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Brief an die Gottsucher

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Paulus grüßt seine Collegen. Schalom! Die Suche nach Gott hat auf dieser Erde gewiss lange vor dem Altertum begonnen. Sie nährte sich, wie für einen erwachenden, kindlichen Geist zu erwarten, aus Ahnungen und Gefühlen und konnte sich daher vorerst nur in magischen Praktiken äußern. Dann platzten die Kataklysmen der Sintflut in das Zeitalter zutraulicher Verspieltheit, wodurch die Suche nach Gott schwer gestört und in die Irre geführt wurde.

Erst mit Abraham und seinen Nachkommen gelang es, Vernunft und Bildung für die Suche nach Gott zu erschließen und so falsche Ansichten über Gott in richtige umzuwandeln. Damit wurde zum ersten Mal diejenige Stufe der Kultur erreicht, die einem denkenden Lebewesen ansteht, die ihm die entsprechende Würde verleiht, in der unvertretbaren Verantwortung vor Gott und sich selbst. Wir Juden haben seitdem beträchtliche Erfolge erzielt, deren wichtigste Ergebnisse von Moses festgehalten worden sind. Allerdings ist uns der Erwerb dieser Erkenntnisse nicht leicht gefallen. Eine unheilvolle Geschichte und der ewige Streit unter uns, ob wir ein gemeines oder ein erwähltes Volk sein wollen, hat besonders unsere letzten Jahrhunderte geprägt. Ja, wir waren selten so zerstritten wie seit dem Tod des Johannes Hyrkan, wir waren kaum jemals unnachsichtiger gegeneinander, und wir haben noch nie so viel eigenes Blut vergossen. Schließlich haben wir darauf bestanden, unsere Unvernunft bis zur bitteren Neige auszukosten.

Die Heiden haben sich nach der Sintflut völlig in den Sümpfen des Aberglaubens verirrt, wobei die Vorstellungen des Göttlichen desto ätherischer scheinen, je weiter man nach Osten blickt. Sie haben sich dort notdürftig eingerichtet und reifere Seelen leiden großen Mangel. Auswege gibt es nicht. Diese werden von den Priestern bewacht, die ihrer Aufgabe nach Grenzbeamte sind, die jede Suche nach Gott blockieren, die alle nur denkbaren Straßen sperren und eine Weiterreise unterbinden. Sie wollen klare Verhältnisse im Himmel und geregelte Beziehungen zu seinen göttlichen Insassen, auf dass Herrscher und Untertanen ungestört frönen und fronen dürfen. Sie erklären die Gottsuche kurzerhand für erfolgreich beendet, sich selbst als alleinige Obmänner für den Durchlass zu den eingepferchten und vom Ritus gefesselten Göttern; und sie ermöglichen sich dadurch ein Dasein als hochverehrte Luxuspüppchen. Diese Haltung der aktiven und passiven Erkenntnisverweigerung, welche die Priester mit den Atheisten verbindet, scheint ein Grundzug für die Verzögerung im Erwachen der Vernunft auf dieser Erde zu sein. Die Anstrengung des Denkens, das Erkenntnisbemühen der Sophia, hat für die meisten nichts Beglückendes, es scheint eine widerliche Zumutung zu bedeuten. Hier sprudelt die Quelle des Judenhasses. Es scheint, als möchten viele lieber schlaue und starke Tiere sein als Menschen. Sie glauben, dass sie sich dümmer stellen dürfen als es ihnen abverlangt wird, und steigern sich in den Wahn, sie könnten sich unter Gottes Gesetzen aussuchen, welche sie befolgen wollen.

Ich will mich nicht an dem unedlen Wettstreit um die Veraltung der Geschichte beteiligen. Unsere geliebten jungen Herrschaften haben sich hier dank poetischer Phantasie immerhin bis zu fünf Jahrhunderte erschwindelt. Aber wie auch immer man rechnet: Wir müssen bittererweise, was die Gottsuche auf dieser Erde angeht, in Jahrtausenden denken. Unsere eigene jüdische Geschichte zeigt, wie mühsam und wie lange wir als Pfadfinder unterwegs sind. Insgesamt ist die Lage der Suche nach wie vor erschütternd rückständig. Gottsucher, welche diesen Namen verdienen, sind wie Oasen in einer einzigen riesigen Wüste. Da die Freiheit, die Gott uns geschenkt hat, nicht nur das Gelingen, sondern auch das Scheitern enthält, muss ernsthaft als möglich erachtet werden, dass auf unserer Erde Gott als Ziel einer menschlichen Suche wieder entschwinden wird, als wäre er ein Trugbild.

Nach dieser nüchternen Bestandsaufnahme ist es hohe Zeit, sich an den Eigensinn des jüdischen Volkes zu erinnern. Wir haben nicht nur in Gottes Begleitung tiefe Täler durchwandert, sondern auch stets aufs Neue Fundamente gelegt und das jüdische Leben wieder aufgebaut. Es gibt wohl kein jüdisches Herz, das nicht hoffnungsvoll nach Jamnia und Bekiin schaute, und ich bin stolz, beim Anfang mitgeholfen zu haben. Die Rabbiner als Hirten zu wissen, berechtigt zu den schönsten Hoffnungen, obwohl keine von unseren täglichen Freuden vollkommen sein kann, weil die Zerstörung des Tempels und die Verbannung aus Jerusalem in unser Leben eingeflochten sind. Diejenigen von uns, die zu einem erwählten Volk gehören wollen, werden die Gottsuche fortsetzen. Angesichts der neuen Umstände erwarte ich reiche Frucht.

Für die Gottesfürchtigen unter den Heiden haben meine Missionare und ich seit einer Generation die besten und sichersten Ergebnisse der jüdischen Suche – Gott, Liebe, Sabbath – in eine handliche Form gebracht, die ihnen den unvermittelten Zugang zu Gott gestattet, ohne dass sie Juden werden müssen. Bei aller gebotenen Zurückhaltung kann gesagt werden, dass vor allem das nordöstliche Viertel des Reiches zu einem aufblühenden Garten neuen Gottesglaubens heranwächst. Auch in Rom und anderen Städten der Oikumene breitet sich ein neues, besseres Verständnis des Wesens Gottes aus. Ich muss zugeben: Wir, die erste Generation der Mission der »Chrestoi«, der »Sanftmütigen«, leben in Freude ob der Pflanzungen, die wir heimlich still und leise zu setzen vermochten. Niemand von uns ist bislang unglücklich gestorben. Aber es ist nur ein neuer Versuch, das wissen wir. Ich wünschte mir, wenn man als schon etwas reifere Seele vielleicht später mal einen Wunsch haben dürfte, dass ich noch einmal ein Leben zugeteilt bekäme auf dieser Erde, in 3500, nein, 4000 Jahren, um zu sehen, was aus unserer Arbeit geworden ist.

In ein paar Tagen werde ich meinen lieben und treuen Körper verlassen, ich werde die anderen Seelen treffen, die sich auch gerade zwischen zwei Leben befinden. Ich stelle mir das vor wie Urfas wunderbar wuselige Herbergsstadt. Nur viel gewaltiger, kosmisch halt. Und dann wird es zum großen Erzählen kommen, die Seelen werden von der Gottsuche auf ihren Erden berichten und der nachstehende Entwurf, den ich auf Wunsch der Familie hinterlege, ist im Großen und Ganzen das, womit ich eröffnen will, nach der altehrwürdigen Einleitung »Hört, liebe Seelen, was mir widerfuhr ...«. Ich bin natürlich aufgeregt und gespannt wie ein Flitzebogen, ich kann es kaum in Ruhe erwarten. Das ist lästig für meine Angehörigen und Freunde. Nur meine Frau versteht mich, sie wollte mir heute Morgen aus lauterer Liebe tatkräftig helfen, indem sie mein Ableben ebenso rasch herbeizuführen wie vergnüglich zu gestalten suchte. Sie stippte beim Frühstück ihr Hörnchen in die Schale mit heißer Honigmilch und stellte mir auf ihre direkte, kretische Art die Frage: »Und wenn du nach dem Sterben feststellst, dass es gar keinen Gott gibt?« Ihr gut gemeinter Versuch schlug indes fehl, ich habe den Lachanfall, der mich den ganzen Tag schüttelte, knapp überlebt. Ich habe mich nicht totgelacht, leider. Lachend anzukommen, das wär’ was gewesen. Übrigens, wenn es wirklich keinen Gott geben sollte, so sei in diesem Winkel des Alls als Randnotiz vermerkt, dass es Lebewesen gab und gibt, die von ihren Maßstäben nicht lassen.

Am Ende der Schöpfung, am Jüngsten Tag, wenn die Seelen des Kosmos zu einer verschmelzen, zum Gegenüber für Gott, wenn sich auch das Entschulden, das Verstehen und das Verzeihen vollendet, wird selbst der Langsamste von uns erkennen, dass wir alle das Zeug zum Messias in uns hatten. Lebt wohl.

Gortyn auf Kreta, in einer Weinlaube, im achten Jahr des Imperators Trajanus

Flavius Josephus, genannt der Kleine

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