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Kapitel II Unterwegs
ОглавлениеDie Entfesselung machte mich wie trunken, und in den würzigen Schatten des lieblichen Karmel begann mein Herz zu singen. Es wandte sich mit überschwänglichem Dank an Daniel, meinen Leitstern, den ersten Rabbi. Eine Ansicht nebenbei, mit der ich in bestimmten Jeschiwoth mühelos Augenbrauen in schnelle Bewegung versetzen könnte, für die ich gleichwohl lang bedachte und wohlerwogene Gründe habe, die ich an geeigneter Stelle vorlegen werde. Daniel und seine drei Freunde hatten, damals in Babylon, in nur einer Nacht unter größter Belastung ein Traumgesicht erarbeiten müssen, von dem Wohl und Wehe abhingen. Alle anderen Traumgelehrten ließen ihnen zu gern den Vortritt. Die vier hatten ihre herausragende Stellung und ihren Ehrfurcht gebietenden Ruf erworben, indem sie alte babylonische Sintflutängste mit ihren Zackensternen beschwichtigten, welche die stabilen Umläufe von Venus und Merkur sowohl geometrisch als auch magisch beglaubigten. Schon auf dem Schoß meiner Mutter, wenn sie mich fragte, ob sie mir ein Rabbimärchen erzählen solle, wünschte ich mir am liebsten ein Abenteuer der vier Freunde. Meine Anhänglichkeit hat sich in den Zeiten seither nicht vermindert. Zu Daniel also später. Weiter im Vortrag!
Als Nächstes galt mein inniger Dank Apelles, meinem Ausbilder im Lächeln, der mich gelehrt hatte, dass bürgerliches römisches Leben vor allem ein einziges Theaterspielen sei, auf vielen Bühnen, die sich nach Ansicht der Römer alle zusammen auf dem Theatrum Mundi befanden. Er war ein berühmter und wohlhabender Schauspieler, der von vielen Aliturus genannt wurde. Er hatte mich in Puteoli erwartet und entsetzt wie beglückt in die Arme geschlossen, denn die Nachricht vom Untergang meines Schiffes, der »Atropos«, war meinen Schritten vorausgeeilt.
»Lass dich anschauen«, hatte er gesagt, sich aus der Umarmung gelöst und mich im Ganzen betrachtet. Ich lächelte ihn an, mir war leicht ums Herz nach den überstandenen Fährnissen. Apelles beobachtete mich fassungslos, wie mir schien.
»Mach das noch mal.«
»Was denn?«
»Lächle.«
Ich tat es unwillkürlich.
»Versprich mir, dass du deiner Mutter meine Verehrung bezeugst, eine solche Begabung geboren zu haben.«
Später, bei einem Verführungsessen, einem himmlischen Lammbraten, war er richtig zur Sache gekommen.
»Welcher Schatz wurde dir mit diesem Lächeln verliehen! Aber du musst es ausbilden! Du musst in eine gute Schule gehen, ach was, in die beste, die meine! Sonst bleibt es in seiner Wirkung weit unter seinen Möglichkeiten, und du wirst es nie zu wahrer Meisterschaft bringen.«
Er schlug mir ernstlich vor, nach Erfüllung meines Auftrags die Bühnenlaufbahn einzuschlagen, ich könne jede Menge juvenile und virile Liebhaber spielen und ein gut gepolstertes Leben führen. Fehlte nur noch, dass er mir von leckeren Verehrerinnen vorschwärmte, aber das fiel ihm nicht ein, denn Apelles war vom anderen Ufer. Es gibt auf meiner Erde mitunter eine kuriose Vertauschung der Geschlechter, sodass Gleiche sich lieben. Im Tierreich scheint sich Ähnliches abzuspielen, und zuverlässige Quellen berichten, dass manche Tiere ihr Geschlecht sogar hin und her wechseln. Es spricht nichts dafür, dass durch derartige Launen der Natur die Gottsuche irgendwie beeinträchtigt wird. Ich erhielt unter dem Duktus des Apelles eine gründliche Einführung in die Welt des Theaters und spielte einige Male Nebenrollen in Komödien, als Anfänger leider ziemlich derbe Figuren. Meine naturwüchsigen Anlagen erfuhren eine Disziplinierung, ähnlich derer in meiner Zeit bei den Essenern, wo ich meine körperlichen Gelüste beherrschen gelernt hatte, was als Grundausbildung für alles Weitere betrachtet werden kann. Vor allem die Kunde meines Lehrers über das Lächeln sollte feine Früchte tragen.
»Wer ein Lächeln wie deines gesehen hat, ist versucht, irgend-etwas zu tun, das es wieder hervorlockt. Er möchte es zu gerne wiedersehen. Du kannst ihn damit füttern, bis er tut, was du willst.«
Im Plausch mit Neros Frau Poppäa hatte sich das aufs Schönste bestätigt. Mit der Schwangeren über die Heiligkeit des Lebens zu sprechen, gelang zwanglos, weil das Lächeln, das wir eingeübt, alle hohen, schweren Türen aufgestoßen hatte. Begleitet wurde es von dem Donativ eines kleinen, schmucken Libellums, gefüllt mit philosophisch gewürztem Lesefutter, angerichtet von Magister Musonius, Apelles wusste um ihre Schwäche dafür. Sie hatte ihr Kind mit stolzer Anmut getragen, und ich brauchte mich in meiner Bewunderung nicht anzustrengen. Mir war in jenen Tagen der tiefe Ernst ihrer Lage nicht klar. Die arme Frau hatte später durch Tritte ihres Mannes in ihr Bäuchlein eine Fehlgeburt erlitten, an der sie qualvoll verendet war. Die Nachricht von ihrem Tod hatte meine drei befreiten Collegen und mich veranlasst, schnellstens Abstand von Italia zu suchen. Wir bestiegen das erstbeste Schiff. Es trug uns nach Malta, wo wir zu einem Heliosfest ankamen, bei dem, wie auf Rhodos, ein geschmückter Sonnenwagen über eine Felsklippe gestürzt wurde. Die Tiefe der Fahrrinnen zeugte vom Alter des Brauches.
Was aber würde Nero zu Vespasians Provokation sagen? Würde der Princeps das Unkraut des Hochverrats an der Wurzel ausrotten, wie üblich, Vespasian abberufen und mit ihm kurzen Prozess machen? Durfte er darauf hoffen, dass der aus seinen Ämtern Entlassene sich ebenso willig in sein Schicksal fügen würde wie der vormalige Feldherr des Ostens, Corbulo, der mit befohlenem Selbstmord für seine Erfolge bezahlen musste? Die Begegnung mit Vespasian lebte mir wieder auf. Ich hatte untergebracht, dass es eine Friedenspartei gab, wer ihr Anführer war und dass ich diesem unterstand. Außerdem hatte ich die Vokabel »Rechtssicherheit« platziert, ein Keim, an dem mir sehr gelegen war. Bemerkenswert und auffallend, dass meine Rede vom »Einen und Einzigen Gott« so glatt, ja, wie geölt geschluckt wurde. Hatte ich deshalb die Wendung vielleicht einmal zu oft benutzt? Ich ging das gesamte Gespräch durch, wog jeden Satz, jede Formulierung. Gab es Möglichkeiten zur Verbesserung? Welches Wort konnte durch ein treffenderes ersetzt werden? Und so fort. Die Manie der Zergliederung, der unermüdlichen Wiederholung und Variation, rührte von meinen Schulen her, von den jüdischen und griechischen, in denen für Rabbi und Rhetor gleichermaßen jedes Wort Gewicht besaß und ich oft genug die beste Formulierung zur Erwiderung an einen dialogischen Partner erst auf der Treppe oder dem Heimweg gefunden hatte. So sinnvoll eine Nachbetrachtung als Quell des Lernens ist, kann sie gleichwohl zu einer stumpfen Tretmühle ausarten, wenn sie kein Ende findet. Ich hatte vor Jahren meinen inneren Archivar beauftragt, mir Bescheid zu geben, wenn ich wieder einmal mein Denken zu Schleifen gebunden hatte. Ich schrak hoch und schalt mich ob meiner wenig hilfreichen Erwägungen. Alles Klamüsern nutzte nichts, solange Nero das Diadem trug. Ich hatte vorausgesagt, dass er das irgendwann bald nicht mehr tat. Für sich genommen keine große Kunst, denn viele glaubten nicht an eine lange Regentschaft des Verrückten. Aber er würde nicht mir zu Gefallen von der Bühne abtreten. Nero hielt sich für den unverzichtbaren Hauptdarsteller in führender Rolle, wohl eher eine Einzelmeinung. Meine Prophezeiung war eine indirekte Aufforderung an all die Nerohasser, endlich tätig zu werden.
In der politischen Arena bedeutete Vespasians Duldung meines Auspiziums eine öffentliche Ansage und Herausforderung für seine Rivalen, die direkten Anlieger und Nachbarn an den Aquädukten von Rom. Das war keine Verschwörung im Geheimen, keine pisonische Conspiration, die Bundesgenossen suchte, sondern ein stolzer Anspruch, der selbst mögliche Verbündete in die Schranken wies. Wer immer sich berufen fühlte, diesem entgegenzutreten, würde eilends den Staub von den eigenen Omina wischen, denn es gab wohl keinen unter den Senatoren, dessen Lebenshoffnungen nicht von ausgesuchten Glücksverheißungen alimentiert wurden.
Unsere erste Rast an einem dahineilenden, von Lilien und Weiden gesäumten Bach half, die nutzlosen Gedanken zu verscheuchen. Jakob, an dessen Unbekümmertheit ich mich labte, raunte mir beim Tränken der Pferde zu:
»Das ist nicht der echte Adler, das ist der Ersatz.«
»Bist du sicher?«
»An der linken Klaue ist die Spitze der ersten Kralle abgebrochen.«
Klar, es konnte nicht anders sein. Die Legion würde niemals ihr schlachterprobtes Amulett hergeben, und sei es für ein paar Tage. Irgendwer war auf die pfiffige Idee mit dem Ersatzadler verfallen.
»Gut, dass du ihn noch poliert hast.«
»Und sie haben kein Imago von Nero dabei.«
»Wirklich?«
Im Laufe der Jahre war es mir versierter Usus geworden, Bilder oder sonstwie Figurines, Imagos oder Pictura, Eikonen oder Eidola oder wie immer man so ewas nennt, nicht wahrzunehmen. Sofern es nicht Flora und Fauna betraf jedenfalls. Wenn ich mich überwand, irgendeine figürliche Darstellung ins Auge zu fassen, so musste ein besonderer Grund dafür vorliegen, der einer bestimmten Aufgabe geschuldet war. Jakobs Entdeckung bedeutete, dass unsere Turma bewusst den neuen, heiligen Genius trug, den die Legion erhalten hatte. Ein würdiger Nachfolger für den geliebten Corbulo stand bereit. Ihr Sacramentum, ihr Fahneneid, wurde dadurch nicht verletzt, denn Gehorsam und Treue hatten nicht gelitten. Dass ein Bild des Nero nicht mehr zu den Augustalia gehörte, hatten nicht sie zu verantworten, sondern diejenigen, denen sie in ihrer Mitte das Geleit ins Hauptquartier gaben.
*
Als es wieder der Küste zuging, erinnerte ich mich meiner Pflichten. Ich hatte ein Fazit meines Erdenaufenthaltes gezogen, einen Befund der hiesigen Gottsuche erhoben. Wenn ich in Jotapata gefallen wäre, hätte das ausreichen müssen, und ich wäre mit nichts anderem vor Euch getreten, liebe Seelen. Jetzt aber, da ich weiterlebte, hatte ich demnach weiterzudenken. Ich musste überlegen, was der Befund bedeutete und wonach er verlangte.
Was er bedeutete, war ebenso einfach wie bestürzend: Beseelung war kein Vorgang, der von vornherein störungsfrei ablief. So wie bei anderem Werden in der Schöpfung konnten, als Preis der Freiheit, alle Entwicklungen mehr oder weniger beschädigt werden, bis hin zum Scheitern. Für mich am eindrücklichsten sind missgebildete Kinder, die zudem nicht die besondere Liebe, auf die sie ein Anrecht haben, empfangen, sondern gleichsam als Strafe für ihr schweres Los auf bestialische Weise ermordet werden. Ich habe es mir einmal angesehen, umgeben von spähenden Aussetzern, wie Raubzeug das weinende Bündel in seinem Fang davontrug.
Von angenommen einer Million Erden mochte es vielleicht tausend geben, auf denen die Beseelung nicht so gelang, wie sie angestrebt war. Die Gründe konnten auf jeder Erde verschieden sein. Oder war eine allgemeine Ursache wie Dummheit plausibel, wie viele Denker vermuteten? Sicher, man erläuterte einem Schüler eine Woche lang das Alpha und wenn man ihn am Sabbath fragte, was dieses Zeichen bedeutete, antwortete er freudestrahlend: »Fisch!«. Doch waren Dummheit, Schwachsinn und Beschränktheit für einen Gottsucher sinn- und nutzlose Begriffe. Ich hatte sie des Öfteren verworfen. Sie erklärten nichts und vermochten keine Ursache für die mangelnde Kraft der Vernunft namhaft zu machen. Welche schädlichen Einflüsse auch immer den Prozess der Beseelung störten, festzuhalten blieb, dass die daraus folgenden schweren Missbildungen im Denken nicht als Regelfall anzusehen waren, sondern als Ausnahme. Alles andere hätte mein Denken zusammenbrechen lassen, und ich wäre erstarrt, um auf meine Zerstäubung zu warten.
Es konnte keinen komplett oder maßgeblich wahnsinnigen Kosmos geben. Es mussten Gesetze herrschen, die sicherstellten, dass dem Wahnsinn Grenzen gesetzt waren. Gott wollte keine Schöpfung, die verrückt spielte. Sonst wäre er ja selbst nicht ganz dicht. Ein Gott mit Dachschaden für eine unbehauste Welt.
Die Ursache für das Entstehen falschen Denkens auf meiner eigenen Erde barg keine Geheimnisse. Ich hatte mich, nicht nur in meinem Studium am Museion von Alexandria, in die Schriften der Völker des Altertums vertieft und war ubiquitär auf Erzählungen und Berichte von zerstörerischen Eingriffen aus dem Himmel gestoßen. Vor etwa zwölfhundert Jahren mussten, über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten, Verderben bringende Cometen, die anscheinend aus Richtung der Plejaden kamen, verschiedene Teile der Welt immer wieder verheert haben. Möglicherweise ist ein Hauptcomet zerbrochen und die hohe Trefferzahl damit zu erklären. Bei oberflächennahen Erzadern kam es zur Metallschmelze, die zusammen mit großen Mengen glühender Holzkohle das erste Waffenschmieden ermöglichte. Hier ist Kupfer im Besonderen zu nennen, weil es auch ohne Reinschmelze Härte und Formbarkeit vereinigt. Eisen, das Metall der späteren Waffen, zeigt sich dagegen spröde und unzugänglich. Philosophen wie Platon machten in dieser Phase vier große Kataklysmen aus und führten sie auf die Abweichung der am Himmel kreisenden Körper zurück, was Planeten einschließen würde. Sein Schüler Aristoteles stimmte ihm in den Zerstörungen der Kulturen zu, wenn er auch, weil er an Furcht vor den Weiten des Kosmos litt, Cometen in die Sphäre zwischen Erde und Mond einsperrte, eine recht alberne Vorstellung. Manche Regionen waren nach örtlichen Berichten bis zu fünfmal heimgesucht worden. Ich konnte über sechshundert Flutsagen von mehr als zweihundertfünfzig Völkern und Stämmen auflisten.
Wenn auf einer Erde die Beseelung nicht wie von Gott erhofft ablief, war als Nächstes nach der Schwere der Störung zu fragen. Hielt sie sich innerhalb der Grenzen, in denen eine Reifung der Vernunft noch möglich war? Oder hatte ihre Einwirkung eine solch bestimmende Gewalt, dass es zu einem Wechsel der Sequenzen gekommen war?
Den Begriff der Sequenz hatte ich mir an der Akademie von Rhodos angeeignet, bei Gideon, einem der raren Lehrstuhlinhaber jüdischer Herkunft, einem Philosophen der Biologie. Er hatte sie bestimmt mit den Worten: »Das Fließen der Welt, das Werden in der Natur geschieht nicht beliebig, nicht ungeordnet, sondern in verbundenen Ketten von Ursache und Wirkung, die es trotz aller Angriffe des Zufalls erlauben, Ziele zu erreichen. Auch jede Metamorphose wird durch solche Ketten ordiniert. Sie sind in sich und auf ihre Nachbarn genau abgestimmt, halten ihre Plätze notwendig inne und sind Teil einer von bewunderungswürdiger Vernunft gestalteten Gesamtanstrengung. Eine derartig feste und notwendige Abfolge von kalkulierten Schritten, die auf ein bestimmtes Ende hinauslaufen, nennen wir eine ›Sequenz‹. Es gibt Sequenzen des Auflebens und Absterbens, welch Letztere ab einer bestimmten Schwelle nicht mehr umkehrbar sind. Bei vier Komma sechs gemessen an zehn. Für ein denkendes Lebewesen wie den Menschen ist dieser Punkt dann erreicht, wenn das Handeln gegen den eigenen Nutzen überwiegend wird.«
Falls sich die menschliche Kultur bereits in einer Metamorphose des Verschwindens befand, gab es keine Aussicht auf Besserung. Genauso wenig wie man ein untergehendes Schiff durch Ausschöpfen mit Eimern retten konnte, wie es die Reisenden auf der Atropos versucht hatten. Da ist Beten praktischer. Wenn man die Meinungen der Philosophen befragte, so sagte mindestens eine starke Minderheit, dass der Welt ein böses Ende bevorstünde. Hesiod, ein weit gereister, abwägender Mann, beschrieb die Geschichte der Menschheit als Abstieg ins Elend der Gegenwart, die »keine Rettung im Unheil« mehr kennt. Auch in den jüdischen Schriften war die Vokabel der Vernichtung samt ihrer Verwandten zu finden. Allerdings gab es noch öfter die Ankündigung oder Behauptung eines goldenen Zeitalters, was sich Herrscher wie Augustus weidlich zunutze machten. Ob und wann die Metamorphose zum Absterben bei der Menschheit eintreten konnte, war durch entsprechende Betrachtungen zu eruieren. Man mochte im Einzelnen den Pegel der Gewalt oder das Fieber des Aberglaubens bemaßen. Man brauchte aber für ein zuverlässiges Urteil umfassende Kenntnisse über den gesamten Erdkreis. Davon war ich weit entfernt. Was wusste ich denn von unserer Kugel? Was hatte es mit der merkwürdigen Nabelschau der
Buddhaanhänger auf sich? Was blühte hinter Indien an Schöpfungsverständnis, was im fernen China, hinunter bis nach Cattigara am Drachenschwanz? Von Africa wusste ich, Axum ausgenommen, so gut wie nichts. Was machten sich die Mohren für Gedanken? Oder die bedauernswerten Hyperboräer? Wie gestaltete sich die Gottsuche in vielmonatiger Finsternis? Was hatte Plato gemeint, als er für das atlantische Meer vom gegenüberliegenden Festland schrieb? Gab es Inseln der Gegenfüßler? Ich wusste viel zu wenig, um die Frage des Übergangs der Selbstschädigung in eine Großsequenz der Katagenese vernünftig zu behandeln. Als Rabbi und Pädagoge war ich darüber heilfroh.
Gideon hatte uns als Probe aufs Exempel ein Prüfmittel aus der Medizin an die Hand gegeben, mit dessen Hilfe sich ein aus Selbstschädigung entstandener Abbau erkennen ließ. Danach war dieser Verlauf dann erreicht, wenn jegliche Therapie, als Genesungsmittel gedacht, vom Sog der Katagenese mitgerissen wurde, in den Dienst der Krankheit trat und das Abwärts beschleunigte.
Welche Therapie war als Prüfmaßnahme jedoch groß genug, um den Zustand der Menschheit zu beurteilen? Genau besehen war das Judentum eine solche Probe. Wenn es unterging, und sei es durch eigenen Abfall von Gott, bedeutete das ein aussagetüchtiges Anzeichen dafür, dass alle verloren waren.
Die Kataklysmen hatten gravierende Auswirkungen auf die Gottsuche, die bis in die Gegenwart stark nachwirken. Vor der Sintflut hatte der Mensch einen Dialog in Jochanans Sinne mit der Natur geführt. Er hatte sie spielerisch befragt, und die Natur hatte teils hocherfreuliche Antworten gegeben. Zwar zitterte die Erde bisweilen und es gab schwarzer Wolken Sturmeseilen, blitzdurchzuckt und donnererschüttert, aber das ließ sich abwettern, das blieb kurzfristig und war schnell vergessen wie eine Verstimmung von Muttern. Es gab häusliche und zeltliche Frömmigkeit, Totenvererehrung und Jagdtierversöhnung. Weites, paradiesisches Land schenkte alles Nötige und vieles Unnötige zum Leben. Ob die Sippen einander trafen, hing vor allem von ihrem Wunsch danach ab. Faul und friedfertig lebte der vorsintflutliche Mensch in den Rhythmen der Natur, bis sich, von einem Tag auf den anderen, seine Welt drastisch veränderte.
Sein vertrauensvolles Gespräch mit der Natur wurde schlagartig beendet. Er lernte Mächte kennen, die ihn grausam misshandelten. Er konnte nicht durch Angriff, nicht durch Flucht, nicht durch Verhandeln Einfluss auf sie ausüben, wie es der Prophet Amos anschaulich schildert. Die Ohnmacht zeitigte Angst und Wut, Erstarrung und Panik. Die aussichtslose Erregung verdichtete sich zu gesammeltem Ingrimm und schrie nach Erlösung von der maßlosen Furcht.
Als nach etwa vierhundert Jahren am Himmel Regelmäßigkeit und Ruhe einkehrten und Kataklysmen zu seltenen Ausnahmen wurden, mussten die Überlebenden ihre Lebensverhältnisse neu einrichten. Die übermächtigen Kräfte blieben außerhalb der Reichweite menschlichen Handelns, aber sie mussten auf verstehbare und einleuchtende Weise erklärt werden, um dem Tohuwabohu des Sinns ein Ende zu machen. Es bedurfte großer Erzählungen, welche die himmlischen Desaster erläuterten. Nachdem vor der Sintflut die Suche nach dem Göttlichen wesentlich auf oder in der Erde verortet war, wurde jetzt der Himmelsraum zum Wirkkreis göttlichen Handelns bestimmt. Die Naturerscheinungen bekamen Götterpersonen zugeordnet, und ihre entsetzlichen Auswirkungen wurden als Folge eines Agon, eines Kampfes zwischen den Göttern, gedeutet. Kinder, die sie sind, begannen die Menschen nach diesem Grundmuster ihre Erfahrungen nachzuspielen, um abzulasten und sich zu Herren ihrer Lage zu machen. Sie wiederholten schlimme Begebnisse der Sintflutzeit, indem sie in ausgeklügelten Trauerspielen die Streithandlungen der Götter sinnlich abzubilden suchten. Ein Zeremoniell des Tötens und Schlachtens entstand. Das Blutopfer trat in die Mitte der Religion.
Angetan mit Sternenmasken und Hörnerkronen, gebeutelt von starken Abführmitteln, mit Ruß und Asche eingeschmiert, mit Phallusdrohungen und Haarverbrennung, wurde unter Geschrei, Lärm und Gepolter das Schlachtfest eines bekränzten und geschmückten Götterdarstellers gefeiert. Aus seinem hingegebenen Fleisch und Blut erwuchsen dem Beiwohnenden Erlösung und Heilsversprechen.
Man hatte zum Beispiel beobachtet, wie ein kleinerer Himmelskörper sich scheinbar ohne Hilfe eines dritten von einem größeren zu lösen schien. Diesen Vorgang deutete man als jungfräuliche Geburt aus einer Muttergöttin, meist der Venus. Für den vermeintlichen Sohn gab es diverse Zuschreibungen. Seine Aufgabe war es, die kosmischen Zerstörungskräfte zu bändigen. Der von einer Jungfrau geborene Erlöser ordinierte die Bahnen der Gestirne neu und verhinderte künftige Sintfluten. Der Preis dafür war sein Tod. Allerdings lediglich ein vorläufiger, weil er nach dem Abstieg ins Schattenreich der Verblichenen auferstehen konnte und musste, um sich wieder mit seiner Mutter zu vereinen. Die Vereinigung konnte problematisch werden, wie eine weit verbreitete Sage zeigte, in der eine Himmelskönigin ihren jungen Himmelskörpergott um seinen Schweif brachte. Der Heil bringende Sohn musste immer wieder vergehen und auferstehen, damit die Gläubigen leben konnten. Der Mythos von der Jungfrau und ihrem Sternenkind, das durch seine Selbstaufopferung die Welt rettet, wurde zum beliebtesten im Zweistromland, und Daniel hatte all seine Geistesgaben komponieren müssen, um ihn zu durchschauen.
Die unreifen Kinder machten durch ihre blutigen Spiele aus dem Passiv des Erleidens ein Aktiv der Bewältigung. Sie wollten durch Opfer gefallen, um nicht zum Opfer zu fallen. Die Schlachtopfer hatten die Hinschlachtung der Völker beendet und sorgten für die Erneuerung der Welt. Man kann sie als therapeutische Verfahren begreifen, als kultische Medizin und Heilungsrituale. Der tödliche Agon entlädt die hitzige Verstörung bis heute.
In der Figur des Spielleiters betraten die ersten Priester die Bühne der Erde. Ihre Insignien waren Ornat, Tiara, Krummstab und Szepter. Sie übernahmen als heilige Hinrichter und Therapeuten Schuldgefühle und Vergeltungsängste und galten als Garant für ein gedeihliches Auskommen mit dem Himmel. Sie gewannen so viel Macht, dass sie zu Priesterkönigen aufstiegen, deren Stellung erst nach längerem kosmischen Frieden an Fundierung verlor. Das heilige, heilende Töten der Priester beschützte das Gemeinwesen vor beleidigten Mächten, es befreite die eingeklemmte Wut und befähigte die Gläubigen, sich wieder ihrem praktischen Alltag zu widmen.
Neben den Geschichten von göttlichen Zwistigkeiten entstanden Fabeln über menschliche Heroen, welche Giganten, Dämonen, Drachen, Chimären, ja sogar Götter herausforderten. Durch seine Heldentaten war es dem Heros vergönnt, selbst göttliche Würde zu erlangen. Dadurch erhob eine weltliche Macht ihr Haupt, die der Übernatur Widerpart bot. Schauspiel und Drama entfalteten sich ebenso wie körperlicher Wettstreit, wie er heute noch etwa in den olympischen Kämpfen anzutreffen ist, die übrigens ausgerechnet von einem König der Juden in ihrem Bestand gerettet worden sind.
Der an einem Pfahl aufgehängte Leichnam eines Opfers mit seiner Schreckensmaske war die erste Götterstatue auf meiner Erde. Dann wurden Götterpersonen aus Holz geschnitzt, später aus Stein gemeißelt. Der geformte Gott trat in Erscheinung. Er wurde, wie die Opferdarsteller, ornamentiert und mit Fett eingerieben. Die Griechen nennen eine solche Statue »christos«, was »gefettet« oder »eingeschmiert« bedeutet. Wir Juden nennen sie »Ölgötze«. Die Bildnisse wurden als Heilbringer mit Ehrenbezeugungen überhäuft, ihre Opfer durch ausgiebiges Üben auf das wohltätige Ableben vorbereitet, und ihre Verwalter durften sich über Reichtum und Einfluss freuen. Die Scham der Gläubigen, ohne das Tötungsritual nicht auskommen zu können, vermochte nur ertragen zu werden, wenn tatsächlich alle beim Morden mitmachten. Opferverweigerer, welche die Hostien, die Sühneopfer, ablehnten, mussten selbst im nächsten Spiel eine tragende Rolle übernehmen oder wurden anderweitig bestraft, denn sie hatten sich außerhalb der blutvergießenden Gemeinde gestellt. Außerdem sagte man gerade ihnen die schlimmsten Opferpraktiken nach. So hat sich ein gewisser Apollonius von Molon für den jüdischen Tempel einen goldenen Eselskopf imaginiert, dem jährlich in großer Heimlichkeit ein üppig gemästeter Griechenjüngling darzubringen war.
Das Denken der Menschen ist durch die Kataklysmen der Sintflut von Grund auf umgestülpt worden. Die ursprüngliche Friedfertigkeit und Faulheit verwandelte sich in ihr Gegenteil. Seitdem sehen sie die Welt weniger als Lebensraum denn als Schlachtfeld an, auf dem ein immerwährender Krieg herrscht zwischen guten und bösen Kräften, zwischen den Heerscharen des Lichts und der Finsternis. Die körperlich Stärksten und Leistungsfähigsten rückten überall an die Spitze und beherrschten die Gemeinwesen, womit gleichzeitig in der Regel auch die Unreifsten und geistig Ärmsten zur Macht befördert wurden. Sie pflegten die Grundlage ihrer Herrschaft, den Massenwahn, und nahmen ihn in Dienst für ihre kriegerischen Unternehmungen. Hervorzuheben sind die Nordvölker, die längere Zeit unter Dunkelwolken leben mussten und daraufhin erbleichten. Deren Männer bekamen eine außergewöhnlich gewalttätige Natur, weshalb sie bevorzugt als Legionäre verwendet werden. Das niedere Recht des Stärkeren fasste nachhaltig Fuß und ist bis in meine Tage Triebkraft der Geschichte.
Die für einen Gottsucher wichtigste Frage stellte sich nach dieser Diagnose: Wonach verlangte der Befund, den ich erhoben hatte? Hier wies Jeremias, von den Propheten derjenige, der meinem Herzen am nächsten steht, die Richtung. Der Mensch war als Einzelner ins Auge zu fassen. Er bedurfte einer Verinnerlichung des Gesetzes. Sein privates Verhältnis zu Gott musste neu begründet werden, ohne vermittelnde und makelnde Instanzen dazwischen. Die Gotteserkenntnis konnte reifen und zu lebensdienlichem Verhalten führen, wenn der Mensch gleichsam mit einem gewandelten Herzen nach inniger Verbindung zu Gott strebte. Unter dieser Voraussetzung vermochte der Einzelne klare Einsicht in die Gebote des Lebens zu gewinnen und den Vorrang geistiger Werte zu erkennen. Er wurde zur Selbsterziehung befähigt, denn ihm wurde damit der Keim zur Vernunft eingepflanzt. Seine Furcht und sein Irren brauchte er dadurch nicht mehr per Körperkraft oder Waffengewalt zu bewältigen; eine neue Religion des Herzens, auf das private Gewissen gegründet, würde die Gottsuche beflügeln und zur Weisheit der Lebensliebe führen. Aus dem aufrichtigen Verlangen nach Vernunft und Bildung würde unmittelbar die Annäherung an das Wesen Gottes erwachsen, an die Liebe. Gott hatte seinem Geschöpf ein Herz zum Denken gegeben, damit es in der ihm geschenkten Wahlfreiheit für sein Wollen den richtigen Weg finden konnte. Und wenn die Menschen von ganzem Herzen nach Gott forschten, so ließ er sich gern finden, darauf war Verlass, das war so sicher wie das Amen in der Synagoge.
Jeremias mit seiner feinfühligen Natur hatte sich nach einem Leben in Stille und Liebe gesehnt und musste doch mit Worten kämpfen. Er hatte den Untergang Jerusalems vorausgesagt und die unfähigen Könige umsonst gewarnt. Er war als Verräter beschimpft und aufs Äußerste gequält worden. Er war in seiner Sendung gescheitert. Trotzdem war seinem Beispiel zu folgen.
Auf jeden Fall ließ sich das Heil nicht von irgendeinem Anführer erwarten. Nicht von Gefolgschaftsversprechen oder Glaubensbekenntnissen ließ sich Hilfe erhoffen, sondern allein von der Treue zum Gesetz der Liebe. Die Zeitalter eines Noah, Abraham und Moses waren vorbei und vergangen, ebenso die der Propheten, darin waren sich die meisten Rabbis einig. Auf solch altertümliche Weise würde es nicht mehr gelingen, die unreifen Kinder Gottes zur Mündigkeit zu erziehen, auf dass sie das Gebot der liebenden Zuwendung zu allen Geschöpfen erlernten. So konnte sich der gerettete Rest nicht an Erkenntnis sättigen und in den rettenden Rest verwandeln.
*
Auf die Küstenstraße einschwenkend, die an einer fruchtbaren Ebene entlangführt, wurden wir bald des mittelländischen Meeres ansichtig, des Untiers, das mich hatte verschlucken wollen. Heute lag es wie ein blauer Lappen, mimte auf schlapp und harmlos, kaum kräftig genug, den Strand zu belecken. Ich hatte mir, vor meiner ersten großen Seereise, tagelang die verschiedenen Schiffe mit dem Ziel Italia angeschaut, unschlüssig und ängstlich, wem ich Landhase mich anvertrauen sollte. Schließlich hatte ich mich für die Atropos entschieden, eine Corbita, tiefschwarz gestrichen, schöngeborded mit schlanken Linien, nicht so rundlich wie die üblichen länglichen Schüsseln des marinen Handels. Es hieß, sie sei vormals als Kriegsschiff gegen Piraten eingesetzt worden, was mir ebenfalls auf Seetüchtigkeit hinzudeuten schien. Am Bug imponierte eine gigantische rote Schere: Bugspriet und Vorstenge waren als Scherenblätter gestaltet, das Eselshaupt als Schwenklager, die Griffe waren beiderseits auf die Bordwand gemalt und liefen in böse starrenden Augen aus. Vermutlich eine magische Vorrichtung das Ganze, um widrige Winde abzuschneiden. Leider hatte sich meine Wahl als falsch erwiesen. Die Reise war zuerst erfreulich rasch verlaufen und die meiste Wegstrecke geschafft, als urplötzlich wuchtige Böen einsetzten und uns ein kalter Sturm aus Nordost packte, der von Epiros herunterfegte. Klug wäre es gewesen, beizudrehen und dem Wind nachzugeben. Das jedoch hätte bedeuten können, womöglich wochenlang in einer libyschen Syrte gefangen zu sein, was viel Ärger und erhebliche Kosten verursacht hätte. Der Nauarch hatte sich entschieden, schräg zum Wind durchzuhalten, um in Lee von Bruttium zu gelangen, was aber missriet. Eine gewaltige Woge drückte das Schiff auf die Seite bis zum Kentern und zerschlug es dann. Ich erhielt meine erste ernsthafte Lektion darin, was das Wort Angst bedeuten konnte. Wenn der Sommer nicht bereits begonnen und das Meerwasser erwärmt hätte, Mitte Juni, wäre es den Überlebenden wohl kaum möglich gewesen, sich bis zum nächsten Tag zu halten, da Rettung nahte.
Ich hatte bis dahin Angst in physischem Sinne noch nicht kennen-
gelernt, sondern vielmehr unter seelischen Erschütterungen gelitten. Die langsam reifende Erkenntnis, auf was für eine Art von Erde es mich verschlagen, hatte mich oft genug das logische Entsetzen gelehrt. In Galiläa verbanden sich körperliche und seelische Furcht auf eine Weise, die ihre Wirksamkeit gegenseitig verstärkte. Und auch auf unserem Ritt nach Caesarea sollte mir ein letzter Anfall von Angst und Schrecken nicht erspart bleiben, der völlig unerwartet über mich hereinbrach, wie eine verspätete Bö, ein letzter Blitz nach überstandenen Unwettern.
Es passierte anfangs der Hauptrast, die Sonne im Zenit, nach dem Absitzen, als die Tribunen und ich in zwangloser Runde beieinanderstanden. Man hatte es für bedeutsam gehalten, mich darin zu unterrichten, dass beileibe nicht nur dem wilden Eber der Zehnten Legion der Ruhm für die Eroberung Jotapatas gebühre, sondern auch diversen anderen Heeresverbänden, die mir namentlich aufgezählt wurden. Ratlos hatte ich, um ebenfalls etwas zum Austausch beizutragen und von mir zu erzählen, eine meiner Meinung nach völlig harmlose Bemerkung gemacht, über mein des Reitens lange entwöhntes Gesäß. Was daraufhin geschah, traf mich wie eine neue Waffe bis ins Mark und stürzte mich in Augenblicke höchster Panik. Die mich umstehenden Tribunen warfen ihre Köpfe in den Nacken, rissen ihre Mäuler auf und brüllten los, ein halbes Dutzend Augenblicke lang, dann brach die Eruption ab, wobei der Jüngste etwas nachklappte. Erstarrt, wie vom Donner gerührt, bedeckt von Gänsehaut, durchlebte ich das unbekannte Schrecknis. Wochenlang hatte ich furchtlos gegen die Römer gekämpft, aber das erste Mal richtig Angst vor ihnen bekam ich, als sie anfingen zu lachen.
Dieses Begebnis erwähne ich, weil ich in den folgenden Jahren viel mit militärischen Dienststellen zu tun hatte und eine geschickte und fachgerechte Handhabung der Heiterkeit mir den Umgang mit ihnen wesentlich erleichterte. Darüber hinaus ist das Lachen eine der beiden natürlichen Stärken, über welche die Menschen verfügen und für einen Agenten Gottes also eine naheliegende Notwendigkeit, sich in den Regeln der Komik zu üben. Was den militärischen Bereich betrifft, sind hier klare Traditionen anzutreffen, die lediglich bei intimer Kameradschaft aufgehoben werden. Zunächst obliegt es dem höchsten anwesenden Rang, durch unmissverständliche Signa klarzutun, dass sein augenblickliches Gemüt nach einer ironischen oder witzigen Bemerkung verlangt. Wenn der Oberste klug und verständig ist, lässt er zudem erkennen, wie stark seine serene Empfindung ist und welche Art der Reaktion er erwartet oder sich wünscht. Solche Hilfen sind besonders für den nächsten im Rang wichtig und maßgebend, denn er muss, als Anführer aller Untergebenen, den Zustand des Obersten einschätzen und für ein angemessenes lachhaftes Echo sorgen. Sämtliche anderen in der Befehlskette richten sich nach dem Zweithöchsten, wobei jeder sich an seinen direkten Vorgesetzten hält, sodass eine gewisse Verzögerung in der Abfolge eintreten kann und der Rangniederste noch ein Lachgeräusch abgibt, während der Taktgeber das seine bereits beendet hat. Das Grundmuster variiert jeweils nach Art und Anzahl der vorhandenen Ränge und gibt durch die Qualität seiner Durchführung profunde Auskunft über die Stimmung in der Truppe.
Nachdem ich mich ein wenig erholt hatte, stach mich der Hafer, und es prickte mich, dieses unbekannte Gelände der Gelalogie, der militärischen Lachkunde, mit kleinen Schritten zu erforschen. Ich wählte dazu mit Bedacht einen langbärtigen Witz, der schon beim Bau des ersten Tempels als veraltet zurückgewiesen worden wäre, und lauerte auf eine passende Gelegenheit, ihn anzubringen. Die Eruption der Heiterkeit erfolgte prompt, ich erzielte sogar eine doppelt so lange Äußerungsdauer wie ehedem und, eine wohltuende Erfahrung, durfte erfreut feststellen, dass beim zweiten Erleben der Schrecken bereits nachgelassen hatte.
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Am Nachmittag, als wir unsere Pferde zeitweilig am Zügel führten, holte mich mein halbes Jahr Galiläa ein. Länger hatte es ja nicht gedauert, wie ein Blitz war es in mein Leben gefahren. Nichts in meinem bisherigen Dasein hatte mich auf das vorbereitet, was mir vom Damaskustor an abverlangt wurde. Ein Rollenwurm und Schlaukopf war zum Strategen aufgestiegen. Warum gerade ich? Sicher, ich war beliebt, hatte Fürsprecher ob meines Erfolges in Rom, befand mich im richtigen Alter und gehörte zu den führenden Friedenspharisäern. Im Grunde verfügte unsere Partei kaum über einen anderen geeigneten Kandidaten. Schließlich hatte mich der Blick Jochanans getroffen, der mich weiteren Nachdenkens enthob. Aber warum hatten die Zeloten bereitwillig unserem Vorschlag zugestimmt? Erst nach ein paar Wochen meiner neuen Amtswaltung war mir klar geworden, dass die Kriegspartei Galiläa für einen verlorenen Außenposten hielt, der von der römischen Militärmaschine als Allererstes mit voller Wucht getroffen werden würde. Welcher Blödmann wollte sich darauf einlassen? Sie hatten einen solchen Trottel gesucht und in mir den richtigen Deppen gefunden.
Seit ich von Bord der Thetis gegangen, war ich ein Getriebener, nicht mehr Herr meiner Entscheidungen. Ich hatte die unsägliche Euphoria nach der Niederlage des Cestius, des Statthalters in Syrien, erlebt und war in die hitzigen Auseinandersetzungen involviert worden, die vor allem im Tempel und in seiner Umgebung stattfanden. Im Ergebnis war ich zum Sterben geschickt worden. Allerdings verfiel man in Jerusalem nach gar nicht langer Zeit darauf, dass ich abberufen werden müsse, aus lachhaften Gründen, was mich gewaltig aufregte. Die Vorwürfe gipfelten darin, dass die von den Römern geduldete Alleinherrschaft mein angestrebtes Ziel wäre. Josef I., Tyrann von Galiläa! Welche Ehre! Ich spielte mit der Abordnung, zu der sinnigerweise auch Kriegspharisäer gehörten, kleine Spielchen, bis sich der Schwachsinn im Sande verlor. Hinter der Sache steckte nicht zuletzt Ananos, ein übler Schurke, Lügenmann und Frevelpriester, der die Würde des Hohenpriesters bekleidetete, als fünf Jahre zuvor der Prokurator Festus überraschend verstorben war und ein neuer Präfekt auf sich warten ließ. Er hatte die Machtlücke ausgenutzt und wider alle Gesetze Jakobus den Gerechten, den Presbyter der Essener, schon lange ein Dorn in seinem Auge, von den Treppen des Tempels stürzen und steinigen lassen. Zum Vorwand diente ihm, dass der Verehrte, der von den Essenern und vielen anderen als das Gewissen des Volkes angesehen wurde, das Allerheiligste betreten hatte. Das wiederum konnte gelingen, weil die Essener ihre Festtage nicht nach den Vorgaben der sadduzäischen Priesterschaft einteilten, sodass sich Verschiebungen zum gewöhnlichen Kalender ergaben.
Jakobus war mit den Worten gestorben: »Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«
Ananos war drei Monate nach seiner Einkleidung vom Nachfolger des Festus wegen seiner Eigenmächtigkeit aus dem Amt entfernt worden und zog seitdem im Hintergrund die Fäden.
Vor der Abreise nach Galiläa hatte man mir eine Liste mit über zweihundert Städten und Dörfern in die Hand gedrückt, für die ich zuständig sein sollte, und den militärischen Auftrag erteilt, die Römer so lange hinzuhalten, dass sie einen Angriff auf die Hauptstadt ins nächste Jahr verschieben mussten. Wie aber würden die Befehlshaber in Jerusalem die Zeit des Aufschubs nutzen? Ich hegte da keine großen Hoffnungen. Meine Mitgesandten unterstützten mich meist, bisweilen jedoch nicht. Einer hatte sich noch im Winter, kaum dass wir uns um erste Ordnung bemühten, erheblich verletzt und seinen Amtspflichten nicht länger nachkommen können. Er hatte sich bei dem Versuch, einen der selbst gefüllten Beutesäcke eigenhändig auf seinen Wagen zu wuchten, einen schweren Bruch gehoben. Eine große Anzahl der jüdischen Einwohner Galiläas hatte das Weite gesucht, sich meist auf die Flucht nach Süden gemacht. Wenn ich auf Flüchtlinge traf, ließ ich sie vorüberziehen. Neben ihrem bisschen Habe führten viele ihr Wichtigstes mit sich, jüdische kanonische und andere fromme Rollen, die bis Kriegsende in den Höhlen nahe Jericho versteckt werden sollten, wo ich mein Essenerjahr verbracht hatte. Sie gehorchten einer Aufforderung aus der Schrift, die sinngemäß lautet: Nimm die Worte Gottes und stecke sie in ein Tongefäß, damit sie lange Zeit erhalten bleiben. Auf meinen mehr oder weniger sinnvollen Kreuz- und Querzügen war mir aufgegangen, dass ich als eine Art Räuberhauptmann fungierte. Ich nahm plündernde Banden in meine Dienste, die ich mit Geld von denjenigen bezahlte, welche ansonsten überfallen worden wären. Ich hatte schwere Fehler gemacht. Aber was war falsch und was war richtig im Krieg? Was heute gut erschien, konnte sich morgen als schlecht erweisen. Die Hoffnung auf Beherrschbarkeit der Lage wurde oft genug bitter enttäuscht. Mein Handeln konnte den Verfügungen planerischer Vernunft nicht folgen. Und meine Stellung als Stratege? Sie half mir manchmal nicht im Geringsten. Wenn ein Anführer sich auf diese seine Eigenschaft berufen und in ihr beweisen wollte, hatte aber keine ausreichenden Machtmittel an der Hand, so war jede Autorität von den Interessen der Umgebung abhängig. Die Schar meiner unmittelbaren Leibtrabanten zwang mich, in schwierigen Lagen ihr Verlangen zu dulden. Dass ich vom Volk in ein Amt eingesetzt worden war, kümmerte die wenigsten. Ich wurde verantwortlich für Dinge, die andere verfügt hatten, und musste immer wieder fremdem Willen gehorchen. In Justus von Tiberias und Johannes von Gischala erstanden mir gefährliche Feinde aus dem eigenen Volk. Der erste, ein auf allen Schicksalswogen oben schwimmender Abschaum, sollte mir dereinst mein Alter vergällen, der zweite trug wesentlich zum Untergang des Landes bei, wovon später zu sprechen sein wird.
Das Erscheinen des römischen Feldherrn Vespasian in Galiläa setzte meiner kurzen Statthalterschaft ein jähes Ende. Ich hatte meine Truppen in der Nähe von Sepphoris, dem Hauptort der Griechen, gesammelt und war aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, denn Zehntausende strömten zusammen. Was sollte ich davon halten? Es war in hohem Grade unheimlich für mich, konnte es doch keinen Zweifel darüber geben, dass meine Volksgenossen sich der Illusion hingaben, jetzt stünde die Ankunft eines messianischen Helden unmittelbar bevor. Wann sollte der Messias sonst vom Himmel steigen, wenn nicht zu Beginn des Krieges, beim ersten ernsthaften Angriff des Feindes? Logische Momente, die unerfüllt blieben. Kein Wunder geschah, keine himmlische Hilfe deutete sich an. Die Massen zerstreuten sich, nicht etwa kurz vor dem Kampf, sondern ehe sie die Römer überhaupt zu Gesicht bekommen hatten. Mit wenigen Truppen sich selbst überlassen, sah ich, dass eine offene Feldschlacht sich erübrigt hatte. Ich setzte ein Schreiben an die Befehlshaber in Jerusalem auf, schilderte ihnen wirklichkeitstreu die Lage der Dinge und verlangte Auskunft über das weitere strategische Vorgehen. Wollten sie Frieden schließen, sollten sie es mir umgehend mitteilen; hätten sie die Absicht, mit den Römern entschlossen Krieg zu führen, sollten sie mir ein Heer senden, das dem Kampf gewachsen sei. Anschließend zog ich zunächst nach Tiberias, dann nach Jotapata. Die mir Verbliebenen konnte ich nicht enttäuschen, sie vertrauten auf mich. An Flucht dachte ich nicht. Wohin auch? An die Wasser von Babylon, um sie mit meinen Tränen anschwellen zu lassen? Ich zog mit denen, die zu mir aufschauten, und kämpfte an ihrer Seite, solange es möglich war. Inzwischen waren meine kläglichen militärischen Bemühungen Geschichte geworden und bedeuteten nichts mehr.
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Nach und nach verdichteten sich längs der Straße kriegswirtschaftliche Werkstätten. Rechter Hand vor allem Navalia, Werftanlagen, Stapelplätze und Reeperbahnen. Der Hafen in Caesarea besaß ein beträchtliches Fassungsvermögen, reichte jedoch offenbar längst nicht mehr aus. Linker Hand die unterschiedlichsten Anlagen, die des Süßwassers aus dem Aquädukt bedurften, darunter viele Stallungen für Tiere, Schmieden und Lager für Kriegsgefangene, nach denen Jakob und ich unsere Hälse reckten.
Ohne einen besonderen Grund dafür zu haben, war ich davon ausgegangen, dass wir Caesarea noch selbigen Tages erreichen würden, und sollten wir um Mitternacht ankommen. Unser Ritt hatte denn auch flott an Strecke gewonnen, ohne die Pferde über Gebühr zu belasten. Doch je näher wir dem Hauptquartier kamen, desto weniger Anziehungskraft schien das Ziel auszuüben. Schließlich bummelten wir dahin und ließen uns ausgiebig bestaunen. Wir bogen in einen weitläufigen, dicht belebten Rasthof ein, und während die Rang-
niederen samt Jakob sich um die Tiere kümmerten, betraten die Tribunen und ich frisch aufgestreutes Sägemehl und setzten uns an einen Tisch in der Rösterei, in der, das roch ich sofort, kein Schwein am Spieß steckte. Das gab mir zu denken, und ich betrachtete den ranghöchsten Offizier, Placidus mit Namen, unseren Präfekten, der mir gegenüber saß, mit neuen Augen. Er schien sich in irgendeiner Verlegenheit zu befinden. Wo war die Ausgelassenheit, die Fröhlichkeit der letzten Stunde geblieben? Er schwiemelte herum, wie gut doch das Ankommen den müden Knochen tue, wie sich reichlich nach einer großen Anstrengung, nach einem langen Ritt, dem Reisenden des Abends die Gelegenheiten zur Entspannung eröffneten, bei leckerer Speis und glutvollem Trank und so fort. Was bewegte den guten Mann? Was steckte hinter der Schwurbelei? Gänzlich aus der Fassung brachte mich, als er in seiner Aufzählung von Genussmöglichkeiten ein Bad im Meer erwähnte. Ein Bad? Im Meer?! Reitervolk beim Planschen im salzigen Element?
Wenn er mir die Mitteilung gemacht hätte, der Mond bestünde aus verschimmeltem Ziegenkäse, er hätte mich nicht in größere Verwirrung stürzen können.
Ich bat meinen Archivar um Hilfe, er sollte in den Fächern der Erinnerung fahnden, denn das ungereimte Zeug konnte eigentlich nur bedeuten, dass er auf etwas Poetisches anspielte. Wollte er mir beibiegen, dass er ein gebildeter Militärknochen war? Falls ja, woraus würde er schöpfen? Aus dem Bekanntesten, dem Ältesten? So hätte ich es gemacht. Also: Jemand hatte gebadet, nein, eine Gruppe. Am Abend eines Tages. Nach einer Reise. Und siehe, schon hatte ich es.
Mir wurde klar, was er von mir erhoffte.
Ich legte die Stirn in Falten, blickte schwermütig mein Gegenüber an und seufzte sorgenvoll.
»Es liegt mir etwas auf dem Herzen ...«
»Ja?!«
»... ich befinde mich in großer Verlegenheit ...«
»Das darf nicht sein. Eine offene Rede unter Deputierten ist in Vertraulichkeit geborgen, bleibt gewissermaßen im privaten Kreis.«
»Ihr löst mir die Zunge mit eurer Wärme und dem Rückhalt, den ihr mir gebt. So will ich es wagen: Seit heute die Sonne ihren Zenith verließ und sich dem Okzident zuneigte, habe ich über das schwer fassbare Wesen der Gottheit nachgesonnen. Ist es nicht so, dachte ich bei mir, dass das erhabene Gestirn, der Sol Invictus, die vollkommenste Verkörperung des Göttlichen ist? Der Lichtbringer, der Luzifer, spendet Leben und ruft einen König unter den Menschen, der das Leben hegt und pflegt. Einen guten Hirten seiner Herde. Und mir war, als träumte ich. Ich schaute eine Harmonie, die aus dem Wesen der Gottheit hervortrat, die in wohlgeordneter Schönheit geradezu eine Erwartung zu enthalten schien.«
Ich sülzte ihn so lange voll, bis er es nicht mehr aushalten konnte und mich fragte, worin denn die viel umkreiste Erwartung bestünde.
»Mir war, als wäre es ein würdiger und ritueller Dienst der Gottesverehrung, wenn die Botschaft, die wir mit uns führen, bei Aufgang des höchsten aller Götter die Mauern der römischen Macht erreichte, wenn die gute Nachricht sich während des Aufstiegs der Sonne im Hauptquartier verbreitete.«
Er strahlte mich an. Ich war erleichtert, meine neue Lektion bestanden zu haben.
In seinen Augen stand ich über ihm, und ich hatte die Losung ausgegeben, die er gern selbst befohlen hätte. Nebenbei, das Verhältnis zwischen Erstem und Zweitem ist ein wichtiges Fach für jeden Agenten Gottes, der in der militärischen Hierarchie zu tun hat. Es muss von zwei Seiten ins Auge gefasst werden, vonseiten des einen wie des anderen. Für den Ersten ergaben sich Probleme, wenn er zwar formal oben stand, aber nach teils traditionellem, teils geschriebenem Recht die Zuständigkeit und Selbstständigkeit in der Befehlsgewalt des Zweiten zu respektieren hatte. Wenn zum Beispiel ein Erster sich einen bestimmten Befehl vom Zweiten wünschte, aber jeden Anschein von Einmischung vermeiden musste, konnte er sich einen ihm zustehenden Befehl ausdenken, der den anderen nötigte, den heimlich gewünschten zu erteilen. Für den Untergebenen gab es Schwierigkeiten, wenn sein Vorgesetzter unfähig, stur oder unerfahren war. Jeder Zweite musste seine Strategie, die erwünschten Befehle zu erhalten, jeweils genau an die Eigenart des Ersten anpassen. Vor allem, wenn junge, ehrgeizige Senatorensöhne, die von nichts eine Ahnung hatten, ihre ersten Lorbeeren verdienen wollten, war besonderes Fingerspitzengefühl vonnöten.
Man schien beglückt, einen derart verständigen Propheten bei sich zu wissen. Jakob und die anderen Männer gesellten sich zu uns. Ein Centurio wurde ausgelost, um vorauszureiten und unsere Ankunft zu melden. Knusprige Hähnchen wurden aufgetischt, Schüsseln von geröstetem Gemüse und Körbe mit Zwieback, bis wir die Hände zum Abwinken erhoben.
Nach dem Mahl gingen wir zwischen Schiffen, die auf den Sand gezogen worden waren, hinunter und lagerten uns am Ufer der See. Die Becher wurden rechts herum vollgegossen mit rotem, unvermischtem Wein. Als die Sonne versank und Dunkel die Erde bedeckte, legten wir uns zum Schlummer am Strand des rauschenden Meeres.
Begleitet von tastenden, rosigen Fingern am Morgenhimmel erging ich mich längs dem Gestade der stärker nun flutenden See und öffnete mein Herz dem Gebet. Wenn ich letzthin des Betens weniger Erwähnung getan, so bedeutet das nicht, dass Jakob und ich darin nachgelassen hätten. Wir beteten bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Aber würde ein Fisch viel übers Wasser sprechen? Er lebt darin. Von den Tribunen folgten mir drei in gehörigem Abstand, besorgt um ihren lebenden Schatz.
Am Lagerplatz zurück, erspähte ich unter den Männern einen, der den Ärmelrock in der Armbeuge trug. Ich wandte mich zu meinem Tribun, zeigte auf das bunte Ding und sagte in ruhigem, aber bestimmtem Ton:
»Nein.«
Im Dienst eines Agenten müssen Grenzpfähle gesetzt werden, sonst beginnt die Last der Verstellung ihren Ertrag an Nutzen zu mindern. In einer solchen Lage ist es entscheidend, seine Ablehnung in endgültiger Weise vorzubringen, sodass keine Zweifel entstehen können. Dadurch wird verhindert, dass ein Gegenüber durch schmeichlerische oder bezaubernde Redeweise Risse der Zermürbung hervorruft, bis im schlimmsten Fall die ursprüngliche Mauer des Widerstandes zerbröselt.
Mein Tribun lachte mich an: »Um Himmels willen, nein, aber wir haben etwas anderes, ein Geschenk im Namen der fünften und zehnten Legion.«
Mir wurde eine himmelblaue, seidig glänzende Tunika entfaltet, an den Rändern gesäumt von silbernen, geometrischen Mustern. Ich suchte Jakobs Gesicht und forschte in seiner glatten Miene. Neben seinem linken Mundwinkel erschien die Andeutung eines Grübchens.
»Ihr seid zu gütig.«
Ich dankte dem Mann mit warmen Worten für das Präsent, belohnte ihn mit einem Lächeln, wie es Leibwächtern zukommt, und schlüpfte in mein neues Gewand. Es kleidete mich elegant und war angenehm zu tragen. Hektor wieherte, als er mich in Hellblau erblickte, der eigenen Farbe. Vor dem Aufsitzen wurde eine Corona aller gebildet. Mein Tribun gab den Tagesbefehl aus und belobigte die gesamte Mannschaft, aber auch Einzelne, die jeweils vorzutreten hatten, ob ihrer vorbildlichen Pflichterfüllung. Der Krieger giert nach Lob wie der treue Hund nach einem Brocken Fleisch. Es macht ihn willens, das zu tun, wozu er imstande ist. Am Schluss bekam ein Centurio seine Gemütsnahrung:
»Nicht zuletzt danke ich Abebutius für seine ingeniöse Idee, unserer Botschaft den Adler voranfliegen zu lassen und dafür, dass er ihn so wunderbar poliert hat.«
Alle wandten ihre Augen auf den Adler und sahen, wie schön er glänzte.
Der Tribun ließ eine silberne Münze springen, die der Belobigte aus der Luft pflückte. Ich vermeinte zu hören, wie Jakob, der neben mir stand, mit den Zähnen knirschte und spendete ihm Trost mit den geflügelten Worten:
»Die Tat des Gerechten geschieht im Verborgenen und ihren Lohn kassiert ein anderer.«
Jakob reckte die Nase spitz in den Wind und fasste die Sachlage aus seiner Sicht zusammen:
»Schön ist das nicht.«
Wir saßen auf, stimmten unsere Gangart auf das Aufsteigen der Sonne ab und gelangten nach einer Stunde vor die Tore der Stadt Caesarea.
Ihre Einwohnerschaft hatte einst zur Hälfte aus Juden bestanden. Jetzt gab es keinen meines Volkes mehr, der hier wohnte, außer Gefangenen wie uns. Die Ausmordung einer halben Stadt, die lediglich wenige Stunden gedauert, hatte den Krieg eröffnet.
*
Vor dem Stadttor, einem großen, wuchtigen Portikus, standen die Wachen in Habacht, als hätten sie uns erwartet. Nachdem unsere Turma zur Ruhe gekommen war, zeigte sich jedoch ein anderer Grund. Vor einem Centurio, vermutlich dem Präfekten der Torwache, stand ein Tribun, die Arme in die Seiten gestemmt. Uns würdigte er keines Blickes. Er schrie den Centurio an, stauchte ihn wohl wegen irgendeiner Nachlässigkeit zusammen. Er stellte dem Untergebenen in Aussicht, dass er ihm, bei einer weiteren Verfehlung wie der vorgefallenen, die Geschlechtsteile abreißen, sie in einen Achterknoten schlagen und über dem Stadttor aufhängen werde, »damit jedem klar sein, dass hier Zucht und Ordnung herrschen«.
Dann brüllte er dem Niederen, obschon der ihm dicht gegenüber stand, mitten ins Gesicht:
»Verstehenwiemeinen?«
Der Achterknoten ist einer der ältesten der Knotenkunde meiner Erde und ein Sinnträger gegenseitiger Zuneigung, Achtung und Treue. Man schürzt ihn, indem das zu Verknotende klariert und glatt gezogen wird, damit eine kleine Bucht hineingelegt werden kann. Die Bucht ist um 80 Grad zu einem Auge zu verdrehen. Das Auge nochmals um denselben Grad verdrehen. Es entsteht ein achtförmiger Ellenbogen. Das Arbeitsende durch das Auge ziehen. Abschließend das, was verknotet werden soll, an beiden Enden dichtholen. Wenn König Salomo aufbrach, um seine Freunde im Libanon zu besuchen, waren die Seilschaften seiner Sänften und Wagen mit Ketten von Achterknoten geschmückt.
Der fremde Tribun drehte sich, wie verwandelt, zu unserem Anführer um und fragte leutselig und heiter:
»Was geben? So früh unterwegs?«
Ich gehe näher auf diesen Vorfall ein, weil jener Tribun noch eine wichtige Rolle im weiteren Verlauf der Ereignisse spielen sollte. Er war für die Securitas des Hauptquartiers zuständig und ihr oberster Curator. Seine auffallendste Eigenart war, dass er den Gebrauch von gebeugten Verbformen für überflüssig erachtete und ausschließlich in Grundformen redete. Vielleicht scheute er die Sachverhaltsfestlegungen des zentralen Teiles der grammatischen Maschine. Aus Sicherheitsgründen. Sein Spitzname war denn auch die zuletzt zitierte Abschlussbemerkung, mit der er stets seine Belehrungen zu beschließen pflegte. Sein Name war Cornelius. Jakob und ich nannten ihn »das Hörnchen«.
Mein Tribun wandte sich an mich und meinte, zur aufgehenden Sonne blickend, dass sie so funkelnd von den Bergen steige, als habe Helios von eigener Hand sein Gespann aus flüssigem Gold und Feuer gezäumt.
Ich nickte. Es würde ein heißer Tag.
Wir klapperten durch die Toranlage, um danach strohgedämpft den riesenhaften Augustustempel anzusteuern, der, weithin leuchtend, auf einer künstlich aufgeschütteten Anhöhe steht. Das Hauptquartier konnte sich manch Luxus leisten und unseren Begleitern war die Freude darüber anzumerken, dass sie ein paar Tage dessen teilhaftig werden würden, bis die Legion eintraf und ihr Lager bezog. Vor dem Gotteshaus hatten die Flamen des Erhabenen Vorsorge zu unserer Begrüßung getroffen. Es wurde ein imposantes Brimborium veranstaltet, das jeder Beschreibung spottet. Bereits als wir die Zufahrt hinaufritten, schallte es uns blechern entgegen. Von allen musikalischen Tönen peinigten solche meinen Körper am heftigsten und wurden bloß noch von jenen übertroffen, die aus Ziegenbälgen mit angenähten Flöten entwichen. Es wurde umeinanderstolziert, deklamiert und geweihräuchert. Den Höhepunkt bildete ein mit rituell getragener Stimme weithin und lauthals verkündeter Satz unseres Obersten:
»Ich bringe das Evangelium, sein Name lautet: Titus Flavius Vespasianus.«
Er gebrauchte mit dem Wort Evangelium eine Fachvokabel, die im Orient seit alters her dem Volk die Thronbesteigung eines neuen Herrschers ankündigte. Ich hatte sie deshalb gegenüber Vespasian angewandt.
Oben, unter dem Giebel, stand: »Dies ist der Mann, der längst von den Vätern verheißene Caesar Augustus, Sohn Gottes und Bringer der goldenen Endzeit.« Sohn Gottes meinte dabei, dass der Heilsbringer, adoptiert, auf dem Rechtsweg leiblicher Sohn des Gottes Julius Caesar geworden sein sollte. Außerdem hatte der Göttliche sämtliche Titel des Ostens vereinnahmt. Er nannte sich Pharao, Soter, Kyrios, Heiland, Licht der Welt, Erlöser der Menschheit und so weiter. Die Welt wurde mit Titeln gekitzelt.
An Jakob lernte ich eine neue Eigenart kennen, dass er nämlich angesichts von Feierlichkeiten zu starken Ermüdungserscheinungen neigte. Ich bemerkte das, kurz bevor ich selbst einnickte. Blech schreckte uns auf. Unser Trupp rückte ab. Durch letzte Zurufe, die hin und her flogen, erfuhr ich, dass sie über ihren Pferden einquartiert wurden, sich dem Trunk ergeben, die feinen Viertel erkunden und die Tempelfeierlichkeiten bestaunen würden. Vielleicht würde man sich in den Balnea treffen und wiedersehen. »Vielleicht«, stimmte ich zu, etwas zaghaft. Wir wurden zu unserem Gefängnis gebracht und der Gewahrsam unserer Turma endete vor der Principia. Der Abschied von Hektor fiel mir schwer.