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Sie bogen in den Hof einer ehemaligen Schuhfabrik ein und sahen zu den Hammerschmidts im ersten Stock hoch, Aufgang drei. Früher hatten sie in den alten Osramhöfen gewohnt, doch waren sie wegen Mietschulden rausgeflogen. Beim Umzug im vorletzten Frühling hatte Margot noch gewitzelt, als sie die Höfe verlassen hatten: »Bei Osram jeht det Licht aus.« Im Sommer hatten sie hier stundenlang zu fünft Kirschkernweitspucken gespielt, bis sie von den vielen Kirschen Bauchweh bekommen hatten.

Helene begann, Steinchen gegen das Küchenfenster zu werfen, während Irma sich bereits auf die Teppichklopfstange geschwungen hatte und Susi heulend davorstand.

Sie meckerte: »Ick komm nich hoch.« Sie streckte die Ärmchen aus. »Hilf mir, ick komm nich hoch«, jammerte sie. Die beiden älteren Schwestern ignorierten sie jedoch geflissentlich. Helene suchte weitere Kiesel, die sie werfen konnte, Irma turnte. Sie griente Susi an, die immer noch unten stand und hinaufwollte: »Da biste Neese …«

Susi schnaubte: »Du hast gleich Sendepause, wart nur ab!« Sie sprang und kletterte, doch schaffte es nicht hochzukommen.

»Jetzt mach keene Faxen«, erwiderte Irma. »Du bist halt noch zu klein.« Das reizte Susi nur noch mehr … Sie plusterte die Wangen auf und schnaubte wie ein kleiner zorniger Drache.

Als sich Helene das nächste Mal umdrehte, sah sie, wie Susi einen metallenen Ascheimer unter die Stange schob, unbeholfen daraufkletterte und schließlich mit einem breiten Grinsen kopfüber an der unteren Verstrebung der Teppichklopfstange baumelte.

»Schweinebammel«, lachte sie. »Da staunste Bauklötze, wa, Irma?«

Margot kam herunter. »Buh«, erschreckte sie Helene von der Seite her und stach ihr eher schmerzhaft denn kitzelnd in die Taille.

»Ach, du lieber Vater«, rief Helene protestierend. »Du kriegst gleich wat uff die Rübe«, drohte sie ihrer Freundin scherzend.

»Du lahme Ente kriegst mich doch eh nich«, gab Margot zurück und machte einen Satz vorwärts. Helene ließ es gut sein, vorerst. Sie würde ihre Rache schon noch kriegen.

Margots dicke Locken waren größtenteils unter einer schrecklich dilettantisch anmutenden, weil selbst gestrickten Mütze verborgen. Die Farben passten nicht zueinander und ab und zu fehlten gut sichtbar ein paar Maschen. Aber ihr Mantel war spitze! Das fanden auch Irma und Susi, beide nun kopfüber von der Teppichklopfstange hängend und Margot mit großen Augen musternd.

»Wow, du hast ja nen kessen Mantel. Der sieht warm aus und schnieke«, konstatierte Irma.

»Nicht wahr? Hab ich seit letztem Jahr, nachdem Sophie an Diphterie jestorben …« Margot stockte mitten im Satz. Einen Augenblick lang schien sie in ihren Gedanken stecken zu bleiben, dann fing sie sich wieder und sprach weiter. »Na ja, ihr wisst schon; seitdem sie aus dem Krankenhaus nicht mehr rausjekommen is.« Helene konnte sich gut erinnern. Seitdem war Margots Mutter nicht mehr dieselbe, obgleich sie schon in früheren Jahren Kinder verloren hatte, wie so viele Frauen in ihrem Alter.

Margot trat an die beiden Kleinen heran. Die beiden befühlten mit Kennermiene den Mantelstoff, ohten und ahten anerkennend und dann trabten sie los. Es war einfach zu kalt, um lange auf der Stelle stehen zu bleiben – und für dunkle Erinnerungen.

Margot erklärte aufgeräumt: »Ulrich hat dafür meinen Mantel bekommen. Den mit glänzenden Köpfen. Der hat sich ’n Loch in’ Arsch gefreut!« Sie schlug sich auf die Schenkel. »Obwohl ich da damals uff der Kinderlandverschickung reinjekotzt hab …«

Susi kicherte. »Iih!« Ihre unter dem Mützenrand hervorlugenden kurzen Locken wippten bei jedem Schritt. Margot zog konzentriert die Finger durch Susis Haar.

»He Trulla, haste endlich die Zotteln ab?«, fragte sie anerkennend und griff erneut beherzt in Susis Schopf. Diese nickte nur gelangweilt. Viel spannender als Margots Äußerung war der Hausierer vor ihnen auf dem Bürgersteig. Er trug eine alte Melone auf dem Kopf. Sie kamen an seinem Bauchladen vorbei, in dem er allerlei Krimskrams anbot: Salmiak-Pastillen, Streichhölzer, einzelne Zigaretten, keine Schachteln, weil sich die die meisten hier ohnehin nicht leisten konnten, und bunten Tand für die Kinder.

Der fliegende Händler musterte die Kinder gutmütig der Reihe nach. »Wie die Orjelpfeifen«, grinste er. Sie rückten unwillkürlich näher zusammen. »Alle für einen und alle für Dreifuffzig, wat?«, scherzte er, während er an einer Haustür klingelte, um seine Waren feilzubieten. Doch sie waren schon um die Ecke gebogen.

»Na, der verkooft ja mit einem Schisslaweng«, kommentierte Margot den Herrn.

»Ja, der is ne Type!«, befand auch Helene. »Hat det Arbeiten aber nich erfunden, sagt Frau Schulze«, fügte sie hinzu.

Die Ampel sprang auf Grün. Die Kinder waren angekommen: Sie starrten fasziniert auf den Hügel, auf dem es von Ameisen und Käfern nur so zu wimmeln schien. Dutzende Kinder hatten sich dort zum Rodeln versammelt. Susi hielt es kaum noch an Irmas Hand.

»Ick will ooch da hoch«, plärrte sie ungehalten. Helene lächelte. Hannes kam auf sie zu. Sie hatte ihn schon von Weitem erkannt, seinen leicht wiegenden Gang, seine schlaksige Gestalt, das Strahlen in seinen Augen, als er sie erblickte. Sie bekam heiße Wangen und konnte nichts dagegen tun. Doch die Freude währte nicht lange.

»Schlittenfahren is nich«, sagte Hannes betrübt, als er sie erreichte. »Den Schlitten hat mein Vadder neulich zu Brennholz jemacht.« Irma seufzte hörbar, Susi schlug sich die Hand vor den Mund. »Ja leider«, fuhr Hannes fort. »Als er besoffen war, hat er sich noch den halben Finger abjehackt dabei wegen der Kufen …«

Die vier Mädchen machten lange Gesichter, besonders die beiden Kleinen, die sich schon wie verrückt auf eine wilde Sause den Hang hinunter gefreut hatten. »Aber«, setzte er hoffnungsvoll hinzu, – Hannes wäre nicht Hannes, wenn er nicht noch eine Idee in petto gehabt hätte, dachte Helene stolz – »uff dem Ruinenhügel hab ick Klaus und Hans auf ’nem Blech rutschen sehen. Dit war schnell! Vielleicht können wir das auch machen.«

»’N Blech untern Hintern schnallen?« Irma und Helene schauten skeptisch, aber Susi und Margot waren schon Feuer und Flamme. Sie klatschten begeistert in die Hände. Helene und Margot fackelten nicht lange: »Na, dann ma los!«

Auf dem Ruinenberg, entstanden und »auferstanden« – wie der Name schon sagt – aus Ruinen und anschließend immer weiter aufgeschüttet, weil der Schutt ja irgendwo hinmusste in der Stadt, auch »Mont Klamott« genannt, war schon gut was los. Blitzschnell sausten einige Kinder an ihnen vorbei. Rote Wangen und glänzende Augen, hier und da ein verheultes Gesichtchen oder eine verrotzte Nase, wehende Schals und verlorene Handschuhe – im Ganzen ein wildes Durcheinander. Es war prima!

So ein »(be)fahrbarer« Untersatz musste her … Sie suchten fieberhaft nach Blechstücken, die sich als Schlittenersatz eignen würden, doch nichts fand sich. Alles war bereits abgegrast.

Nach einer Weile gaben sie auf und setzten sich betrübt oben am Hang in den Schnee; sie sahen zu, wie sich die anderen bei zum Teil halsbrecherischen Abfahrten köstlich zu amüsieren schienen. Die Stimmung trübte sich.

Plötzlich war Hannes fort. Doch schon wenig später stand er schnaufend vor ihnen, in der Hand ein verbeultes Blech, in dem sich schon die Doppel-Rundung diverser Pobacken abzeichnete.

»Musste ick tauschen«, sagte er. »Hab ick vom dicken Willi.« Die Freude war groß. Doch dann verengte Helene die Augen zu Schlitzen: Mit Schrecken bemerkte sie, dass Hannes keine Handschuhe mehr trug. Das war also der Preis für den Behelfsschlitten gewesen. Auweia.

Doch Hannes verschwendete keine Sekunde, er trauerte nicht seinen warmen Handschuhen nach, sondern packte die Gelegenheit beim Schopfe. Er stiefelte los und raste kurz darauf wie ein geölter Blitz die fast freie Bahn aus festgetretenem Schnee hinunter. Am Fuße des Berges angekommen, schrie er vergnügt: »Das ist spitze! Müssta unbedingt vasuchen. Aber Achtung: Is schnell!«

Nacheinander fuhren sie die Rutschbahn auf dem Blech hinunter und kreischten, lachten und stöhnten. In der Reihenfolge. Beim folgenden Aufstieg rieben sie sich die schmerzenden Hinterteile. Helene nahm Susi zwischen die Beine, währenddessen musste einer oben das Baby halten, das zwischendurch brabbelte und krakelte. Es war anstrengend, es war schmerzhaft, aber aufhören wollte keiner …

»Kiek mal, ’n Eiszapfen«, scherzte Margot, als sie Hannes beobachteten, wie er gedankenversunken gegen einen Baum pinkelte. Er bemerkte ihre Blicke. Zuerst wurde er rot, dann ging er in die Offensive.

»Ja, der da kann sogar schreiben«, protzte er. Er drehte sich ein wenig weg und schwenkte seinen Schwengel von rechts nach links.

»Sütterlin«, grinste Margot. »Ich wette, Herr Jakobs hätte seine wahre Freude an deiner Schönschrift«, höhnte sie. Das wagte Helene zu bezweifeln, warnte aber Susi ein weiteres Mal mit Blick auf das pissgelbe Gesamtkunstwerk:

»Und deshalb sach ick immer: Iss niemals jelben Schnee!« Ihr eigenes Gelächter ließ sie die Welt und deren Sorgen ein Weilchen vergessen, was schon mehr war, als man sich wünschen durfte. Helene sprang auf, um noch ein paar Runden den Ruinenberg hinunterzurutschen. Wann, wenn nicht jetzt … Ein Augenblick zum Durchatmen, das musste man nutzen, denn solche Momente waren rar in ihrer Welt.

Gerade als sie eine Pause einlegen mussten, das Baby und Susi mussten auch bald mal wieder ins Warme, passierte es. Ein spitzer Aufschrei, dunkelrote Spritzer und dann sahen sie ihn: Hannes stand zitternd unten am Hang und hielt die Hände vor sich. Blut tropfte in den Schneematsch. Jemand kreischte. Von seinen rot gefrorenen Fingern tropfte es sehr schnell hinunter; dunkle Rinnsale liefen ihm in die Jackenärmel. Erschrocken rannten sie zu ihm hin; Helene schluckte.

»Ach du heiliger Bimbam!« Susi weinte, Irma hielt sich die Augen zu. Helene zog rasch ihre Strickjacke aus und band sie Hannes so fest sie konnte um die Hände. Er wehrte sich nicht, stand einfach kreidebleich da und guckte durch sie hindurch. Er stand unter Schock. Er hatte noch gar nicht recht begriffen, was passiert war: Hannes hatte sich die Hände an den scharfen Kanten am Blech aufgeschnitten. Das sah gar nicht gut aus. Er musste schnell zu einem Erwachsenen, am besten zu einem Arzt. N Praktischer, ne, n Unfallchirurg wäre am besten … Gabs hier nich, nur inner Klinik. Det war zu weit. Helene wusste von einem der letzten Besuche mit dem Baby, dass hier um die Ecke der Kinderarzt Busemann saß. Es war zwar Samstag, aber er wohnte direkt über seiner Praxis, vielleicht hatten sie Glück, und er war da.

Sie gab Margot das Baby und führte und stützte Hannes auf dem kurzen Weg.

»Ich war so schnell, so schnell«, wiederholte Hannes wieder und wieder und starrte dabei auf seine eingepackten Hände, deren tiefe Wunden an einigen Stellen die Strickjacke bereits dunkel durchweicht hatten. Verdammt, ging das schnell. Wenn sie nicht bald ankämen, würde er umkippen. Er war schon jetzt weiß wie die Wand.

Helene griff ihm fester unter die Arme und zog ihn mit sich die Straße hinunter. Sie rief Margot, Susi und Irma nur zu, wohin sie gingen, dann lief sie mit Hannes vor. Sie schleifte und trug ihn halb bis zur Tür. Durchgeschwitzt und mit letzter Kraft kamen sie an der Praxis an. Das Emailschild neben der »Papier-Schreibwaren-Lederhandlung« an der Hauswand wies die Sprechzeiten des Mediziners aus und bat um Voranmeldung.

Sie klingelte Sturm und hoffte das zweite Mal an diesem Tag, dass der liebe Gott … oder wer auch immer – ein Einsehen mit ihnen haben und die Tür öffnen würde. Doch nichts rührte sich. Hannes blutleere Lippen formten stumme Worte. Panisch haute sie auf den Klingelknopf, als würde dies irgendetwas ändern.

Hannes war schon halb an der Wand hinabgesunken und murmelte vor sich hin. Seine Wangen hatten noch mehr Farbe verloren und die Jacke war nass vom Blut. Kinder haben einen Schutzengel, sagt man, in diesem Fall kam er keine Sekunde zu früh: Endlich ging die Tür auf. Helene hievte den wankenden Hannes in den dunklen Hausflur. Im Morgenmantel und mit Hauspantoffeln an den Füßen, empfing sie der kleine weißhaarige Mann in der Tür seiner Erdgeschoss-Praxis. Er roch nach Rasierwasser und Schlaf. Sein Gesichtsausdruck wechselte von Verärgerung zu Besorgnis, man sah förmlich, wie er die Worte, die er ob der ungehörigen Störung auf der Zunge hatte, wie Brocken trockenen Brots hinunterschluckte und sich augenblicklich vom unsanft Geweckten in den verantwortungsvollen Arzt verwandelte. Er half Helene, Hannes rasch in den Praxisraum zu ziehen. Zusammen legten sie ihn auf den Behandlungstisch. Mit fachkundigen Griffen löste der Arzt umgehend die wollene Jacke von den Händen. Blutige Fäden verklebten Haut und Kleidungsstück, es sah furchtbar aus. Erst jetzt wurde Helene klar, wie schlecht es auch ihr ging. Sie atmete schwer.

»Was ist passiert?«, fragte der Arzt. Die Wunden sahen schauderhaft aus. Als Helene das klaffende, verrutschte Fleisch sah, wurde ihr übel. Matt setzte sie sich auf den Boden und lehnte den Kopf an einen Stuhl.

»Schlitten, Blech …«, stammelte sie schwach. »Geschnitten.«

Doktor Busemann musterte sie kurz und forderte sie auf, sitzen zu bleiben. »Jetzt kipp nich aus’n Latschen, Mädchen.« Er sah sie durchdringend an. »Atme tief ein und aus und schau aus dem Fenster. Hör auf die Vögel, Autos, irgendwas … Um dich kümmere ich mich gleich. Aber jetzt muss ich das säubern und nähen. Und zwar sofort. Ich hoffe, es ist keine der Sehnen durchtrennt.« Er machte sich an die Arbeit, flink wie ein Wiesel, präzise wie ein Uhrmacher.

Helene atmete die zimmerwarme Luft und schaute bewusst woanders hin. Allmählich fühlte sie sich ein wenig besser. Das Herz klopfte nicht mehr ohrenbetäubend in ihren Ohren, die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück.

Der Arzt bemerkte es prompt und forderte: »Komm her«, sagte er drängend, »ich brauche deine Hilfe.« Vorsichtig erhob sie sich. Der Boden unter ihr schwankte nicht mehr. »Steh langsam auf, strecke die Arme nach vorn und strecke und beuge deine Finger, das unterstützt den Kreislauf. Halte dich am Tisch fest,« wies er sie an. »Und nun reich mir die Flasche da drüben, ja, und die Schere und neue Tupfer.«

Als sie ihm mit unsicherer Hand die verlangten Utensilien gereicht hatte und anschließend wie gewünscht Hannes Ellenbogen auf dem Tisch festhielt, wagte sie erstmalig, wieder einen Blick in das Gesicht des Freundes zu werfen. Es war aschfahl, unheilvolle lila Schatten hatten sich unter seinen Augen gebildet und er atmete flach und stoßweise. Sein Bewusstsein hatte er glücklicherweise verloren. So musste er die Schmerzen nicht ertragen, hoffte sie.

»Ich bin doch keen Chirurg«, schimpfte der Arzt leise, während er gewissenhaft mit seinen Gerätschaften hantierte und seinen Patienten dabei keine Sekunde aus den Augen ließ. Seine dicken Augengläser verliehen ihm ein gnomenhaftes Aussehen. »Fühl seinen Puls, ja, genau da …«, verlangte er von Helene, die gleichzeitig versuchte, tapfer zu sein und die Tränen hinter den Augen zurückzuhalten.

Was war das auch für eine bekloppte Idee gewesen!, schalt sie sich selbst. Doch es half nichts. Alles, was sie nun tun konnte, war für Hannes da zu sein, so gut sie konnte. Sie biss die Zähne zusammen und strengte sich mächtig an.

»Erledigt, jetzt müssen wir ihn gut beobachten.« Doktor Busemann wusch sich gründlich die Hände, setzte sich und nahm eine Flasche zur Hand. Er kippte sich ohne Umschweife einen Schnaps ein, einen doppelten. Seine Füße steckten noch immer in grünen Filzpantoffeln. »Das war ja was«, sagte er. »Ein Glück, dass ihr gleich hergekommen seid.«

»Und dass Sie da waren«, erwiderte Helene.

»Ja«, nickte er bedächtig. Und bot Helene auch einen Fingerhut voll Schnaps an.

»Nein, danke.« Es klingelte. Helene fuhr zusammen. Draußen stand rotnasig und verfroren von einem Bein aufs andere tretend der Rest der Bagage. Mein Gott, die hatte sie ganz vergessen! Der Doktor winkte sie rasch herein.

»Wir wollten nicht stören«, stammelte Margot verlegen. Der bärtige Arzt schüttelte nur milde den Kopf. »Wir sind fertig.«

»Wie geht es ihm?« Margot musterte die Szenerie, wickelte dabei behutsam das Baby aus, das sie geschickt unter Schichten aus Stoff an ihrem eigenen Körper warmgehalten hatte. Das friedlich schlafende Gesichtchen der jüngsten Schwester trieb Helene plötzlich die Tränen in die Augen. So rosig und weich. Sie sah der kleinen Renate so ähnlich.

Die Erinnerung an damals versetzte Helene einen heftigen Stich: Renates Fingerchen hatten sich genauso um ihre Finger gelegt, sie hatte Helene, damals selbst erst sechs Jahre alt, mit ihren großen Augen gemustert, wenn sie ihr etwas erzählt hatte. Zarter Flaum war auf ihrem Kopf gewachsen, der den Abdruck der noch nicht zusammengewachsenen Fontanellen ahnen ließ, wenn man genau hinsah. Helene hatte so gern darübergestrichen, so weich, so musste sich reine Seide anfühlen.

Eines Abends war Helene wieder allein mit ihr gewesen, mit Renate, ihrer allerersten Schwester, ein kleines Würmchen von erst wenigen Monaten. Oma war ihre Schwester besuchen gefahren. Das tat sie nur selten. Und dieses Mal wollte sie gar nicht gehen, bis Helenes Mutter sie kurzerhand aus der Tür geschoben hatte.

»Nu mach schon, je früher du gehst, desto eher biste wieder da.« Oma hatte widerwillig genickt, ihre Tochter hatte ja recht, und dennoch: Sie hatte so ein ungutes Gefühl in der Magengegend, wie damals, als Opa Willy zum Angeln aufgebrochen und nicht mehr wiedergekommen war. Ihr Magengrummeln konnte allerdings auch von den alten Eiern herrühren, die sie heute Morgen gegen ihren Mantel eingetauscht hatte. Aus diesem Grund trug sie nun – sie sah etwas verwegen aus, aber das störte sie nicht im Geringsten – drei Jacken, zwei davon Strickjacken, übereinander. »Lieber warm als schön«, pflegte sie jeder Art von spöttischen Kommentaren den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Sie setzte einen Fuß vor den anderen, redete sich selbst gut und zu, doch das Gefühl dumpfer Angst blieb. Alles in ihr sträubte sich an diesem Tag, ihre beiden Enkelinnen zu verlassen.

»Ick bin doch da, Mutter«, versuchte ihre Tochter Großmutters Zweifel zu zerstreuen, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. Wieder nickte die alte Frau mit dem faltigen Hals und den lebendigen grauen Augen. Helene konnte in ihrem Gesicht ablesen, wie Herz und Kopf miteinander rangen.

Nach kurzem Zögern hatte Oma ins Zimmer hineingeschaut und gesagt: »Ick bring euch wat Schönet mit.« Es klang, als wolle sie sich selbst beruhigen. Diese dunkle Vorahnung ließ sich nicht abschütteln. Doch allein der Gedanke an ihre leidende Schwester und an etwas Handfestes im heimischen Kochtopf für die nächsten Tage – dort auf dem heruntergekommenen Hof vor der Stadt gab es immer noch mehr als hier – ließ sie schließlich doch gehen. Helene winkte ihr nach und freute sich schon auf Äpfel, Birnen, Käse oder Kaninchenkeulen, je nachdem wie erfolgreich Oma auf dem Land sein würde.

Als die Großmutter aus dem Haus war, wurde es ruhig. Zuerst flocht Helene ihrer Puppe versonnen die Haare, die aus schlammfarbenen Wollfäden bestanden, sang ihr vor und lauschte den vertrauten Geräuschen im Mietshaus. Ein Scheppern, ein Fluch, Gespräche, Wasser lief, irgendwo bellte ein Hund. Die Stunden vergingen, es begann zu dämmern.

Inzwischen war sie längst allein gelassen worden mit Renate. Eine Frau hatte circa zwei Stunden nach Omas Aufbruch an die Tür geklopft und ihre Mutter mit eindringlicher Stimme um Hilfe gebeten. Seitdem war Mutter unterwegs. Helene wusste nicht, wo. Aber sie wusste, was sie bei Renate, ihrer Minischwester, zu tun hatte, das hatte sie schon oft getan: Wickeln, im Arm halten, Fläschchen geben. Doch in den letzten Stunden hatte Renate immer nur geschrien. Helene hatte sie herumgetragen, ihr vorgesungen, sie im Nacken gekitzelt, wie sie es sonst so gern mochte. Doch Renates Gesichtchen war immer röter geworden. Ihr kleiner Körper immer heißer und Helene immer verzweifelter.

Als es dunkel wurde, nahm sie also, wie es ihr aufgetragen worden war, die schwere Glasflasche zur Hand und setzte den Nuckel darauf. Sie prüfte die Temperatur der Milch, damit sich ihre Baby-Schwester nicht den Mund verbrannte. Das hatte Mama ihr genau gezeigt. Schon vorhin hatte Renate nichts trinken wollen, ihre verquollenen Augen waren nur noch Schlitze, so sehr strengte sie das Schreien an.

Helene wandte sich Renate zu, die gefühlt seit Tagen weinte. Unterbrochen wurde ihr Schreien heute nur von immer öfter einsetzenden jämmerlichen Hustenanfällen. Sie soll viel schlafen, damit sie gesund wird, hatte Mama gesagt. Essen und schlafen, das würde helfen, vielleicht. Das Baby aber drehte den Kopf zur Seite, presste den Mund zusammen.

»Du musst doch was essen«, versuchte Helene ihrer kleinen Schwester gut zuzureden. Renate ballte die Fäustchen und öffnete wieder den Mund. Das nutzte Helene, steckte den Nuckel in das Mündchen und Renate trank, schluckte und schluckte. Endlich schrie sie nicht mehr. Helene fielen selbst schon halb die Augen zu, den ganzen Tag war sie auf den Beinen gewesen. Und hungrig war sie auch, sehr sogar.

Nun wurde es endlich besser, stiller. Renate weinte nicht mehr. Sie hustete nicht mehr. Sie war eingeschlafen. Helene legte die kleine Schwester in ihr Bettchen. So friedlich sah sie aus im Halbdunkel des Zimmers. Helene selbst schlief auch, neben ihrer Schwester wie eine Schnecke eingerollt, bis Mama kam. Die sah sie an, sah Renate an, riss das Baby aus dem Bett, schüttelte es, schrie und weinte dann. Helene war plötzlich hellwach. Renate schlief nicht. Sie atmete nicht mehr. Ihre Schwester war erstickt, wahrscheinlich beim Trinken.

Ein Polizist kam. Er sah Helene ernst an, ließ sich alles erzählen, befragte die Mutter und ging dann wieder – kopfschüttelnd und mit feuchten Augen. Renate wurde nicht zurück in ihr Bettchen gelegt, nie wieder. Sie steckten sie in eine kleine Kiste und brachten sie fort. Ihr neues Zuhause war auf dem Friedhof an der langen Mauer zur Straße hin. Das hatte ihr Mama später erklärt. Renate würde nie wieder in Helenes Armen liegen, nie wieder mit den Ärmchen rudern und Babygeräusche machen.

Als Oma später erfuhr, was geschehen war, raufte sie sich die Haare, die über Nacht weiß geworden waren, und kam nie darüber hinweg, dass sie nicht auf ihr Bauchgefühl vertraut hatte.

Helene ging noch oft an dieser hohen Mauer des Friedhofs vorbei und kämpfte mit den Tränen, weil sie es sich ganz furchtbar vorstellte, allein in einer dunklen Holzkiste schlafen zu müssen, ohne Mama, ohne Oma, ohne sie. Helene hatte lange nicht recht verstanden, was damals genau geschehen war, und vermied es jetzt tunlichst, daran zu denken. Doch noch immer fühlte sie sich schuldig, wann immer sie an Renate dachte, noch immer versuchte sie, an ihren Schwestern etwas wiedergutzumachen.

Die Kinder saßen beim Doktor und warteten. Hannes leichenblasses Gesicht zeugte von den Strapazen der letzten Stunden.

»Ist es sehr schlimm?«, wollte Margot wissen. Der Doktor schaute ernst drein.

»Es geht ihm den Umständen entsprechend gut«, sagte er. Und: »Ja, es ist schlimm.« Seine Patienten und deren Angehörige belog er nur im äußersten Notfall. Er war für die Wahrheit. Die kam im Alltag viel zu kurz seiner Meinung nach, vor allem in diesen Zeiten, selbst bei den Kindern.

Margot musterte Hannes erneut eindringlich, besah sich seine dick bandagierten Hände. »Wird er wieder … gesund?«

Vereinzelte Haare hingen dem Arzt in die hohe Stirn. »Ja, ich denke doch. Er ist jung und kräftig. Aber – wenn du die Finger meinst, ich bin mir nicht sicher, ob er seine Hände wieder so bewegen können wird wie früher.« Sie lauschten seinen Worten bestürzt. »Bei einigen Fingern waren die Sehnen verletzt, ich habe getan, was ich konnte«, fügte er hinzu. »Wir könnten ihn noch immer in ein Krankenhaus bringen, aber erst, wenn er stabiler ist.«

»Nee«, schüttelte Margot den Kopf. »Da werden die doch erst richtig krank. Kriegen Typhus oder Tuberkulose oder Lungenentzündung. Von denen, die reingehen, kommt die Hälfte nicht wieder heraus, sagt mein Opa. Und bei meiner Schwester war es genauso.«

Der Arzt nickte kaum merklich, Helene war sich einen Augenblick lang nicht sicher, ob sie richtig gesehen hatte. Der Moment verstrich. »Da hat dein Opa leider nicht ganz unrecht, aber die Versorgung wäre dort besser. Vielleicht würden sie nachoperieren.« Er wirkte nachdenklich.

Margot schwitzte nun vor Aufregung: »Aber, das können Sie doch jetzt übernehmen: Verband wechseln und so. Sie haben doch eh schon jetzt …« Sie unterbrach sich selbst, rotgesichtig und sichtlich aufgebracht. »Ich mein ja nur, heilen muss es doch jetzt ohnehin von allein, oder?«

Dr. Busemann nickte: »Ja, im Prinzip schon.«

»Na also. Und gesäubert muss es werden, und falls wirklich nachoperiert werden muss, können wa immer noch ins Krankenhaus gehen, oder?« Margot ereiferte sich immer mehr und sah mich flehentlich an. »Ihr wollt doch auch nicht, dass er ins Virchow oder so kommt, wo es eh nix jibt und die ganzen Kriegsversehrten da tagsüber stöhnen und nachts schreien? Wie soll er denn da jesund werden? Ick war da, ich weiß, wie es da ist.« Margot weinte jetzt. Helene versuchte sie zu trösten, doch sie ließ sich nicht beruhigen. »Bitte Dr. Busemann, Sie sind doch Arzt, Sie können dit, ich will nicht, dass er doch noch stirbt.«

Der Arzt schüttelte unwillig den Kopf, stand auf und kehrte ihnen den Rücken zu. »So einfach ist das nicht«, sagte er. »Er braucht Medikamente …«

»Die besorgen wir schon«, warf Margot leidenschaftlich ein. »Also, die bezahlen wir schon«, korrigierte sie sich.

Der Arzt sah sie an, einen nach dem anderen. »Wie Pech und Schwefel, wa?«, lächelte er. Er seufzte vernehmlich. Dann stimmte er zu. »Gut, wenn seine Eltern einverstanden sind, übernehme ich die Nachsorge.«

Helene hätte ihn umarmen mögen, Margot tat es einfach. Danach schmierte der Arzt Butterbrote für alle und sah nachdenklich aus dem Fenster zum Hof.

Helene brachte die Kleinen nach Hause; ihrer Mutter, die inzwischen wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war, ging es heute so gut, dass sie sich kümmern konnte, solange Helene bei Hannes blieb. Als Helene ihr von dem schlimmen Unfall erzählt hatte, hatte sie die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und ihr Genesungsgrüße aufgetragen. Außerdem hatte sie Helene angewiesen, sofort Hannes’ Eltern Bescheid zu geben, aber diese waren noch auf der Arbeit.

Es dauerte Stunden in dem kleinen Behandlungszimmer, bis Hannes wieder richtig wach war. Zwischendurch hatte er ein paarmal kurz geblinzelt, »so schnell« gemurmelt und war wieder weggedriftet. Helene trank mit den anderen zusammen die dargebotene heiße Milch und dankte dem Arzt von Herzen. Sie war unfassbar erleichtert.

Fieberhaft überlegte Helene allerdings die ganze Zeit, wie sie ihn für seine Dienste bezahlen sollten. Helene wusste, er nahm nicht viel von denen, die nicht viel hatten, und das waren die meisten im Viertel, aber: Ein bisschen mussten sie zusammenkriegen, schon für die Medikamente. Hannes’ Eltern hatten nichts außer einem Stall voll einst wilder Kaninchen.

Der Vater hatte seine Arbeit verloren, er war als Invalide aus dem Krieg wiedergekommen und konnte fortan nicht mehr als Schreinermeister arbeiten. Und Schriftsteller brauchte eh keiner. Einige Zeit hatte er als Zeitungsverkäufer gearbeitet, meist am Alexanderplatz. Zu jeder Tages- und Nachtzeit hatte er sich dort in den Windschatten gestellt und die neuesten noch druckfeuchten Schlagzeilen feilgeboten. Doch auch das war nun vorbei. Er verdingte sich als Tagelöhner, mehr schlecht als recht.

Hannes’ Mutter versuchte sich als Putzfrau, doch sie war von schwacher Konstitution und die Arbeit mit den schweren Wassereimern machte ihr schwer zu schaffen. Sie behielt keine Stelle länger als ein paar Wochen.

Egal, ihnen würde schon etwas einfallen. Tat es doch jedes Mal. Zur Not würde Helene Gertrud fragen, die wusste immer einen Rat. Wenn auch nicht immer den besten.

Meine Berliner Jugend

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