung schwer nachzuvollziehen. Philosophinnen argumentieren, dass drei Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Beziehung als kausal gelten kann:

1. Die unabhängige Variable X korreliert mit der abhängigen Variable Y,

2. X geht Y voraus,

3. es muss ein Mechanismus angegeben werden können, der zeigt, wie Variable X sich auf Variable Y auswirkt.

In den Sozialwissenschaften ist die erste Bedingung relativ leicht nachzuweisen. So kovariieren beispielsweise Bildungsniveau und Stimmabgabe: Personen mit höherem Bildungsniveau neigen eher dazu, wählen zu gehen. Doch der Nachweis der beiden anderen Bedingungen gestaltet sich in der Regel schwieriger. In solchen Fällen neigt man dann dazu, die Kausalität auf einen rein statistischen Zusammenhang zurückzuführen. Zum Beispiel schneiden Mädchen in der Schule besser ab als Jungen. Dies ist eine Korrelation, die über alle Altersstufen und Kulturen hinweg besteht. Bedeutet das, dass Mädchen klüger sind als Jungen? So attraktiv diese Hypothese für manche Menschen auch sein mag, so ungerechtfertigt ist sie doch. (Ein Hinweis auf die wahre Ursache des unterschiedlichen schulischen Abschneidens ist, dass die geschlechtsspezifische Korrelation klassenabhängig ist. In niedrigeren sozioökonomischen Schichten ist die Korrelation stärker. Forscher glauben, dass die [34] niedrigeren Bildungsergebnisse von Jungen etwas mit der größeren Widerstandsfähigkeit von Mädchen gegenüber sozialem Stress zu tun haben (siehe etwa Figlio et al. 2019). Jungen sind sensibler! ;-)

ETWAS IN BEZUG AUF SEINE BEDEUTUNG zu erklären, das heißt – im Gegensatz zu einer kausalen Erklärung –, es in Bezug auf seine Absichten zu erklären.

Das klingt vielleicht kompliziert, aber in unserem täglichen Leben machen wir das die ganze Zeit, und wir sind sehr gut darin. Führen Sie sich das folgende Beispiel aus dem Alltagsleben vor Augen: Sie sitzen spätabends in einer Bar. Plötzlich öffnet sich die Tür und eine Frau kommt herein. Sie schreit einen Mann an, der an der Bar sitzt, und schlägt ihm auf den Kopf. (Ich habe diese Szene vor vielen Jahren in einer Bar in Amsterdam selbst erlebt.) Das Opfer der Attacke senkt den Kopf, murmelt etwas und verlässt die Bar, ohne sich zu wehren. Eine andere Frau folgt den beiden im Eilschritt aus der Bar, und wir hören ein undeutliches Geschrei durch die geschlossene Tür. Alle in der Bar sind plötzlich still. Was ist passiert? Zunächst stockend, beginnen die Leute miteinander zu reden, und gemeinsam basteln wir eine Erklärung für die verwirrenden Ereignisse. Es stellt sich heraus, dass die wütend hereinstürmende Frau die Ehefrau des Mannes war. Dieser hatte den Abend mit seiner Freundin verbracht – jener Frau, die den beiden nachlief. Die Absicht der Ehefrau war es, das Tête-à-Tête ihres Mannes mit einer anderen Frau zu unterbrechen und ihn nach Hause zu bringen. Sobald die Handlungen der Protagonistinnen zur Zufriedenheit aller im Lokal Anwesenden erklärt wurden, kehrten wir wieder zu unseren eigenen Gesprächen zurück. Während der gesamten Szene und ihrer Nachwirkungen war keiner der Besucherinnen der Bar bewusst, dass sie eine interpretative Analyse vollzogen. Sie taten es einfach. Ganz natürlich.

Aus dieser kleinen Szene lassen sich zwei Lehren ziehen. Die erste ist, dass die Interpretation von Ereignissen und Aussagen von der Art und Weise abhängt, wie sich Menschen in der Welt orientieren. Genauer gesagt, in einer Welt, die im Wesentlichen unvorhersehbar, überraschend, offen und oft schwer zu begreifen ist. Die zweite ist, dass an einem bestimmten Punkt eine interpretierende Erklärung „gut genug“ ist. Im Alltag geht es uns oft nicht um die absolute Wahrheit oder Gewissheit. Wir sind uns bewusst, dass unsere Erklärungen für Phänomene insofern vorläufig sind, als sie nur so lange gelten, bis wir mehr über die Situation erfahren, und wir gezwungen sind, sie zu ändern oder zu ergänzen. Interpretation ist damit ein wunderbar vielseitiges, anpassungsfähiges Werkzeug, um sich in einer unbestimmten Umgebung zurechtzufinden. Wir Menschen lernen solch interpretatives Arbeiten von [35] klein auf – es ist Teil davon, wie wir in der Welt sind. Ohne uns dessen bewusst zu sein, sind die meisten von uns zu sehr kompetenten „Interpretativistinnen“ der Welt geworden. IA ist nichts anderes als eine systematischere, wissenschaftliche Version dieser alltäglichen Interpretationsarbeit.

Eine Handlung wird intentional erklärt, wenn wir in der Lage sind zu sagen, was der zukünftige Stand der Dinge (die Intention) sein soll, der die spezifische Handlung erfordert. Die interpretativ arbeitende Politikwissenschafterin Dvora Yanow untersuchte zum Beispiel den Bau von Gemeindezentren in Israel in den 1970er Jahren (Yanow 1996) und unterzog diese einer intentionalen Erklärung: Die Regierung hatte beschlossen, dass alle Städte in Israel ein Gemeindezentrum haben sollten. Dabei handelte es sich um modern aussehende Gebäude aus Glas und Stahl, die eine Bibliothek, Räumlichkeiten für soziale Dienste, Veranstaltungen und so weiter beherbergten. Allerdings wurden die mit großem Aufwand errichteten Zentren von der Bevölkerung kaum genutzt. Dennoch investierte die Regierung weiterhin Geld in deren Bau.

Yanow kam zu dem Schluss, dass es falsch sei, den Erfolg oder das Scheitern dieser Politik an ihren erklärten instrumentellen Zielen zu messen, nämlich Orte zu schaffen, an denen Menschen zusammenkommen. Stattdessen schlug sie vor, das Augenmerk darauf zu legen, was diese Gemeindezentren für unterschiedliche Akteurinnen bedeuten. Sie kommt zu dem Schluss, dass ihre Bedeutung symbolisch sei: Die Zentren projizierten ein Bild der Modernität im amerikanischen Stil in Städten und Orten, die oft sehr traditionell waren und deren Bewohnerinnen sich lieber in Souks oder Basaren aufhielten und dort Tee tranken, als sich in einem Neubau mit Glasfassade zu treffen. Letzteres traf insbesondere auf neue Einwanderinnen zu, die gerade aus dem Ausland nach Israel gekommen waren. Die Gemeindezentren waren eine Nachricht an die neuen Immigrantinnen: Eure neue Heimat ist ein modernes Israel! Dies ist eine intentionale Erklärung, weil sie besagt, dass die Bedeutung der Zentren nicht in ihrem vorgesehenen Gebrauch liegt, sondern in ihrer impliziten Botschaft der Modernität.

Wie die oben erwähnten Gutachterinnen oder die Betreuerinnen könnten Sie hier einwenden, dass dies alles sehr subjektiv für Sie klingt. Dies wäre aus verschiedenen Gründen ein Fehlschluss, wie ich im nächsten Abschnitt erläutern werde. Lassen Sie mich aber gleich hier einen ersten Versuch unternehmen, Sie umzustimmen. Wie wir gesehen haben, sind wir in unserem Alltag ständig mit intentionalen Erklärungen beschäftigt, und es stört uns nicht allzu sehr, dass wir dabei „subjektiv“ sind. Unsere Erklärungen fühlen sich nicht subjektiv an. Sie ergeben für uns Sinn – und zwar nicht nur für uns selbst als Individuen, sondern als Mitglieder einer Gemeinschaft, wie die [36] kleine Gemeinschaft von Barbesucherinnen im oben genannten Beispiel zeigt. Unsere Alltagsinterpretationen wurzeln in der Detailfülle des Kontextes, aus dem sie hervorgehen.

Auch Dvora Yanow hat ihre Erklärung nicht aus dem Nichts gezaubert. Sie führte sorgfältige Analysen durch und befragte zahlreiche Personen (Beamtinnen, Stadtbewohnerinnen, Neueinwandererinnen), besuchte viele dieser Zentren selbst und hielt sich in diesen kleinen israelischen Städten auf, um über die Gewohnheiten und Präferenzen der Menschen zu lernen. Aus diesen reichhaltigen Daten entwickelte sie ihre Interpretation der israelischen Gemeindezentrumspolitik. Die IA ist immer empirisch fundiert und basiert auf umfangreichen und sorgfältigen Untersuchungen dessen, was Menschen sagen und tun. Oder, wie der berühmte Anthropologe Clifford Geertz es ausdrückte: „Behaviors must be attended to, and with some exactness, because it is through the flow of behavior – or more precisely social action – that cultural forms find articulation“ (Geertz 1973, 17).

2.3 Warum Bedeutung nicht subjektiv ist

Philosophinnen sagen, dass wir, wenn wir etwas intentional – also in Bezug auf seine Bedeutung – erklären, in Wirklichkeit eine Handlung erklären. Eine Handlung wird immer durch ihre Absicht definiert. Denken Sie an Handlungen in Ihrem Leben, wie die Teilnahme an einer Wahl, eine Eheschließung oder den Besuch einer Sportveranstaltung. All dies sind Handlungskonzepte (action concepts), die vollständig durch eine implizite oder explizite Absicht definiert sind. Nimmt man die Absicht heraus, löst sich das Konzept in Rauch auf. (Was ist heiraten ohne die Absicht, sich zu binden? Das wäre wahrscheinlich Täuschung.) Charakteristisch für die qualitative Sozialforschung ist, dass ihre Analyseeinheit meist aus Handlungskonzepten – also aus Absichten – besteht. Das bedeutet nicht, dass man Handlungskonzepte nicht zählen kann. (Wir können zum Beispiel die Zahl der Menschen zählen, die bei einer Wahl für eine bestimmte Partei gestimmt haben.) Aber in den qualitativen Sozialwissenschaften geht es darum, mehr über die intentionale Dynamik hinter bestimmten Praktiken oder Prozessen zu analysieren, um das Phänomen tiefergehend zu verstehen – wie im oben erwähnten Beispiel des besseren Abschneidens von Mädchen im Bildungssystem.

Diese Herangehensweise wird manchmal als Interpretativismus bezeichnet. Der Philosoph Brian Fay definiert diesen als „the view that comprehending human behavior, products and relationships consists solely in reconstructing [37] the self-understandings of those engaged in creating or performing them“ (Fay 1996, 113). Wenn ich diese Dinge meinen Studentinnen erkläre, dauert es nicht lange, bis eine von ihnen aufzeigt und sagt: „Aber Herr Professor, wenn Sie sich auf das Selbstverständnis der Menschen verlassen, haben Sie dann nicht erst wieder die Tür zum Subjektivismus geöffnet? Die Kritikerinnen hatten Recht. Die IA ist also doch subjektiv. Es ist alles in den Köpfen der Menschen.“

Kommen wir als Antwort auf den Einwand der Studentin auf den Begriff der Absicht, der Intention zurück. Was tun wir, wenn wir diese zum Zweck der Interpretation einer Handlung ableiten oder rekonstruieren? Nehmen wir zum Beispiel an, ich komme zu spät zu meiner Vorlesung. Ich betrete den Hörsaal zehn Minuten zu spät, außer Atem, unrasiert und zerzaust und sage: „Tut mir leid, liebe Kolleginnen, ich wollte eigentlich pünktlich sein.“ Für wie glaubwürdig halten Sie meine Erklärung? Für nicht sehr glaubwürdig, nehme ich an. Vor allem dann nicht, wenn es nicht das erste Mal war, dass ich zu spät gekommen bin – und mich außerdem einige Studentinnen schon des Öftern nicht mehr ganz nüchtern spätabends in einer Bar gesehen haben.

Was dieses kleine und völlig fiktive Beispiel illustriert, ist, dass der Begriff der Absicht sich nicht auf meinen psychischen Zustand bezieht, der nur mir selbst zugänglich ist und den nur ich bekennen oder leugnen kann. Intention hat keinen erfahrungsbasierten Kern („no experiential essence“), wie der Soziologe Jeffrey Coulter es bezeichnet. Stattdessen bezieht sich das Wort „Absicht“ oder Intention auf Handlungen, die für andere Menschen beobachtbar sind. Um die Wahrheit oder Gültigkeit der Aussage „Ich hatte die Absicht, pünktlich zu sein“ zu beurteilen, sollten Sie sich nicht auf das verlassen, was ich – der zu spät Gekommene – Ihnen sage; sondern Sie – als Beobachterin – spinnen ein Netz aus Beweisen und Beobachtungen, die andere Beobachterinnen gemacht haben.

Stellen Sie sich etwa vor, dass es zusätzlich zu den Sichtungen meinerseits spätabends in Bars auch das hartnäckige Gerücht gibt, dass ich ein Alkoholproblem habe, dass ich manchmal nicht zur Arbeit auftauche etc. Meine Aussage, ich hätte vorgehabt, pünktlich zu sein, hätte vor diesem Hintergrund eine völlig andere Bedeutung, als wenn ich als pünktlicher und verlässlicher Mensch bekannt wäre, der diesmal vielleicht aufgrund einer Panne zu spät gekommen ist. So gelangt Coulter zu dem Schluss: „Avowals and ascriptions of intentions, then, are organized by, and gain their intelligibility from, not some mental divinations but from the particulars of public states of affairs“ (Coulter 1979, 40f.). Anders ausgedrückt: Bei der Konstruktion von Absichtserklärungen, von Intentionen, untersuchen wir nicht nur die Akteurin, die die [38] Absicht hat, sondern auch den weiteren Kontext, der die Absicht für andere verständlich macht.

Diese Argumentationslinie ebnet den Weg für das wichtige Konzept der „objektiven Bedeutung“. Yanows Studie, die ich oben genannt habe, beschreibt das scheinbare Paradox, dass Gemeindezentren in Israel weiterhin gebaut wurden, obwohl sie nur wenig genutzt wurden, im Hinblick auf das Motiv der Regierung: Sie wollte den neuen Einwanderinnen das Bild eines modernen Israels vermitteln. Dabei ist interessant, dass Mitglieder der israelischen Regierung das vermutlich nicht so formuliert hätten, hätte man sie gefragt. Sie hatte kein bewusstes Verständnis dieses Motivs. Aber sobald man ihnen diese Interpretation darlegt, erkennen sie sie wieder: Es macht für sie Sinn. In diesem Moment treffen einander die subjektiven (also einzelnen, partikularen) Bedeutungen und die geteilte und in dieser Hinsicht „objektive“ Bedeutung am selben Punkt.

OBWOHL DIE BEDEUTUNG VON HANDLUNGEN an die Absichten der Akteurinnen gebunden ist, braucht es immer noch die Forscherin, um sie zu rekonstruieren. Das ist genau der Mehrwert, den gute Forschung bietet. Sonst könnte man ja einfach die Menschen zu ihren Motiven befragen und nacherzählen, was diese sagen. IA rekonstruiert hingegen, warum Politikerinnen, Verwaltungsbeamtinnen oder andere Akteurinnen bestimmte Handlungen setzen – insbesondere auch dann, wenn sie von erwartbarem, „rationalem“ Verhalten abweichen.

Neben den persönlichen Gründen, die für jede individuelle Akteurin unterschiedliche sein können, gibt es darüber hinaus eine geteilte, objektive Bedeutung. Einige der „Gründe“ für eine Handlung sind den betroffenen Akteurinnen nämlich nicht bewusst, obwohl sie unbestreitbar ihr Handeln prägen. Wenn ich zum Beispiel mit meiner Bank einen Kredit ausverhandle, dann wird mein Handeln von den Konzepten, Regeln und Konventionen beeinflusst, die den Abschluss eines Bankkredits umgeben. Oder genauer gesagt, die es ermöglichen, dass Banken Kredite vergeben und Menschen Kredite aufnehmen. Diese Konventionen, die der Tätigkeit einer Kreditaufnahme implizit innewohnen, haben objektive Bedeutungen. Objektive Bedeutungen sind nicht nur in Individuen verortbar, sondern in der Gemeinschaft oder Kultur, in der wir leben. Sie sind die grundlegenden Annahmen und Konzeptualisierungen, die eine bestimmte Tätigkeit ermöglichen; daher der Begriff „konstitutiv“, der oft mit objektiven Bedeutungen verbunden wird.

Um zum Beispiel eine Hypothek aufzunehmen, brauchen wir ein grundlegendes Verständnis davon, was Eigentum bedeutet, was ein Darlehen und [39] Zinsen sind oder was einen Vertrag ausmacht. Auch wenn ich meine Entscheidung, eine Hypothek aufzunehmen, vielleicht subjektiv beschreibe (etwa der Kauf eines Hauses ist in der Summe günstiger als die Miete, und auf diese Weise erwerbe ich Eigentum, von dem ich meinen Kindern einen Teil hinterlassen kann), so setzt doch schon der Begriff der Hypothek die oben beschriebenen Konzepte voraus. Der Wissenschaftsphilosoph Brian Fay nennt diese Voraussetzungen „Konzepte, mit denen wir denken“ (im Gegensatz zu den subjektiven Konzepten, die wir beim Denken verwenden, oder über die wir nachdenken; siehe Fay 1996, 116). Diese konstitutiven – also grundlegenden – Konzepte sind implizit; sie liegen unter der Oberfläche unserer bewussten Aktivitäten. Sie sind eine Art stillschweigendes Hintergrundwissen, über das wir als kompetente Akteurinnen in unserer Gesellschaft verfügen.

Objektive Bedeutungen erklären nicht so sehr die Handlungen eines Individuums – also warum ich einen Kredit aufnehme oder nicht –, sondern vielmehr die Bedeutung, die ein Handlungsmuster im und für den größeren kulturellen Kontext hat. Handelnde Personen nehmen auf objektive Bedeutungen Bezug, in dem Sinn, dass diese Bedeutungen die begrifflichen Voraussetzungen darstellen, die eine bestimmte Aktivität möglich machen. Trotzdem sind die meisten Bedeutungen implizit, da sie nicht Teil der bewussten Intention, oder des Motivs, dieser Akteurinnen sind. Diese Beobachtung ist besonders wichtig für interpretative Analysen von Politik – denn die Erfassung objektiver Bedeutungen erfordert eine beträchtliche Menge interpretativer Arbeit seitens der Analytikerin selbst.

2.4 Was tun wir, wenn wir interpretative Analyse betreiben?

Obwohl es viele Varianten der IA gibt, haben sie eines gemeinsam: die hermeneutische Analyse. Diese hat ihren Ursprung vor Jahrhunderten in der Auslegung biblischer Texte (Exegese), die zum Teil sehr schwer verständlich waren. Um die unverständlichen biblischen Passagen zu klären, stellten die Exegeten sie in einen breiteren Kontext – andere biblische Bücher, verwandte Texte aus der gleichen Zeit, historische Studien. Dadurch hofften sie, Hinweise auf die Bedeutung der unverständlichen Stellen zu finden. Genau darum geht es auch bei der hermeneutischen Analyse: Die Analytikerin wird mit einer rätselhaften Situation konfrontiert. Um ihr einen Sinn zu geben, stellt sie sie in ihren weiteren sozialen, kulturellen oder historischen Rahmen. [40]

Für meine eigene Doktorarbeit (vor mehreren Jahrzehnten) habe ich zum Beispiel versucht, eine auffällige, aber unbeabsichtigte Folge der so genannten Politik der Deinstitutionalisierung in den USA zu verstehen. Die Deinstitutionalisierung war ein Versuch seitens der Gesundheitspolitik, die psychiatrische Klinik von einer Einrichtung, in der Patientinnen sich für sehr lange Zeit aufhalten, zu einer Institution zu machen, in der Menschen nur kurzzeitig – während einer akuten Krise – verbleiben. Anstatt monate- oder manchmal jahrelang stationär behandelt zu werden, sollten die Patientinnen in ambulanten Einrichtungen in der Nähe ihres Wohnortes und ihres sozialen Umfeldes versorgt werden. Diese Strategie war teilweise erfolgreich – in dem Sinn, dass die meisten Patientinnen nur wenige Tage nach ihrer Einweisung in die Klinik wieder entlassen wurden.

Das Problem dabei war aber, dass die versprochenen psychiatrischen Zentren in den Gemeinden, die als Ersatz dienen sollten, nicht geschaffen wurden. Das bedeutete, dass Menschen nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie sich selbst oder ihren Familien überlassen wurden. Oft mussten sie daraufhin bald wieder zurück in eine psychiatrische Anstalt. Eine der unbeabsichtigten Folgen dieser Politik war damit eine enorme Zunahme der wiederholten Einweisungen von Patientinnen. Einige wurden so oft wieder aufgenommen, dass Expertinnen von einem Drehtür-Phänomen sprachen. (Ein weiterer Nebeneffekt der Deinstitutionalisierung war Obdachlosigkeit.) Wenn man die Patientinnen oder ihre Angehörigen fragte, warum sie immer wieder ins Krankenhaus zurückkehrten, erhielt man alle möglichen Antworten: „Ich hatte keine Bleibe“, „Ich fühlte mich einsam“, „Unser Sohn bedrohte uns mit einem Messer“, „Ich hatte drei Tage lang ununterbrochen getrunken“ etc. Aber die interpretative Analytikerin will über diese Selbstberichte hinausgehen. Sie benutzt diese Aussagen, um nach der „Intentionalität zu suchen, die in der Handlung selbst enthalten ist, nicht nach dem, was im Kopf des Akteurs vorgeht“ (Fay 1996, 140; Übersetzung durch den Autor). Und dies setzt voraus, dass die Analytikerin die Handlung in den weiteren Kontext des sozialen Umfelds des Akteurs stellt (ebd.).

DIESER ANSATZ ZUM VERSTÄNDNIS geteilter („objektiver“) Bedeutung stützt sich auf den wichtigen Begriff des hermeneutischen Kreises. Um einen Teilaspekt eines Phänomens zu verstehen (etwa einen Anstieg der Wiedereinweisungen in die Klinik), muss die Forscherin das Phänomen in seiner Gesamtheit erfassen.

Bei meinem Beispiel etwa geht es um das Leben von psychiatrisch gefährdeten Patientinnen mit wenig Geld in einem städtischen Umfeld, in dem gerade [41] das psychiatrische Versorgungssystem umgestaltet wird. Um das Phänomen in seiner Gesamtheit zu verstehen, führte ich ein Jahr lang detaillierte empirische Untersuchungen über das psychiatrische Versorgungssystem in Chicago durch. Ich untersuchte dafür auch die Geschichte der psychiatrischen Versorgung und des Wohlfahrtssystems in den USA. Vor allem aber befragte ich zahlreiche Patientinnen, ihre Familien und Freundinnen sowie jene, die sie innerhalb und außerhalb des Krankenhausbetriebes versorgten. Dabei stellte ich fest, dass es für diese Patientinnen drei übliche Wege ins Krankenhaus gab: Selbsteinweisung, Einweisung durch Familienangehörige und Einweisung durch Dritte, etwa durch Reha-Kliniken oder die Polizei. Bei der Selbsteinweisung nutzten die Patientinnen ihr eigenes Erfahrungswissen über die Funktionsweise des Systems, um Zugang zum Krankenhaus zu erhalten – zum Beispiel wenn sie eine Pause von den Strapazen eines Lebens brauchten. Durch die Einordnung des Phänomens der Wiedereinweisungen psychiatrischer Patientinnen in den breiteren Kontext der städtischen Armut wurde das anfängliche Rätsel gelöst.

Vielleicht ist dies also der richtige Ort, um die am häufigsten zitierte Aussage IA anzubringen. Sie stammt wieder von Clifford Geertz: „Hopping back and forth between the whole conceived through the parts that actualize it and the parts conceived through the whole that motivates them, we seek to turn them, by a sort of intellectual perpetual motion, into explications of one another“ (Geertz 1983, 69).

DIESES KONTINUIERLICHE HIN UND HER zwischen einzelnen Details und der Interpretation in ihrer Gesamtschau ist ein „hermeneutischer Kreis“. Welche Methode der interpretativen Analyse wir auch immer wählen, der hermeneutische Kreis steht im Mittelpunkt.

„Aber was ist mit der Wahrheit?“, fragen mich Studierende oft an diesem Punkt. „Ist es nicht der Zweck der wissenschaftlichen Forschung, die Wahrheit zu finden?“ Darauf sage ich: „Die Wahrheit ist eines der großen Schreckgespenster der Philosophie.“ Philosophinnen scheinen sich einfach nicht darüber einig zu sein, was Wahrheit ist. Ganze Bibliotheken sind über diese Frage geschrieben worden – und dieses Kapitel ist nicht der richtige Ort, um auch nur ansatzweise die vielen Fragen im Zusammenhang mit dem Ideal und dem Begriff der Wahrheit zu diskutieren. Lassen Sie mich nur sagen, dass, wie wir oben gesehen haben, der Zweck der hermeneutischen Analyse darin besteht zu plausiblen Erklärungen zu gelangen. Plausibel bedeutet, dass sie genau und präzise sind (sie passen zu den empirischen Daten) und dass sie von fachkundigen Menschen als solche erkannt werden. Es reicht also nicht, [42] wenn nur ich selbst sie plausibel finde. Das ist übrigens bei quantitativer Forschung nicht anders. Auch „harte“ Zahlen müssen interpretiert und erklärt werden, und diese Erklärungen müssen Menschen, die sich mit dem Thema auskennen, plausibel sein. Alle Ergebnisse interpretativer Forschung sind vorläufig; die Welt bewegt sich weiter und damit unser Verständnis von ihr.

„Aber öffnet dies nicht dem Relativismus Tür und Tor?“, ist ein weiterer Vorwurf, der oft gegen die IA erhoben wird. „Unterscheidet sich Ihre Version der Plausibilität nicht von meiner, und sind nicht beide gleich plausibel? Ohne objektive Kriterien, nach denen zwischen unseren beiden Erklärungen vermittelt werden kann, können wir nicht entscheiden, was plausibel ist – oder?“ Dies ist eine weitere dieser scheinbar unlösbaren Fragen, von denen Philosophinnen leben. Ohne ins Detail zu gehen, lautet meine Antwort: Nicht unbedingt. Relativistische Positionen neigen dazu, Unterschiede zwischen Menschen überzubewerten. Wenn Sie und ich in Chicago über die Auswirkungen der Deinstitutionalisierung forschen, haben wir Zugang zu derselben Welt. Wir können nicht einfach irgendetwas über diese Welt sagen – weil diese uns eines Besseren belehren wird. Die Patientinnen oder das psychiatrische Personal, das wir befragen, die Vorschriften, die wir untersuchen, die Zahlen, die wir tabellieren – all das wird uns schnell in die Schranken weisen, wenn wir einfach nur etwas „Subjektives“ über diese Welt sagen.

Dies zeigt wiederum, wie wichtig es ist, unsere interpretative Forschung auf sorgfältiger, gewissenhafter empirischer Analyse zu gründen. Ideen sind nicht dasselbe wie die materielle Welt. Und selbst wenn wir mit den Erklärungen anderer Menschen nicht einverstanden sind, brauchen wir einen gemeinsamen Hintergrund, um überhaupt eine Meinungsverschiedenheit haben zu können – denn wir müssen uns zumindest darüber im Klaren sein, worüber wir uns uneinig sind. Wir teilen mehr Überzeugungen, Wünsche, Haltungen, Werte und Denkprinzipien mit anderen Menschen, als uns bewusst ist. Ohne die Fähigkeit, dieses Wissen zu teilen, wären wir überhaupt nicht in der Lage, miteinander zu kommunizieren (Fay 1996, 76– 91). Es wäre, als ob wir mit Außerirdischen sprechen würden. [43]

2.5 Die drei Gesichter der Bedeutung

In der Einleitung zu diesem Kapitel habe ich gesagt, dass eines der Hindernisse für das Verständnis von IA darin besteht, dass es viele unterschiedliche Ansätze der IA gibt, die komplizierte Namen haben und deren Unterschiede nicht immer klar sind. Wie ich aus meiner eigenen Lehrerfahrung weiß, ist es für viele Studierende sehr schwierig, ihren Weg durch diesen Begriffsdschungel zu finden. Andere kommen hingegen mit einer festen Überzeugung in meine Lehrveranstaltung, eine ganz bestimmte Methode oder einen spezifischen Ansatz anwenden zu wollen und schneiden ihr Forschungsprojekt dann auf diese Modelle zu. Aber in der IA ist es, wie in der gesamten sozialwissenschaftlichen Forschung, klug, die Methode zu wählen, mit der Sie Ihre Frage beantworten können und nicht umkehrt.

Die häufige Verwirrung über interpretative Ansätze war einer der Gründe, warum ich mich entschlossen habe, mein Buch Meaning in Action: Interpretation and Dialogue in Policy Analysis zu schreiben (Wagenaar 2011).

ICH HABE DAFÜR DIE FÜLLE der Interpretationsmethoden um drei Arten von Bedeutung organisiert: die hermeneutische, die diskursive und die dialogische Bedeutung. Alle drei sind in den allgemeinen Prinzipien der Interpretation verwurzelt, die ich bisher skizziert habe. Sie repräsentieren unterschiedliche Zugänge und Präferenzen von Forscherinnen, die sich mit praktischen Fragen der Interpretation befassen.

Die drei Typen veranschaulichen aber auch beträchtliche methodologische Unterschiede und in einigen Fällen Unterschiede in den erkenntnistheoretischen und sogar ontologischen Prämissen der Interpretation.

Die hermeneutische Bedeutung konzentriert sich auf die Art und Weise, wie sich einzelne Akteurinnen in einem Umfeld gemeinsamer Routinen und eines geteilten Erlebens und Verstehens von Wirklichkeit bewegen, und darauf, wie sie Handlungen und Phänomene im Lichte dieser Routinen und Verständnisse interpretieren. Die Aufgabe der hermeneutischen Forscherin besteht darin, die Handlungen der einzelnen handelnden Personen vor diesem Hintergrund verständlich zu machen. Der wichtigste Ansatz, der sich auf die Rekonstruktion der hermeneutischen Bedeutung stützt, ist die traditionelle qualitative Sozialforschung. Indem ich, wie in meiner oben geschilderten Studie zur Deinstitutionalisierung, Personen befragte oder beobachtete und die Interviews einer induktiven, fundierten Analyse basierend auf den Prinzipien der Constructivist Grounded Theory (Charmaz 2014; siehe auch Kapitel 9 und 10) unterzog, konnte ich erklären, wie es zu den häufigen [44] Wiedereinweisungen von Patientinnen in Chicago kam. Die narrative Analyse (die Analyse der Geschichten, mit denen Menschen die Realität strukturieren) basiert ebenfalls auf hermeneutischer Bedeutung.

Die diskursive Bedeutung konzentriert sich auf die großen sprachlich-praktischen Rahmen, die, meist unbemerkt von einzelnen Akteurinnen, die Kategorien und Objekte unserer Alltagswelt ausmachen. Um bei meinem Beispiel zu bleiben: Die Versorgung in psychiatrischen Kliniken erfolgt durch Berufsgruppen wie Psychiaterinnen und Psychologinnen, die zur Diagnose psychiatrischer Probleme das Diagnostische und statistische Handbuch für psychische Störungen verwenden. Dieser Komplex von Institutionen, Berufen, Sprache und Instrumenten bildet die Perspektive, durch die unsere Gesellschaft psychische Erkrankungen versteht und auf sie reagiert. Wenn ich von einem „Rahmenwerk“ spreche, dann ist es dieser Komplex, den ich vor Augen habe. Solche Rahmen wirken sowohl als Raster von Möglichkeiten (indem sie bestimmte Praktiken und Überzeugungen möglich, natürlich und selbstverständlich machen) als auch als konzeptuelle Horizonte (indem sie andere Praktiken und Überzeugungen unverständlich, bizarr oder unrechtmäßig scheinen lassen). Die Aufgabe der Forscherin liegt in der Klärung der Frage, wie diese unbemerkten Raster historisch entstanden sind und wie sie Akteurinnen einschränken oder befähigen, oft auf schleichende Weise.

Der Fokus auf die diskursive Bedeutung ist ein sehr wichtiger Ansatz innerhalb der IA. Er umfasst die genealogische Analyse, für die der französische Philosoph Michel Foucault die Grundlage legte. In der Genealogie ist die zu erfassende Bedeutung gleichsam über ein breites Spektrum von Institutionen verteilt, die gemeinsam die Art und Weise, wie wir die Gesellschaft erfassen, gestalten und aufrechterhalten, formen. So entstand beispielsweise der Komplex psychiatrischer Krankenversorgung langsam ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts. Davor wurden Menschen mit psychiatrischen Problemen als „Besessene“ gesehen, die von bösen Geistern überwältigt oder einfach nur „verrückt“ waren. Sie wurden unter entsetzlichen Bedingungen in Anstalten eingesperrt, wo sie oft für Zuschauerinnen wie Tiere in einen Zoo ausgestellt wurden. Die genealogische Analyse zeigt, dass das, was wir heute für selbstverständlich halten, in Wirklichkeit das Ergebnis einer Vielzahl von Entscheidungen und sozialen Innovationen ist, die das Alte langsam verdrängt und durch eine neue Realität ersetzt haben. Die vom Werk Foucaults inspirierte Diskursanalyse ist ein weiterer populärer Interpretationsansatz, bei dem die diskursive Bedeutung im Mittelpunkt steht. In der Diskursanalyse zeichnet die Forscherin nach, wie unser Verständnis sozialer und politischer Phänomene durch die Sprache, in der es zum Ausdruck kommt, geprägt wird (siehe auch Kapitel 12). [45]

Die dialogische Bedeutung schließlich konzentriert sich auf die grundlegende soziale und praktische Natur von Bedeutung. Wie wir gesehen haben, geht der Interpretativismus davon aus, dass Akteurinnen Absichten haben, diese jedoch nicht nur in ihren Köpfen sind und es oft eine Forscherin braucht, um sie zu artikulieren (wie das in der Studie von Dvora Yanow der Fall war). Bedeutung entsteht durch Individuen (Philosophinnen sprechen von „Autorinnenabsichten“) und kann von anderen „gelesen“ werden. Im dialogischen Sinn ist das anders. Da liegt der Schwerpunkt der Analytikerin auf der Frage, wie Bedeutung in der Interaktion zwischen den Akteurinnen und zwischen den Akteurinnen und der Welt in Alltagssituationen konstruiert wird. Die Analyse der Bedeutung wird von den interpretativen Forscherinnen gemeinsam mit den Akteurinnen durchgeführt. „Gemeinsam“ ist manchmal wörtlich zu nehmen wie in der partizipativen Aktionsforschung: Sie verbindet Forschung und demokratische soziale Transformation. Hier arbeiten betroffene Menschen mit professionellen Forscherinnen zusammen, um verwertbares Wissen zu produzieren und sozialen Wandel zu bewirken (Greenwood & Levin 1998).

Schließlich ist ein wichtiger Ansatz, der sich auf dialogische Bedeutung stützt, die Praxistheorie. Eine Praxis ist eine Konfiguration von Kompetenzen (Fachwissen, Fertigkeiten, Know-how), Materialien (Artefakte, Technologien) und Bedeutungen (symbolische Elemente, Ideen, Bestrebungen) (Shove et al. 2012, 29). Eine Praxis, auch wenn sie von Einzelpersonen geübt wird, ist nichts Individuelles, sondern ist vielmehr etwas Soziales. Wenn ich zum Beispiel unterrichte, bin ich es, der die Vorlesung hält und die Prüfungen benotet. Aber ich muss nicht erst neu erfinden, wie ich unterrichte; dafür gibt es etablierte Modelle und Formate, an denen ich mich anlehnen kann – auch wenn ich es nicht formal gelernt habe. Unterrichten ist eine Praxis. Sie besteht aus meinen Fähigkeiten und Erfahrungen im Unterrichten großer Klassen, im Entwickeln einer Prüfung, in der fairen Benotung etc. Wenn ich an der Universität ankomme, betrete ich einen Hörsaal mit Sitzreihen, einem Beamer, einem Computer und einer Tafel. Sie, die Studierenden, betreten den Hörsaal in der Erwartung, dass ich mein Bestes tun werde, um Ihnen Wissen zu vermitteln, Ihre Fragen zu beantworten, und dass von Ihnen erwartet wird, dass Sie irgendwann bewertet werden, wie gut Sie sich dieses Wissen zu eigen gemacht haben. All dies zusammengenommen bildet die Praxis des Lehrens.

Die Bedeutung der Praxistheorie liegt darin, dass sie sich der Welt als ein Bündel verschachtelter Praktiken nähert. Durch eine Praxis interagieren wir mit einer unberechenbaren und unbestimmten Welt. Unser Wissen über diese Welt ist selbst „praktisch“, das heißt, es entsteht aus unseren Interaktionen mit einer widerspenstigen Welt – eine Tatsache, die in einem [46] universitären Umfeld, in dem es meist um abstraktes Wissen geht, oft vergessen wird (Cook & Wagenaar 2012).

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die IA ist ein sehr fruchtbarer Ansatz in der politikwissenschaftlichen Forschung. Im Gegensatz zu dem, wie sie in Methodenlehrbüchern oft beschrieben wird – nämlich bestenfalls als eine frühe, explorative, vorwissenschaftliche Phase „echter“ Wissenschaft –, handelt es sich um einen hochwertigen Modus der Wissensgenerierung mit einer eigenen Ontologie und Epistemologie. Der Zweck der IA besteht darin, die Bedeutung von sozialen und politischen Handlungen und Phänomenen zu rekonstruieren. Bedeutung ist dabei kein homogenes Phänomen, sondern umfasst hermeneutische, diskursive und dialogische Bedeutung. Jede dieser Bedeutungsarten hat ihre eigenen Ansätze für die interpretative Forschung hervorgebracht. Der Zweck der IA besteht darin, die Bedingungen für gegenseitiges Verständnis zu schaffen. Man kann sagen, dass die IA damit die Kommunikation zu verbessern sucht. Die IA hat also eine inhärente ethische Haltung, die am besten als Wissensschaffung im Dienst einer egalitären, inklusiven und offenen demokratischen Gesellschaft beschrieben werden kann.

Lernfragen

——Inwiefern ist Bedeutung objektiv?

——Was ist der Unterschied zwischen kausaler und interpretativer Erklärung?

——Was bedeutet Interpretativismus?

——Was ist der hermeneutische Kreis?

——Erklären Sie den Unterschied zwischen hermeneutischer, diskursiver und dialogischer Bedeutung.

Literatur

Bevir, Mark & Rhodes, Rod A. W. (2004). Interpreting British Governance. London: Routledge.

Charmaz, Kathy (2014). Constructing Grounded Theory. London: Sage. Cook, S. D. Noam & Wagenaar, Hendrik (2012). Navigating the Eternally Unfolding Present; Toward an Epistemology of Practice. In: American Review of Public Administration, (42)1, 3 –38.

Coulter, Jeff (1979). The Social Construction of Mind. Studies in Ethnomethodology and Linguistic Philosophy. London: Macmillan. [47]

Fay, Brian (1996). Contemporary Philosophy of Social Science. Malden: Blackwell.

Figlio, David; Karbownik, Krzysztof; Roth, Jeffrey & Wasserman, Melanie (2019). Family disadvantage and the gender gap in behavioral and educational outcomes. In: American Economic Journal: Applied Economics, 11(3), 338–381.

Geertz, Clifford (1973). The Interpretation of Cultures. New York: Basic Books. Geertz, Clifford (1983). Local Knowledge: Further Essays in Interpretive Anthropology. New York: Basic Books.

Greenwood, Davydd & Levin, Morten (1998). Introduction to Action Research. Social Research for Social Change. Thousand Oaks: Sage.

Shove, Elizabeth; Pantzar, Mika & Watson, Matt (2012). The Dynamics of Social Practice. Everyday Life and How It Changes. London: Sage.

Wagenaar, Hendrik (2011). Meaning in Action: Interpretation and Dialogue in Policy Analysis. Armonk: M. E. Sharp.

Yanow, Dvora (1996). How Does a Policy mean? Interpreting Policy and Organizational Action. Washington D. C.: Georgetown University Press.

Weiterführende Literatur

Münch, Sybille (2015). Interpretative Policy-Analyse. Eine Einführung.

Wiesbaden: Springer VS.

Yanow, Dvora (2000). Conducting interpretive policy analysis. Thousand Oaks: Sage.

Yanow, Dvora & Schwartz-Shea, Peregrine (2015). Interpretation and method: Empirical research methods and the interpretive turn. London: Routledge. [48]

Qualitative und interpretative Methoden in der Politikwissenschaft

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