Читать книгу Mycrofts Auftrag - Beate Baum - Страница 6
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»Ich wollte dich bei diesem Fall dabeihaben«, begann Sherlock, kaum dass die Tür hinter seinem Bruder ins Schloss gefallen war, als wäre das im Augenblick wichtig. »Aber du warst so verletzt bei meinem Auftauchen, dass ich dachte, du bist nicht scharf darauf, wieder mit mir zusammenzuarbeiten.«
Das durfte doch nicht wahr sein, dachte John. Sherlock hatte sich Gedanken über seine Gefühle gemacht, die einzige Konsequenz für ihn war jedoch gewesen, den aktuellen Fall allein zu lösen. Was aber auch wieder keinen rechten Sinn ergab, denn niemand wusste besser als Sherlock, wie sehr er die aufregenden und gefährlichen gemeinsamen Einsätze geliebt hatte. Und niemand sollte besser wissen, wie er sie vermisste.
Dennoch reagierte er nicht darauf. Hier und jetzt ging es nicht um ihn. »Also in Afghanistan bist du heroinsüchtig geworden?«, fragte er stattdessen so sachlich wie möglich zurück.
»Ich bin nicht heroinsüchtig.« Sherlock legte Gewicht auf jede einzelne Silbe, schaute dann zu der Tür, die wieder geöffnet worden war.
»Dr. Watson, der Schichtwechsel steht an.« Unschlüssig verstummte die Krankenschwester.
John nickte. »Natürlich, vielen Dank noch einmal. Ich gehe davon aus, dass es keine besonderen Vorkommnisse in der Nacht gab?«
Die junge, hübsche Frau schüttelte den Kopf, schien dann zu realisieren, dass die Antwort nicht eindeutig war und murmelte etwas, das alles in Ordnung gewesen sei.
»Bitte sagen Sie ihm, dass ich nicht um eine Spritze gefleht und mich in Qualen hier herumgewälzt habe«, verlangte Sherlock.
John reichte ihm die Tasche, die er für den Freund gepackt hatte. »Mach dich fertig, damit wir den anonymen Patienten entlassen können.«
*
»Wenn du solche Schlafprobleme hast, bekommst du keinen Kaffee«, bestimmte John, als sie den kleinen Selbstbedienungs-Imbiss in einer Seitenstraße hinter dem Krankenhaus betraten. »Und du wirst etwas essen.«
»Nicht dein Ernst«, gab Sherlock mit Blick auf die beschlagene Theke mit der wenig appetitlich wirkenden Auslage zurück. In dem dunklen Hemd zur Anzughose sah er zwar immer noch sehr bleich aus, wirkte aber fast wie immer.
Obwohl John lachen musste, entgegnete er: »Mein voller Ernst.« Leise, damit der Pakistani hinter der Theke ihn nicht hören konnte, fuhr er fort: »Nimm ein abgepacktes Sandwich, das wird schon in Ordnung sein«, wartete keine Antwort ab, sondern fragte den Mann, ob er Kräutertee habe.
Sherlocks Protesten zum Trotz holte er für ihn einen Becher Kamillentee und ein Truthahnsandwich, für sich selbst nur einen schwarzen Kaffee.
»Fünf Pfund«, sagte sein Freund, als sie sich an einen der schmierigen Resopaltische setzten.
»Was, fünf Pfund?«
»Fünf Pfund hast du zugelegt.«
»Höchstens drei.«
Sherlock musterte ihn noch einmal eingehend und schüttelte den Kopf.
Johns Eitelkeit war gekränkt, etwas anderes war ihm jedoch wichtiger: »Damit das klar ist: Wenn ich dich nicht in eine der Kliniken bringe, gelten dennoch knallharte Regeln. Keinerlei Drogen, nichts, was eine Kindergärtnerin nicht auch ihren Schützlingen geben würde.«
Sherlock seufzte übertrieben. »Ich bin mir nicht sicher, ob das auf dieses Sandwich zutrifft.«
John grinste, ging jedoch nicht darauf ein. »Das ist ein anderes Stichwort: Mindestens eine vernünftige Mahlzeit pro Tag. Du könntest die fünf oder wenigstens die drei Pfund gebrauchen, die ich jetzt mehr auf den Rippen habe.« Bevor Sherlock, der sein Sandwich bereits wieder auf den angeschlagenen Teller gelegt hatte, etwas sagen konnte, fuhr er fort: »Dir ist schon klar, dass die Schlafstörungen mit dem Entzug erst mal noch schlimmer werden?« Er trank einen Schluck von dem Kaffee, der nicht annähernd stark genug war, um die Müdigkeit zu vertreiben.
»Es ist kein Entzug!«
»Natürlich ist es einer. Stell dich nicht dumm, das steht dir nicht! Dein Körper reagiert auf das fehlende Gift, ob du dich nun in Zuckungen auf dem Boden wälzt oder es schaffst, hier entspannt zu sitzen. Und erzähl mir nicht, dass ein Teil von dir nicht genau in diesem Moment an deinen Vorrat zwischen deinen Socken, in dem marokkanischen Pantoffel und der Kleingeldtasse oder unter dem falschen Boden der antiken Schmuck-Schatulle denkt.« An dem winzigen Zucken des linken Auges merkte er, dass er ins Schwarze getroffen hatte. »Ich gehe davon aus, dass ich alle deine Verstecke aufgespürt habe. Auf jeden Fall habe ich beängstigend viel Stoff gefunden. Dennoch werde ich Lestrade bitten, noch einmal jemanden mit Drogenhunden in die Wohnung zu schicken.«
John fiel es immer schwer, die Mimik seines Freundes zu deuten. Wenn er es darauf anlegte, war Sherlock ein dermaßen guter Schauspieler, dass er auch ihn mühelos aufs Eis führen konnte. Jetzt hätte John schwören können, der Jüngere sei froh über seine Entschlossenheit, das passte aber so wenig zu Sherlock Holmes, dass er dem Eindruck misstraute.
»Wenn du noch in der Giftbox am Mikroskop nachschaust, müsstest du alles haben«, sagte Sherlock mit neutralem Gesichtsausdruck. Er probierte den Tee und stellte den Steingutbecher mit angeekelter Miene wieder hin.
Natürlich, der logischste Ort, dachte John und sagte: »Die Hunde gehen trotzdem noch mal durch«, um gleich darauf laut auszubrechen: »Verdammt, Sherlock, das ist mehr als jeder Hardcore-Fixer in einer Woche braucht!« Als er den Blick des Imbissbetreibers registrierte, fuhr er leiser fort: »Wenn ich dann noch daran denke, wie ich dich gestern gefunden habe …«
Er musste den Satz nicht beenden, sein Freund wusste, was er meinte: Dass er ihn doch in eine der Kliniken auf Mycrofts Liste bringen sollte.
Sherlock sagte nichts. Ganz aufrecht saß er da, die langen, schmalen Hände aneinanderlegt, das Kinn auf den Fingerspitzen, und sah ihn an. John trank seinen Kaffee aus, machte sich selbst noch einmal klar, dass er bloß ein ganz normaler Allgemeinmediziner war, kein Experte für Suchtkrankheiten, vor allem aber, dass kein Arzt jemals Familienmitglieder oder Freunde behandeln sollte.
»Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass es für einen Fall war?«, fragte Sherlock schließlich ruhig.
»Ach! Du dröhnst dich für eine Ermittlung zu?« Es klang nicht so kühl und zynisch, wie es sollte. Zu gekränkt war John über diesen plumpen Versuch, ihn zu manipulieren. Hatte nicht gerade doch der Fuß des Freundes unter dem Tisch unkontrolliert gezuckt? Definitiv litt er unter Kopfschmerzen, er rieb sich die Schläfen und kniff die Augen zu.
»Nein, das nicht. Es ist eine Kombination – zugegebenermaßen eine nicht gerade glückliche Kombination – von meinen Angewohnheiten und einem Fall. Gestern ist das danebengegangen. Ich war nachmittags für meine Klientin unterwegs und gezwungen, etwas zu konsumieren, und habe mir dann trotzdem mein Schlafmittel gegönnt.« Er ließ die Hände sinken. »Es tut mir leid, dass du mich so gefunden hast. Das muss ein ziemlicher Schock gewesen sein.«
»Warum sollte ich dir glauben?«, fragte John müde und überlegte, ob ein zweiter Kaffee helfen würde, griff stattdessen nach Sherlocks Sandwich und biss ein Stück ab.
»Weil ich nicht nur keine – gut, kaum – Entzugserscheinungen habe, sondern auch noch all meine Fähigkeiten? Weil ich dir sagen kann, dass der Mann hinter der Theke, den du für einen Pakistani hältst, in Wirklichkeit Syrer ist, ein Augenarzt, der hier in England aber keine Arbeitserlaubnis bekommt, weswegen er, anstatt Grauen Star zu operieren, dieses ungenießbare Essen verkauft?«
»Zumindest mit dem letzten Adjektiv hast du recht.« John legte das Sandwich zurück. Der Detektiv saß mit dem Rücken zum Imbissbetreiber und vermutlich stimmte trotzdem wieder einmal alles, was er hergeleitet hatte – deduziert, wie er es selbst immer hochtrabend bezeichnete. »Okay, lass uns einen Spaziergang machen und du erzählst mir von deiner so genannten Selbstmedikation.«
*
»Du weißt, dass ich Moriartys Komplizen aufgespürt und eliminiert habe, während ich«, mit hochgehobenen Händen deutete Sherlock Anführungszeichen an, »tot war.«
Das Viertel wurde dominiert von dem riesigen Komplex des Smithfield-Markts, wo werktags am frühen Morgen gewaltige Mengen Fleisch umgeschlagen wurden. Nun lagen die Hallen ebenso still da wie die Pubs, in denen Ärzte und Schwestern des Barts sich gern ein Feierabendbier gönnten. Auf dem Gehweg kam ihnen eine alte Frau mit ihrem Dackel entgegen.
John murmelte Zustimmung. Noch immer schmerzte es, an das Verschwinden des Freundes zu denken.
»Ich hatte nie Probleme, mit mir allein zu sein. Auch wenn unsere Zusammenarbeit in der Vergangenheit«, Sherlock zeigte sein ironisches Lächeln, »erstaunlich gut funktioniert hat.«
»Danke«, entgegnete John trocken.
Sie hatten die breite Newgate Street erreicht, auf der bereits einige Autos in Richtung der innerstädtischen Einkaufszentren unterwegs waren. Nachdem sie sie überquert hatten, passierten sie das Gerichtsgebäude Old Bailey. Die säulengeschmückte Vorderseite lag im Schatten, der helle Stein wirkte fast düster. John wartete darauf, dass der Freund fortfuhr. Sherlock schwieg jedoch; ganz leicht, kaum merklich, begann er zu zittern. John deutete auf die Bank an einer Bushaltestelle und sie setzten sich. Sherlock schlang beide Arme um den Oberkörper und atmete ein paarmal tief ein und aus, bevor er endlich neu ansetzte:
»Gefahr hat mich noch nie abgeschreckt und in Schwierigkeiten bin ich oft genug geraten. Aber manche Situation während dieser drei Jahre war extrem. Ich will nicht ins Detail gehen, aber ich habe Albträume bekommen.«
»Und daraus resultierend die Schlafprobleme«, vermutete John, der an seine eigenen Kriegserfahrungen denken musste.
»Genau. Jetzt kommt ein kleiner Exkurs zu meiner Drogenkarriere – oder ziehst du als Mediziner etwas wie zunehmende Toleranz gegenüber Betäubungsmitteln vor?«
»Wir können gern Klartext reden.«
»Gut.«
Wieder ein Versuch zu provozieren, registrierte John, als der Freund ihm ins Gesicht sah und trotz des anhaltenden Tremors ohne Pause fortfuhr.
»Früher habe ich vorwiegend mit Kokain experimentiert – ich wollte die geistige Wendigkeit meines Bruders erlangen, aber alles, was ich erreicht habe, war, dass er es mitbekommen hat und mich gezwungen hat, es zu lassen. Mehrere Male.«
John nickte. Die Rivalität zwischen den beiden hochintelligenten Brüdern konnte Sherlock in der Gegenwart zu Höchstleistungen anspornen, für den Heranwachsenden musste sie eine Qual gewesen sein. Mycroft hatte seine Überlegenheit garantiert genussvoll ausgespielt.
»Einmal dann, ich war schon in Cambridge, habe ich auch Heroin ausprobiert. Ich hatte gelesen, es sei gut zum Runterkommen vom Koks. Da bin ich ernsthaft kollabiert. Danach hat Mycroft mich für mehrere Wochen in eine dieser Kliniken sperren lassen.«
Zwei Jahre hatten sie zusammengewohnt, ohne dass Sherlock einmal über diese Dinge gesprochen hatte. John fragte sich, warum er es jetzt tat. Weil er seine Hilfe brauchte? Weil Mycroft auch heute noch eine Möglichkeit finden würde, ihn zur Rehabilitation zu zwingen – auch wenn er zweifelsohne wusste, dass eine Maßnahme unter solchen Umständen nicht erfolgreich sein konnte?
»Ich habe ihn gehasst dafür, natürlich, und gedacht, er macht das nur, damit seine Karriere nicht gefährdet wird. Er war damals ein junger, vielversprechender Politiker – für sein Image wäre ein drogensüchtiger Bruder gar nicht gut gewesen.«
Langsam rollte der 23er-Bus an die Haltestelle heran, als keiner der beiden Männer reagierte, beschleunigte der Fahrer wieder und fuhr weiter in Richtung des ehemaligen Zeitungsviertels Fleet Street.
»Und dir ist nie der Gedanke gekommen, dass er sich ernsthaft Sorgen um dich macht?« John musste zugeben, dass Mycroft Holmes selbst alles tat, um diesen Eindruck zu vermeiden. Was war überhaupt mit den Eltern gewesen?
Als hätte er die Frage laut gestellt, sagte Sherlock. »Damals nicht, nein. Heute weiß ich, dass er auch wegen unserer Mutter beunruhigt war. Deswegen hat er alles komplett allein organisiert. Mich von der Uni beurlauben lassen – aus familiären Gründen –, die Klinik weit weg von London, in Shropshire, ausgesucht und bezahlt und den Eltern erzählt, ich sei sehr beschäftigt mit meinem Studium und würde einige Wochen nicht nach Hause kommen.«
»Perfektionist«, murmelte John.
»Mycroft«, meinte Sherlock. »Die Klinik war ein schlechter Witz. Lauter Mitglieder des englischen Establishments oder ihre Familienangehörigen, die in Gesprächskreisen herumsaßen und sich einander offenbarten.«
Erstaunt rutschte John auf der unbequemen Bank ein Stück zur Seite, um sein Gesicht besser sehen zu können.
»Ich nicht, bewahre! Aber ich habe schnell festgestellt, dass ich erst wieder rauskomme, wenn ich etwas erzähle, und habe ihnen gesagt, was sie hören wollten.«
War das genau der Grund, weshalb Sherlock jetzt mit ihm sprach?
»Nichtsdestotrotz habe ich begriffen, dass ich mit den Drogen aufpassen sollte. Und sei es nur, um nie wieder in so eine absurde Situation zu geraten.« Er zuckte die Schultern, als wollte er sagen: Und nun stehe ich wieder kurz davor. »Danach war ich sehr, sehr vorsichtig.«
Sollte das heißen, er hatte durchaus Drogen genommen, während sie zusammenwohnten?
»Aber als ich Moriartys Komplizen in Afghanistan verfolgte, konnte ich überhaupt nicht mehr schlafen. Wenn ich doch einmal quasi zusammenbrach, kamen die allerschrecklichsten Träume. Und ich wusste, ich muss schlafen, um zu funktionieren. Sonst erwischen sie mich und dann ist der schlimmste Albtraum nichts gegen die Wirklichkeit.« Sherlock löste die Arme, mit denen er die ganze Zeit seinen Oberkörper gehalten hatte und schaute seinen Freund an. »Da habe ich mit kleinen Dosen Heroin angefangen. Es ist dort sehr rein und man kann schlafen. Tief und fest schlafen. Du weißt das natürlich. Du hast es bei Soldaten in deinem Regiment mitbekommen.«
John nickte. Der Drogenmissbrauch bei den Truppen wurde immer geleugnet, war jedoch im Afghanistan-Krieg überall Alltag gewesen.
»Ich habe aufgepasst. Einen Druck vor dem Einschlafen, wenn ich an einem sicheren Platz war, mehr nicht. Schließlich war es lebenswichtig, dass ich tagsüber komplett wach und im Vollbesitz meiner Fähigkeiten war.« Er presste die Fingerspitzen an die Ränder der Augenhöhlen.
»Aber die Angewohnheit hast du beibehalten, als du zurück warst«, schloss John. Er überlegte, ob die Drogen vielleicht auch für das seltsame Verhalten des Freundes bei ihrem Wiedertreffen verantwortlich waren.
»Ja. Die Albträume und die Schlaflosigkeit blieben, auch wenn mein Verstand mir sagte, dass ich hier in Sicherheit bin. Deshalb habe ich damit weitergemacht. Aber als ich dann diesen Fall angenommen habe, sind die Dinge wohl etwas außer Kontrolle geraten.«
Er hatte während des letzten Satzes starr geradeaus geschaut. Mehr würde er dazu nicht sagen, und das musste er auch nicht.
»Es handelt sich hier nicht um Mycrofts Auftrag, nehme ich an«, fragte John, obwohl er sich da ziemlich sicher war. Nach dem, was Sherlock gerade erzählt hatte, würde sein Bruder ihn kaum dieser Nähe zu Drogen aussetzen.
»Nein«, bestätigte der Freund.
»Also wirst du den Fall auch abgeben«, beschloss John. In dem Umfeld konnte Sherlock keinesfalls weiter agieren. »Alles weitere werden wir sehen. Du wohnst die ersten Tage bei Mary und mir in Hounslow. Genau dorthin setzen wir uns jetzt in die U-Bahn, dann kann ich für eine Dreiviertelstunde die Augen zumachen.« Er registrierte, dass Sherlock ihn nicht begeistert, aber auch nicht komplett ablehnend ansah und stellte eine letzte Regel auf: »Alle zwei Tage nimmt Ettie einen Drogentest vor.«