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Dort in der Küche – Tisch, Stühle, Kochstelle, Waschbecken, Unterschrank – legte die ebenso gütige wie schlecht gelaunte Nachbarin nun richtig los. Sie redete die Einsamkeit fort. Die Kinder waren ihr Publikum: Sie schimpfte wie ein Rohrspatz. Meckerte und zeterte. Auf das Wetter, den Krieg, der nichts gebracht hatte, den Frieden, der auch nichts brachte, außer höhere Kartoffelpreise, den Bäcker, der nicht mehr anschreiben ließ, die Jugend im Allgemeinen und ihre Enkelkinder im Besonderen, die entweder tot oder fort waren, sie jedenfalls nie besuchten. Sie ließ auch an Helenes Mutter kein gutes Haar, verurteilte deren Lebenswandel, ihr Aussehen und ihre Erziehungsmethoden, kommentierte das fehlende Benehmen der Kinder, die Kleidung und deren düstere Zukunft. Dabei kochte sie unablässig Mehlsuppe. Von Männern hielt die Alte absolut gar nichts. Die kamen bei ihr nicht gut weg. Kein Einziger. Helene war ziemlich froh, dass sie hier alle Mädels waren. Sie war nicht sicher, ob sie sonst immer wieder hereingelassen worden wären.

»Vertraut niemals einem Mann. Ganz gleich, wie sehr er euch Honig ums Maul schmiert, seid auf der Hut. Wenn es drauf ankommt, gönnt er euch nicht mal das Schwarze unter den Fingernägeln. So sind se, die Mannsbilder. Beknackt oder verschlagen, ick weeß nich, wat schlimmer is.« Während sie sich ereiferte, wurde ihr fast zahnloser Mund noch schmaler.

Schnell drehte Helene den Kopf weg. Sie wollte auf keinen Fall sehen, wie die alte Frau beim Reden Speichel versprühte. Nicht jetzt. Nicht beim Kochen. Helene krampfte die Hände fest um den Stuhlsitz. Gleich würde die Suppe fertig sein.

»Nicht mal in die verdammte Kirche kann man jehen, überall sind die Bänke weg, Feuerholz halt …« Helene versuchte sich die verhärmte Nachbarin demütig vor dem Kreuz niederkniend vorzustellen, es gelang ihr nicht. Sicher hätte sie noch Jesus die Leviten gelesen. Schließlich war er ein Mann gewesen. Irma grinste zu ihr herüber; sie schien ihre Gedanken zu lesen.

Schon in der Vergangenheit war es oft genauso vonstattengegangen: Frau Schulze redete und redete und schimpfte und prangerte an. Aber nach jedem Wortschwall kam etwas zu essen auf den Tisch. Das war der Preis: Zuhören gegen Futter. Worte schlucken für Suppe. Helene war es recht.

»Kann eure Mutter nicht für euch sorgen? Oder du, als Älteste?« Die Alte wartete keine Antwort ab. »Na, an dir is ja ooch nüscht dranne.« Sie hustete – es klang nicht gut.

»Nee? Dann müsst ihr ins Armenhaus, in ein Kinderheim …« Ein zu Tode erschrockener Blick von Irma traf Helene. »Wo soll denn das hinführen? Ich kann doch nicht eine ganze Kinderschar mit durchfüttern, fremde Kinder, … wo eins ist, da sind die anderen nicht weit.« Die alte Nachbarin war bei ihrem Lieblingsthema angekommen: Sich selbst …

»Nun ist das Kind in’ Brunnen jefallen«, flüsterte Helene grinsend.

Susi schaute dumm aus der Wäsche. »Welches Kind is in’ Brunnen gefallen?«, wollte sie angstvoll wissen. »Das arme Kind …«

Doch Irma lachte nur: »Flitzpiepe! Nicht in echt. Dit sagt man nur so …«

»Echt?«, entgegnete Susi gleichermaßen erleichtert wie entrüstet.

»Nee, nicht echt«, antwortete Irma. Die Verwirrung war perfekt.

Die Greisin setzte erneut an: Nun verfiel Frau Schulze in ihren leidenden Tonfall, eine Moritat auf das Leben, ein klagender Singsang. »Und ich bin selbst eine arme alte Frau, seht euch diese Hände an, ick hab nichts und niemanden – und dann wird man noch belästigt, ständig von hungrigen Mäulern, als hätte ich genug zu essen.« Sie lachte bitter.

Helene rutschte auf ihrem Sitzfleisch herum … Aushalten. Aussitzen. Nur nicht widersprechen, das würde die Litanei nur verlängern. Auf Durchzug schalten. So würde Helene es auch heute halten. Noch herrschte die Vorstufe der Zurechtweisungen und Lebensweisheiten. Noch waren Pausen zwischen Frau Schulzes Ausbrüchen vorhanden. Doch schon bald war die Gnade der Stille vorbei.

Als die Suppe fast fertig war, verlegte sie sich aufs Lamentieren. Sie jammerte erneut über das Wetter, die leere Speisekammer und dass die Welt so ungerecht sei. »Ein Hort des Übels, wir alle dazu verdammt auszuharren, bis wir elendig krepieren«, war ihr Lieblingsspruch.

Irma hatte sich heimlich Watte in die Ohren gestopft, Susi schwankte mit Tränen in den Augen angesichts der furchtbaren Dinge, von denen Frau Schulze so gern sprach, zwischen Fluchtimpuls und Vorfreude auf die warme, nahrhafte Suppe, die vielversprechend auf dem Herd brodelte.

»Gleich ist sie fertig«, versuchte Helene Susi zu trösten und wusste selbst nicht, ob sie Frau Schulze oder die Suppe meinte. Die alte Frau guckte böse, doch stellte sie bereits Brot und Butter auf den Tisch. Echte Butter. Dafür lohnte sich das Aussitzen. Darauf folgte Marmelade, Mehlsuppe, Tee, Pfefferminz mit ein paar Krümelchen Zucker, es folgte Kohl auf Dauerwurst und ein paar kleine Kartöffelchen – ohne Augen diesmal – kamen hinzu. Diese wurden mit einem Schluck Milch für das Baby gequetscht, dabei schimpfte sie ohne Unterlass und in ansteigender Lautstärke. Sie schimpfte auf Gott und die Welt.

Den Kindern klingelten die Ohren. Sie aßen und schwiegen, bemühten sich, nicht zu schmatzen und gerade zu sitzen. Helene zählte die Minuten und passte auf, dass keiner zu kurz kam. Es stimmte: Hunger war der beste Koch. Helene lernte stets eine Menge neuer Worte bei Frau Schulze, ansonsten aber waren sie heilfroh, wenn sie satt und dankbar, aber ungeduldig und mit Hummeln im Hintern Frau Schulzes dunkles Reich der Lamenti wieder verlassen durften. Bis zum nächsten Mal.

Die beiden Ältesten, Helene und Irma, handelten sich noch Schelte ein, als sie versuchten, sich nützlich und den Abwasch zu machen.

»Alles verkehrt«, rief Frau Schulze vorwurfsvoll und warf die Hände in die Höhe, als würden die Kinder ihre Suppenteller mit Dreck einreiben. »Viel zu viel Wasser«, schimpfte sie. »Und überhaupt, weg da!« Unsanft schubste sie die beiden von der Stelle vor der Spüle und nahm selbst deren Platz ein.

Ratlos standen die Schwestern herum und schauten den arthritischen Fingern bei der Arbeit zu. Als die Nachbarin dies bemerkte, schnalzte sie verächtlich mit der Zunge.

»Ihr steht euch die Beine in den Bauch, in meiner Küche! Faulenzer brauche ich hier nicht. Atmen nur den Sauerstoff weg. Wollt ihr endlich nach Hause gehen? Sonst macht ihr noch was kaputt. Husch, husch. Macht, dass ihr rauskommt und zieht die Tür ordentlich zu, verstanden?!« Ihr Befehlston duldete keinen Widerspruch. Sie hatte genug Gesellschaft gehabt für heute. Zeit zum Rückzug. Nichts lieber als das …

Gern hätten sich die Schwestern trotz der harschen Worte der Nachbarin irgendwie erkenntlich gezeigt, doch keiner von ihnen fiel etwas Gescheites ein. Also stammelten sie wie die Orgelpfeifen ein verschämtes »Danke sehr«, Irma deutete sogar so etwas wie einen Knicks an und sie machten sich samt Baby daran, sich wieder in die oberen Etagen des zugigen Mietshauses zu verkrümeln.

»Nüscht wie raus hier, sonst steckt uns die alte Hexe noch in den Ofen«, zischte Irma Helene zu, aber diese hatte Frau Schulzes Augen glänzen gesehen, als sie Irmas Knicks sah. Helene hoffte, dass sie wiederkommen durften. Und das war im Moment alles, was zählte.

Sie brauchten frische Luft. Nun, mit gefüllten Bäuchen, sah die Welt gleich anders aus. Sogar das Baby gluckste angesichts des glitzernden Neuschnees auf den Laternen. Immer noch ragten Ruinen wie faule Zähne in die Luft. Kindergeschrei. Schneeflocken. Die Kräfte kehrten zurück und damit der Spieltrieb … Nicht lange, und es war eine wilde Schneeballschlacht im Gange. Da blieb kein Auge trocken. Auch einige der Passanten bekamen eine Fuhre Schnee in Kragen oder Schlimmeres.

»Saubande!«, »Verdammte Jören!«, fluchten sie.

»Kollateralschaden«, kommentierte Irma dies nur trocken. Und weiter gings. Als ihnen die Nässe jedoch langsam durch Kleider und Fäustlinge drang, beschlossen sie, sich oben trockene Klamotten anzuziehen, die Kleine zu wickeln und Margot abzuholen. Die hatte immer eine Idee, wo man etwas abstauben konnte. Und schließlich war auch die Mittagszeit schon nicht mehr weit.

Meine Berliner Jugend

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