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Kapitel I Der Auftrag Gottes

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Hört, liebe Seelen, was mir widerfuhr auf meiner Suche nach Gott. Vielen von Euch ist meine Erde nicht unbekannt, und so könnte ich gleich hineinspringen in die Geschichte, an den Abend, als jener Tag begann, der die entscheidende Wende meines Weges anbahnte. Für die anderen jedoch, die einer Bekanntschaft meiner Erde noch ermangeln, möchte ich zuvor die Halt bietende, erklärende Begleitung reifer Seelen erbitten, und ich muss von Anfang an den Umstand nennen, der das gesamte denkende Leben dort beherrscht und durch den fast jede Gottsuche ausgezehrt oder erstickt wird. Dieser Umstand besteht darin, dass die Seelen, insbesondere die unreifen, ihre Träger kaum beherrschen können, und die Seelenträger von ihrer Natur so gestimmt sind, dass sie es als wahrheitstüchtig betrachten, sich gegenseitig ihre schönen und sehr zarten Leiber aufzubrechen. Sie machen das grob und heftig mittels verschiedener Gerätschaften, die meist eigens zu diesem Zweck fabriziert worden sind. Der dabei austretende Körpersaft verbreitet einen eigenartigen, schweren, süßlichen Geruch, der mich seit der Kindheit meines Leibes gequält hat. Sie übersehen, dass sie sich nach ihren Toden auf eine Weise miteinander werden beschäftigen müssen, die sie nicht abbrechen können. Die von der Leibeszerstörung Verschonten werden zu Haustieren erklärt und entsprechend benutzt.

Es ist, als ob die zur Heimstatt einer Seele ausersehenen Wesen sich gegen eine Beseelung wehrten. Das Geschehen erfolgt sowohl freiwillig als auch erzwungen. Ich war direkt daran beteiligt. Ich werde diese Dinge im Einzelnen nur dort schildern, wo es notwendig ist, so wenig wie möglich. Von bestimmten Pragmata, betreffend etwa die Leichname, werde ich zunächst überhaupt nicht sprechen. Für alles, was fragwürdig bleibt, sollen die Worte meines Berichtes nur einleitende Bemerkungen sein. Das Protokoll meiner Lebensrolle. Ich freue mich auf Eure wissbegierige Teilnahme, nach der ich mich schon lange gesehnt habe. Als Gottsucherin will ich das Augenmerk meinem Bedürfnis und Versuche widmen, irgend etwas zu tun, das geeignet sein konnte, auf irgend eine Weise die Beseelung der Menschen zu fördern. Ein abenteuerliches, waghalsiges, gefährliches Unterfangen auf meinem Erdenrund! Darüber will ich erzählen, von meinem Leben als Agent Gottes in einer Welt gottfernen Denkens.

Es war eine gute Stunde vor Sonnenuntergang, die Schwalben hatten sich emporgeschwungen, ich stand auf der Stadtmauer von Jotapata, zwischen den zwei nördlichsten Türmen, schnupperte in den ersehnten Abendwind und ließ meinen Gedanken freien Lauf: Die ersten Menschen des Paradieses hatten einst die falsche Wahl getroffen. Statt zuerst vom Lebensbaum zu essen, entschieden sie sich für die Früchte vom Baum der Erkenntnis, obwohl sie davor bei Strafe des Verderbens gewarnt worden waren. Erschaffen, um zum Gegenüber für Gott zu reifen, zum Coram Dei, verlangte es sie nach mehr Selbstherrlichkeit. Als Gott dann eine besondere Strafe dem Anschein nach nicht vollzog, sondern es beim Verlust des Paradieses bewenden ließ, wurde das so aufgefasst, als habe Gott sein Wort gemildert. Wie jemand, der wankelmütig oder geschwätzig ist. Ein kindliches Missverständnis. Ausweis der Unreife. Das Verbot war keine Order eines Herrn an seinen Sklaven, es war ein Akt der Fürsorge gewesen. Vorsorglich war es ausgesprochen worden, zum Schutz des jungen Denkens vor der noch übermächtigen Materia. Dass die Strafe auf sich warten ließ, hieß jedoch nicht, dass sie ausbleiben würde. Sie kam mit den Zeiten, indem die Menschen sie an sich selbst vollstreckten. Wenn dem Wunsch nach Freiheit kein Vermögen entsprach, nach der Erkenntnis zu leben, gab es keinen anderen Weg. Und so hatten sie sich in den ersten Brudermord gestürzt. Gott hatte ihnen in seinem Kummer immer zu helfen versucht, aber bis heute dünkten sie sich groß in ihrem Wahn, sie verlachten Gott und würgten einander.

Brauchte es mehr Worte, um das Wesentliche zusammenzufassen? Nein, sicher nicht. Jedenfalls fiel mir kein weiteres ein. Da stand ich, Josef ben Matatias, Priester aus Jerusalem, Statthalter von Galiläa, Stratege der jüdischen Truppen, Befehlshaber von Jotapata, und die Brise fächelte mir sachte den Duft von Bratspießen herüber, von großen Obelisken, auf denen sich ganze Ochsen drehten. Die Feuer glühten in knapp einer Meile auf der Anhöhe vor dem einzigen Zugang zu unserem Adlernest. Oben auf einem leicht abschüssigen Felsgrat erbaut, schwebte Jotapata erhaben, tiefe Schluchten rings im Rücken, die, ihrerseits von Hügeln dominiert, keine Möglichkeit zum Angriff boten.

Die Römer hatten rabiat die Zufahrt verbreitert und geglättet, um ihre Angriffe vortragen zu können. Ihre Belagerungswerke und Maschinen schienen heute nur von Wachmannschaften besetzt zu sein. Eigentlich ein Anblick, der einen energischen Ausfall förmlich herbeischrie. Wenn ich noch genügend Männer gehabt und wenn die noch über irgendwelche Kräfte verfügt hätten, ich hätte nicht gezögert. Auch am ersten Tag und noch einmal danach hatte es dort draußen eine ausschweifende Feier gegeben, mit reichlich Hörnertuten und Blechmusik, den grellen Posaunen als Höhepunkte. Jetzt begann auch der Widerschein der Feuer in den Himmel zu leuchten. Der Seewind hatte sich früh aufgemacht, als trage er Sorge, der Geselligkeit den heißen Sonnenglast vom Halse zu schaffen. Vielleicht wollte er aber auch bloß nach Art fahrender Sänger von saftdurchtränkten, kräutergewürzten Genüssen künden, die jede Vorstellung übertrafen und anderen, Glücklicheren vorbehalten blieben. Dabei kam uns nur etwas zu, wenn die von West einfallende Brise mal zufällig ein wenig nach Süden schlenderte. So wurden wir von der lässigen Beiläufigkeit des Boten, der vom ebenso unbekümmerten Treiben der Feinde kündete, zusätzlich verspottet. Ich wandte mich ab und hockte mich in den Schutz der Brüstung. Ich hatte meine Nase genug über die Mauer gehängt. Heute Nacht würden sie kommen. Satt, ausgeruht, mit kalten Herzen und frisch geschliffenen Waffen. Ich wischte ein Plätzchen sauber, zielte mit dem Hintern und lehnte den Rücken an.

Seit meiner Rückkunft aus Rom und erst recht seit der Wahl zum Strategen hatte sich der Sinn meines Lebens verloren wie eine Kamelspur in den arabischen Dünen. Wohin sich wenden? Ratlosigkeit war die schlimmste aller Sorgen. Denn was bedeutete sie? Von Gott verlassen zu sein! Nein, nicht verlassen natürlich, allein gelassen. Das war eine Premiere und sie war entsetzlich. Immer war bisher in meinem Leben rasch klar geworden, was Gott von mir wollte, welche Saat auszubringen, welche Ernte einzuholen war. Das hatte sich in Galiläa gründlich geändert. Von einem Sabbath auf den anderen war ich ausgesetzt worden. Tag um Tag hatte ich mich wirklich verlassen gewähnt und im Geheimen kläglich nach Gott geschrien, für mich einsame, elende, ängstliche Seele wenigstens Trost erfleht um der Unschuld und Redlichkeit willen. Erst spät war mir aufgefallen, dass ich zu wenig nachdachte und entschieden zu viel den Jeremias gab. Ich dachte nicht als Stratege, der ich doch angeblich war. Gott hatte mich ausgesetzt. Gut. Das bedeutete: Nun hilf dir selbst! Also hatte ich selbstständig aus eigener Beurteilung aller Umstände Gottes Willen zu erschließen, Schritt für Schritt. Das führte mich eindeutig auf eine höhere Stufe der Bewährung. Meine lange, sorgfältige Ausbildung machte wieder Sinn, allein, indem sie sich fortsetzte. Ich saß nicht mehr krumm auf meinem Pferd. Was war mit der Klärung der Lage gewonnen? Im Sattel eine gute Figur zu machen, war eine Sache, die richtigen Befehle zu geben eine ganz andere. Ich versuchte, den Mahnungen der Presbyter der Friedenspharisäer treu zu bleiben. Mauern gegen Räubergesindel bauen, Vorräte anlegen, Mäßigung und Ruhe verbreiten. Jochanan, der Älteste, hatte es in die Worte gefasst: »Du solltest durch vorausschauende Selbstbeschränkung dem unausweichlichen Gang der Dinge einen friedlichen Verlauf ermöglichen.«

Aber die Frage blieb nach wie vor: Was wollte Gott von mir? Tatsache war, dass meine anfängliche Verzweiflung noch bei Weitem übertroffen wurde durch die sich spätestens auf dem Weg nach Jotapata einschleichende Erkenntnis, dass eigentlich nichts anderes übrig bleibe, auch bei sorgfältigster und wiederholter Prüfung, was letzten Endes zu tun wäre, als in der Schlacht zu sterben. Also hatte ich mich entrümpelt in tiefer geistiger Nacht, bis ich leer war wie eine gut gefegte Geniza. Ich hatte akzeptiert, dass damit meiner Bestimmung eine Magerkeit zugewiesen wurde, die fast schändlich war, zutiefst verletzend, weil schmerzhaft ungerecht. Meine Bestimmung war so mager wie ich selbst. Bis hier nur sollte ich kommen und nicht weiter. Gott bedurfte meiner nur in minderem Ausmaß. Legen musste sich meiner Wogen Stolz. Grausame Erkenntnis, die aber gerade dadurch zusätzliche Katapulte von Lanzen der Selbstanklage aufrichten half: Was beschwerst du dich eigentlich? Du hast etwas an Gottes Verfügungen auszusetzen? Interessanter Gedanke! Zu wenig Selbstherrlichkeit für den großartigen Josef, was? Ja, ich war hart mit mir ins Gericht gegangen, und als ich auf diese Weise auch die letzten Körnchen Schmutz aus Ritzen und Ecken gefegt, hatte ich mein Schwert gezogen, um vor Gott zu treten. Ohne jede Hoffnung, mit nur wenig, eher gespannter, aufgeregter Furcht, hatte ich mich fortan immer mit den Ersten hinausgestürzt ins Gefecht, vom ersten Tag an, fast sieben Wochen lang. Jeden Augenblick hätte ich hinaufsteigen können, unter mir meine leere, bescheidene, zeitweilige Bleibe zurücklassend: durchbohrt, zerhackt oder eingedrückt. Jeder Herzschlag hätte der letzte sein können.

Doch Gott hatte mich abgewiesen. Mit feiner Ironia hatte mich so mancher Pfeil beim Verfehlen am Hemd gezupft, mit krachendem Spott hatten Steine meinen Helm bloß gestreift, mit grobem Witz hatte ein Speer mich zwischen den Beinen am Rocksaum an eine Planke geheftet, sodass die Rede ging, die Römer, da sie mich sonst nicht anders zu fassen kriegten, hätten versucht, mich an der Vorhaut festzunageln, jedoch in der Hitze des Gefechts vergessen, dass ich beschnitten sei. Erst gestern hatte ich den Vorstellungen Jakobs nachgegeben, unserem verrückten Plan und meiner eigenen Idee zugestimmt. Gott schätzte keine Überheblichkeiten, er wollte nur eines, meine Hilfe, auch wenn mir als Konsequenz daraus schwindelig wurde. Denn wenn mein Dienst weiterging, so gab es nur noch eine einzige Möglichkeit dazu, einen einsamen Weg, der hinaufführte ins Gebirg, den kein Steinbock, der bei Verstand war, wagen würde. Schmal, gefährlich, nein halsbrecherisch, ein Aufstieg ins Blaue hinein.

Jakob!

Ich sah Jakob die Außentreppe des »Josias«, des linken Nordturms, heraufkommen. An den Wachen vorbei, die vor sich hin dösten, winkte er herüber. Jakob, keine zwanzig, stammte aus Leptis Magna und hatte im Fuhrunternehmen seines Vaters Reisende mit den Sehenswürdigkeiten des Drei-Städte-Landes bekannt gemacht. Von der Lektüre der Makkabäerbücher berauscht, insbesondere vom Schicksal der Witwe Hannah und ihrer sieben Söhne, hatte er sich bei Ausbruch des Krieges eingeschifft, dorthin, wo es aller Wahrscheinlichkeit nach zu den ersten Kampfhandlungen kommen musste, nach Galiläa. Anfangs kreiste er am Rande meiner Leibwächter. Je mehr von ihnen fielen, desto näher kam er mir. Seit einer Woche war er der Letzte meines privaten Gefolges.

Anführer und letzte Leibwache waren während aller Kämpfe bisher ohne die kleinste Verletzung geblieben. Dafür hatten sich unsere Körper in alle Farben des Regenbogens gekleidet und auf den wunden Stellen half keine Salbe und kein Schwamm. An einem Tag wie heute, da das Schicksal Luft holte, einem Tag der Ruhe, meldeten sich alle Körperlichkeiten bis hin zu den feinsten Fasern und kleinsten Knöchelchen, von deren Dasein man nie etwas geahnt hatte. Angemessen war, der eigenen Befindlichkeit das an Augenmaß und Pflege zu widmen, was zum Erklimmen des ominösen Weges erforderlich schien.

Jakob brachte Abendbrot. Die Pampe, von der wir uns ernährten. Sie wurde auf ärztliche Anweisung angerührt, weil so die Flüssigkeit am längsten im Körper verbleiben würde. Unser Wasser ging zur Neige, auch aus blindem Kampfeseifer. Wenn man den Feind entmutigen will, lässt man sich zu manch einer Verschwendung hinreißen, die man im Nachhinein bitter bereut. Unsere Kehlen waren trocken wie Tonscherben, und die Zungen klebten an unseren Gaumen. Wenn man die Haut vom Brustbein abhob, brauchte sie immer länger, um zum Körper zurückzukehren. Jakob reichte mir einen Henkelmann, äugte zum Römerlager hinüber und setzte sich neben mich.

»Gute Luft heute.«

Die Anzüglichkeit dieser Bemerkung speiste sich aus dem Bemühen, mir, dem »Alten«, wenigstens einmal am Tag ein Grinsen abzuringen.

Ich grunzte zustimmend und begann das zu schlabbern, was aussah, als hätte ich es schon ein- oder zweimal gegessen. Der Junge legte nach.

»Na, was heckt das Strategenherz wieder aus? Müssen die Römer zittern?«

»Das sollten sie ..., aber ...«

»... aber?«

»... ich fürchte, sie schätzen ihre Lage völlig falsch ein.«

»Gott weiß, wie dämlich sie sind.«

»Ja, das ist unser größter geheimer Vorteil.«

Meinem Schwanken hatte Jakob zugesehen wie ein Zimmermann der Zeder im Libanon, die der Axt zu trotzen versuchte. Ächzend und knarrend hatte ich nachgegeben. Der zwingende Logos der Konklusionen meines Leibtrabanten ließ sich nicht länger abweisen, es gab diesen Weg. Vorausgesetzt, wir wären in unserem wassersüchtigen Zustand nicht gänzlich verblödet oder herzalbern geworden. Fraglich war, wohin der Weg führte, ob in ein Tal, ob zu einer hohen Felswand, die lotrecht abfiel und deren Füße von weißer Brandung beleckt wurden. Die Römer sahen gern jemanden vom Felsen fallen. Wenn unsere Erzählung auf taube Ohren stieß, wenn sie uns auf die Schliche kamen, würden sie uns auspeitschen, bis wir unsere Knochen einzeln zählen konnten. Dann würden sie uns nach Korinth verfrachten und Nero würde seinen abendlichen Schweinebraten mit uns beleuchten. Für einen kaisartreuen Feldherrn gab es ohnehin keine andere Handlungsweise. Wie treu war mein Gegenüber, dieser Römer Vespasian? Was galten ihm die Mores der Väter?

Mit dem Aufwachen hatte ich meinen Entschluss bestätigt. Die Sonne begrüßte ich festen Sinnes, das Morgengebet wie ein Abschiednehmen von Jotapata. Immerhin hatten wir unseren Plan nach einer alten Rezeptur entworfen, deren Quintessenz sich bereits für meine kindlich lauschenden Ohren zu dem Merkvers verdichtet hatte: Geh ins Zelt des feindlichen Feldherrn und triff ihn privat. Nicht mit der Sica, in unserem Fall, sondern mit dem Wort. Eine Vergiftung durch Übertragung des Wahns, der einem selber drohte. So wahr die Heiden von Gott keine Ahnung hatten, so wahr gab es diese Möglichkeit. Wenn die bis auf Knochen und Eingeweide abergläubischen Barbaren den geringsten Anflug von geistiger Kultur besäßen, sie müssten sofort merken, wie sehr sie verhöhnt wurden. Du willst sie verblenden, mein Gott, jubelte mein Herz, und es soll an meiner Dienstbarkeit nicht fehlen! Ebenfalls nicht am Vermögen. Als Meisterstück hatte ich nichts weniger als eine Cäsarengattin und Augusta vorzuweisen, die ich um die Finger gewickelt hatte, ganz so, wie die Vielduftende es mit ihrer kleinen bunten Schlange getan. In Jakobs Ergründung zeigte sich die Lage so klar wie die Wassersuppe der Essener, und er hielt einen zu erwartenden Folgeauftrag für eine ausgemachte Sache zwischen Gott und seinen Gefolgsamen. Ob dem Jungen annähernd bewusst war, was unser geplantes Drama an Fertigkeiten verlangte? Wenn wir den misstrauischen Wilden nicht überzeugend gegenübertraten, wäre es besser, wir wären uns auf der Stelle beim Heimgang behilflich. Jakob besaß womöglich eine zu hohe Meinung von mir, und ihm war nicht deutlich, was es bedeutete, dass unser Stück auf der Theaterbühne römischer Politik gegeben wurde.

»Sag mal, wenn Gott die Römer tatsächlich in unsere Hand gibt ... dann ...«

»Dann?«

»... dann muss doch der neue Auftrag, den wir bekommen werden, ein ... hm ... ein ziemlich bedeutender sein, oder?«

Nun gönnte ich dem Kleinen und mir ein Grinsen. Am liebsten wäre ich ihm durch den schwarzen Haarschopf gefahren. Eine Antwort zu finden, fiel nicht leicht und dauerte. Ich wählte meine Worte vorsichtig.

»Unsere Hebel fassen, wenn Gott den archimedischen Punkt bereitstellt, und wenn er das tut, so scheint mir die jakobinische Vermutung recht plausibel zu sein.«

»Er wird Archimedes bitten, höchstselbst die nötigen Berechnungen vorzunehmen! Denn wenn einer weissagt: Ob ihn der Herr wirklich gesandt hat, wird man daran erkennen, dass sein Wort erfüllt wird.«

»Das hast du schön gesagt.«

Kein Zweifel, die tumben Kraftmenschen gierten nach solchem Stoff, wie wir ihn im Angebot führten. Das erhoffte Ergebnis konnte seine eigene Ursache stiften. Wenn ich mich als Botschafter zu beglaubigen vermochte, würden sich weitere Türen öffnen. Wenn es mir gelang, ihren Sinn für das Nützliche anzusprechen, müssten ihre natürliche Gier und Schlauheit das Übrige tun. Was aber, wenn unsere vielumkreisten Möglichkeiten nichts weiter als Gespinste waren?

Ich hatte den gewaltigen Sog des Wünschens umso stärker gespürt, je länger wir die kleine Bergstadt hielten. Die abenteuerlich-sten Möglichkeiten einer Wendung des Kriegsglücks verdichteten sich mitunter zu schierer Gewissheit: Die im Nordosten aufblühende Staubwolke musste Freunde verbergen, Entsatz aus Adiabene oder persische Freunde, ausgerüstet und ausgestattet von babylonischen Juden. Oder gar einen neuen persischen König, der den Aufstand der Juden nutzte, um die Römer aus dem Orient zu vertreiben. Hätte nicht, so wurde beschworen und gemahnt, der Hasmonäer Antigonos bei größerer Einigkeit mithilfe der Perser siegen können? Für alles, was entgegenstand, fanden sich höchst einleuchtende Erklärungen. In sich wunderbar folgerichtig, aber pure Wahngebilde. Man hätte ein ganzes Weisheitsbuch daraus machen können. Ich hatte die Strömung des Wünschens nie so übermächtig erlebt, und warum sollte nicht das wahrhaft Imperiale an unserem Plan ein Anzeichen dafür sein, dass es mich, dass es uns fortgerissen hatte in die unentfliehbaren Strudel betörender Phantasmata?

Das war der größte aller Schrecken, der mich immer wieder anfiel, hinterrücks, wie ein Dieb in der Nacht, womöglich dem Größenwahn verfallen zu sein. Der begann harmlos wie Grind damit, sich selbst überhaupt irgendeine Bedeutung zuzumessen, wie geringfügig auch immer. Was waren wir, Jakob und ich, bei Lichte besehen, und wieviel bedeutete unser Wollen? Wurden wir von Eitelkeit geblendet? Waren unsere Absichten nichts weiter als die lächerliche Selbstanmaßung wilder Würmchen im Anus der Geschichte?

Weil solch Bedrängnis mein Herz verengte, musste ich unseren Weg wieder und wieder abschreiten. Beim Schmieden des Plans, beim Läutern der Gedanken, musste ich den Hammer des zermürbenden Prüfens niederfallen lassen und durfte das härtendste Abschrecken nicht scheuen. Mit den unbegrenzten Verpflichtungen im Leben eines Agenten Gottes verhält es sich noch dazu so, dass seine begrenzten Möglichkeiten sich alleweil als Spottvolk für jede Verstiegenheit bereithalten.

»Wollen wir?«

Jakob hatte seinen Brei hinunterbekommen. Wir mussten uns aufmachen zu unserer letzten Runde. Von Lager zu Lager, trösten, beten und segnen. Die Pflaster Jotapatas glichen einem verbogenen Hufeisen. Vorn der lange, rechteckige Platz, von dessen Enden die krummen beiden Straßen ausgingen, die Oberstraße leicht ansteigend, die Unterstraße abfallend. Zwischen beiden verbanden zahlreiche Stiegen die einzelnen Häuser. Zum Schluss der Runde würden wir unsere Schlafkammer aufsuchen, um zu ruhen. Die Einwohnerschaft der Stadt hatte sich merklich gelichtet. Neben den Gefallenen hatte eine große Anzahl mit meiner Erlaubnis still die Stadt durch die Schluchten verlassen. Mancher hatte ein neues Haus gebaut und noch nicht eingeweiht, mancher einen Weinberg gepflanzt und noch keine erste Ernte begrüßt, mancher war verlobt und hatte sein Mädchen noch nicht heimgeholt.

*

Weit nach Mitternacht erreichte unsere Runde ihr Ende, und wir betraten ein letztes Mal unsere Schlafkammer. Sie befand sich in einem Haus, das unterhalb des Horizontes der Katapulte lag und kaum mehr ein lohnendes Ziel für die Ballisten bot, denn ein früher Treffer hatte es bereits bis auf unseren kleinen Raum in Trümmer gelegt. Während Jakob das Zimmer auf Ungeziefer absuchte, überprüfte ich noch einmal meine Ausrüstung, die im Wandschrank bereitlag. Das saubere lange derbe Hemd und vor allem die guten Schuhe, Halbstiefel, die beim Klettern in schwierigem Gelände Halt gaben. Als ich mein Wehrgehenk aufhakte und das Schwert in Händen hielt, zeigte Jakob auf mich, drehte den Arm und krümmte den Finger.

»Das brauchst du nicht mehr.«

Der Kleine hatte Recht. Die Waffe eines Propheten war der Logos. Und wenn der nicht traf, war der Prophet verloren. Ich trennte mich aufatmend von dem Eisen, das ich erstmals beim Auszug der Statthalter aus dem Damaskustor unter klingendem Spiel und Jubel getragen hatte. Stattdessen widmete ich mich meinem Gürtel. Er war aus Rindsleder gefertigt, umfassend mit zwei ineinander geflochtenen Lederbändern geschmückt, und besaß acht Fächer, die mit Byssos gefüttert waren. Im ersten steckten Lederplättchen, die sich ineinanderschieben ließen, sodass kleine Schachteln entstanden mit Aussparungen, die genau zur Breite der äußeren Bänder passten. Im zweiten befanden sich fünf Pergamentstreifen mit Versen aus der Schrift. In den übrigen waren unentbehrliche Helferlein verteilt, für Zahn- und Nagelpflege und sonstige Notwendigkeiten. Kleine Hölzchen, Bürstchen, Schwämmchen, Nadeln und Fäden, eine winzige, in Elfenbein eingelassene Klinge, zwei Fibeln, eine Feile, eine Dornenpinzette und etwas Schwefel. Zwischen die Fächer waren flache nabatäische Goldmünzen eingenäht. Der Gürtel, ein Geschenk meiner Mutter zur Mannbarkeit, hat mich mein Leben lang begleitet, und ich habe ihn auch auf dem Sterbebett getragen, allerdings ohne Gold und Hilfsmittelchen.

Wir prüften gegenseitig unsere Leiber, gaben uns Bescheid und hielten Zwiesprache mit Gott. Nach dem Gebet legten wir uns in unsere Sandbetten. Ich ruckelte mich zurecht und bat meinen inneren Archivar um Wachsein in einer Stunde. Damit wandte ich mich an die Vermittlungsstelle zur Physis meines Körpers, die ich bei meinen Studien am Museion von Alexandria eingerichtet hatte. Ich konnte meinem Archivar völlig vertrauen, unser Zusammenspiel hatte sich bewährt. Er war es auch, der mich die Albträume, die mich mit Beginn meiner Amtszeit heimgesucht hatten, so gelassen und kaltschnäuzig ertragen ließ wie den Anblick von Sklaven, Skulpturen und anderen Skandalen. Für gewöhnlich träume ich gar nicht, und wenn doch, flieht die Erinnerung beim ersten Gedanken daran.

Wie jeden Abend in Jotapata, ging ich vor dem Einschlafen der wichtigsten, nun bedeutend veränderten Frage nach. Was wollte Gott am Ende meines Lebens von mir? Im Laufe der Wochen war mir klar geworden, dass ich zu meiner eigenen und der Reifung der Gemeinschaft der Seelen ein Fazit meines Lebens zu ziehen hatte. Eine Zusammenfassung des Standes der Gottsuche auf der von mir zeitweilig bewohnten und beobachteten Erde. Das bedeutete, dass ich endgültig von privaten Erwägungen Abschied zu nehmen und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren hatte.

Gott hatte mich in den Krieg geschickt. Das Wesentliche am Krieg ist das Sterben. Das fängt beim Warten an. Gibt es eine richtige Art, auf den Tod zu warten? Auf unserem letzten Rundgang fügten sich die mir Anvertrauten in das Unabänderliche, indem viele unaufhörlich mit Gott sprachen, einige umschlungen wimmerten, manche vor Angst bebten und alle mit der Frage haderten: Wie ist all das möglich? Warum ist uns so etwas gegeben? Wenige waren verrückt geworden und hatten Gesichte, nicht wenige bereiteten sich neben allem sonst, was sie taten, auf ihren Selbstmord vor. Und Jotapata war ein Ort unter vielen, nicht nur im gegenwärtigen Krieg. In wie vielen Städten hatten wir Juden schon auf den Tod gewartet, versteckt in Kellern und Zisternen, in Gruben und Gewölben? Wenn ihr Euch vorstellt, liebe Seelen, wie ihr Euch in einer Erdhöhle zusammenkauert und auf die Wilden lauscht, die draußen Witterung aufgenommen haben, wie Ihr Euch auf den Boden presst und zittert, ob sie Euch finden und Euch herauskratzen und hervorzerren oder mit Stangen nach Euch stochern und in Euch hineinstechen, so seht Ihr, dass diese Schrecken noch keinen Namen haben. Ich bitte Euch um Hilfe, sie statt meiner für mich zu benennen. Auf jeden Fall, das wurde mir deutlich, gibt es keine richtige Art, auf den Tod zu warten. Und wenn dem so ist, fragte ich mich, ab wann zählt die Wartezeit, wann fängt sie an?

Ich war auch vor Galiläa, als ich noch jeglichem Blutfluss aus dem Weg gegangen war, an das Bett Todgeweihter gerufen worden. Als Rabbi hatte ich mich betend über sie gebeugt, ich hatte in ihren brechenden Augen Kummer und Schmerz, Angst und Wut gesehen, aber dergleichen als die üblichen Begleiter beim großen Abschiednehmen aufgefasst. Ich sah wohl dichte Schleier hinter den Empfindungen, die eine tiefere Einsicht verhinderten, mir war klar, dass hier die Grenze zum Refugium der Seele verlief, aber ich hatte nicht weitergeforscht. In Galiläa hingegen verabschiedete ich in kurzer Zeit eine größere Anzahl von Sterbenden durch einen Blick in ihre Augen. Dazu gehörten nicht nur Juden, sondern auch die bis zum Tod feindlichen Fremden. Und bei diesen Menschen in höchster Not, besonders wenn ihr Ableben auf meine Befehle hin oder in meiner Verantwortung erfolgte, sah ich, kurz bevor die Seele den Körper verließ, wie die Vorhänge plötzlich zerfaserten, und erkannte für kurze Augenblicke, was sie verdeckt hatten. Während meine Blicke die Reste der fadenscheinigen Schleier durchschauten, gewahrte ich auch, dass sie aus dem kostbarsten aller Stoffe gewebt waren, aus reiner Scham.

Was ich beim Auszug der Seelen vorfand, sollte mir als Basis dienen, endlich das oft schon Angedachte zu Ende zu denken. Ich sollte unverblümt zur Kenntnis nehmen, wie es um die Gottsuche auf meiner Erde bestellt war. Ich sollte aus den Augen der Sterbenden den nötigen Befund erheben und bedenken, was er bedeutete und wonach er verlangte.

Der Befund lautete: Das, wozu das menschliche Leben geschaffen wurde, hat nicht stattgefunden.

Ich habe das Unerfüllte in den verlöschenden Augen gesehen. Darin die Qualen der Enttäuschungen. Das Abwärts der Ernüchterung, das mit der Kindheit begann, ist in Erwartung des Todes unten angekommen. Wer die Augen schließt, tut dies in seinem Blühwillen versehrt. Für die meisten ist ihr Leben wie ein Wintertag bei den Skythen, kurz, finster und schmutzig. Ein Sturz durch die Zeit, den keiner unbeschadet übersteht. Das war es, sagt das Abgelebte zum Sterbenden, die ganze großartige Schöpfung ist gegeben worden, um in etwas derart Armseligem zu fruchten. Darin besteht das Walten und Werden des schön geordneten Kosmos, dass er zur Blüte etwas so Missgestaltetes wie das menschliche Dasein austreibt.

Von Kindesbeinen an mit dem Fruchtwasser der Selbstschädigung genährt, begibt sich der Mensch auf eine Reise in die Lebensverwüstung. Jahrtausende erlebter Unfähigkeit reihen sich aneinander. Daraus erlöst zu werden, schreit seine Seele zu Gott. Aber wie zum Hohn treten Welterlöser gleich im Dutzend auf. Ihre überwältigenden Triumphe befördern die Zerstörung der Zukunft, und die Wahrheitstüchtigkeit ihres Mordens wächst ins Unendliche. Der Zeitraum, in dem ein Erlöser geboren und sein letzter Priester verscharrt wird, ist für die Gottsuche verloren.

In den Schriften der Juden stehen bewegte Klagen über die Vielfalt der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit geschöpflichen Tuns. Sinnschwund und Sinnsturz bestimmen das Lernen im Leben. Endgültig erlischt der Sinn in den Ergebnissen des Werdens. Sie preisen deshalb die Toten glücklicher als die Lebenden und höher als beide den, der nicht ins Dasein trat und das üble Geschehen nicht sah, das vorgeht unter der Sonne. Jeder Tag Leid. Alles ist eitel, zu vereiteln ist nichts. Das ist Wahnsinn. So steht es geschrieben.

Der Annäherung an Gott ist ein solches Leben nicht dienlich. Die Seelen werden isoliert, Kontakte sind heikel und schwer herbeizuführen. Vertraulichkeiten sind äußerst selten und ein vernünftiges Zusammenwirken fast ausgeschlossen, selbst unter Freunden und Eheleuten. Gottsuche ist auf den urtümlichen Zustand der privaten Ermittlung zurückgeworfen und unterliegt den Gefahren und Pro-blemen der Idiotie in scharfem Ausmaß.

Am gruseligsten für den Berichterstatter während der Beweisaufnahme sind die Gedanken von Leuten, die ich die »Endzeitherbei-zwinger« nenne. Sie verdingen sich gern an machtgierige Gottlose, denen sie willkommene und nützliche Deppen sind. Selbst Rabbis können dazu gehören. Ausgehend von dem Gedanken, dass das Unrecht auf der Erde seinem höchsten Ausmaß zustrebt und deshalb ein Eingreifen Gottes kurz bevorstehen muss, schlussfolgern sie, dass sie als Auserwählte Gott zu einem vorgezogenen Eingriff nötigen können, indem sie das Unheil mit allerstärkster Grausamkeit und Gefühllosigkeit auf die Spitze treiben. Je mehr Gewalt sie verursachen, denken sie, desto eher kommt die Erlösung. Es muss alles zerstört werden, damit das Neue kommen kann. Gott hat da gar keine Wahl. Bei der Ausmalung der endzeitlichen Rachebilder sind die Zügel der Phantasie hingegeben. Gott als blutgeiler Baal, als Spiegelbild des eigenen Irrsinns. Nach dem großen Aufräumen soll als Belohnung ein paradiesisches Leben beginnen auf einer neuen Erde, unter einem neuen Himmel, zu dem ausschließlich die Auserwählten Zutritt haben werden.

Die Gotteserpresser wollen das Ende der Welt herbeizwingen und über das Leben von Myriaden Mitgeschöpfen verfügen, die sie nicht kennen. Mit solcher Lebensverneinung sind sie bereit, die gesamte Schöpfung Gottes verlustig zu geben. Ab in den Orcus mit ihr, als wäre sie das stümperhafte Werk eines unfähigen Demiurgen, dem der Obergott endlich den Befehlsstab aus der Hand nimmt. Dass sie selbst die Stümper sind, wird nicht gesehen. Es ist das der tiefste Abgrund an Schöpfungsverachtung, in den ich blicken musste.

Jegliche Hoffnung der Erdlinge erweist sich als Selbsttäuschung mit der Aufgabe, den vergeblich Hoffenden leidensfähiger zu machen. Ihre unentwegt gläubigen Erwartungen sind bei den Begüterten zu Mumien der Hoffnung geschrumpft, doch auch deren ausgepichtetste gehört zum Kehricht des Unerfüllten. Das Freiheitsgebot der Schöpfung hat im Ordnungswalten des Kosmos eine Missbildung aus falschem Denken zugelassen, das sich für ein paar Jahrtausende austoben darf. Es wächst zu einem Geflecht heran, das nach eigener Logik alles widersprechende Denken als unlogisch mit sich befiehlt. Der, dem es glückt, der Gewalt und dem falschen Denken zu entrinnen, hat einen so langen Kampf zu bestehen und soviel von sich hergeben müssen, dass er schließlich verbittert und kraftlos daraus hervorgeht.

Das gottferne Denken führt zu Taten, die in keinem angemessenen Verhältnis zu den Gesetzen Gottes stehen. Dadurch erblüht eine Kultur des Unangemessenen, die in der wahnwitzigen Gewissheit gipfelt, dass die Menschheit das Diadem der Schöpfung sei. Als ob das Nichts ein Kleid bräuchte, wird von jeder Generation an der Fama von der einzigartigen und einmaligen kosmischen Stellung weitergesponnen. Ein Wunderwerk Gottes, geschaffen zur Erkenntnis und Sinnfindung, weiß mit sich nichts Angemessenes anzufangen. Kaum verstehen sie die einfachsten Dinge, und was auf der Hand liegt, finden sie nicht. Sie betrachten nicht, was sie tun, und begreifen daher nicht, was ihnen geschieht und warum. Sie erheben ein imaginäres Schicksal zum Herrn des Verfahrens und schieben ihm die Verantwortung unter den Sessel. Das Maß an Weisheit, welches dauerhaft zur Teilnahme an Gottes Schöpfung befähigt, das Minimum Sophiae, die Mindestvernunft, wird nicht erreicht. Was wird aus einem Agenten der Schöpfung, der sich für die Gottsuche als unfähig erweist? Welche Metamorphose wird kommen?

Das Nichtigkeitserleben frisst sich durch bis zum Grund der Seele. Dazu kommen die Erfahrungen der Ohnmacht und Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins und umfassenden Alleinseins. Müdegehetzt, überbürdet und verstört erstarrt die Seele allmählich. Nicht mal das kleinste Gefühl regt sich mehr. Was noch bleibt bis zum Sterben, ist die zu völliger Ruhe gekommene Gleichgültigkeit nach innen und außen. Grundlos treibt alles dahin, entwertet ist jede Bewegung, durch nichts als Zufall gemischt. Und wenn dann das Sein zu Staub zerfällt, als wäre nie etwas gewesen, wird dies als echte Erlösung herbeigesehnt und begrüßt. Der Hauch, der alles verweht, tut der Seele einen Gefallen. Den einzigen, der ihr je erwiesen wurde. Meine Erde ist ein Ort, auf den eine Seele sich anfangs freute und dem sie am Ende entkam.

Das waren meine Gedanken in jener letzten Nacht von Jotapata. Ich hatte das kleine, unverzichtbare Gepäck geschnürt, das ich am dringendsten Euch, liebe Seelen, vorzulegen hatte, um es in die Reifung des Kosmos einzubringen. Es wird deutlich, warum ich meinen Bericht hier beginne und auf welches Fundament von Erkenntnis mein weiteres Nachleben gegründet ist. Die Begleitung der Sterbenden hat mich gelehrt, mein Denken auf nackten Felsen zu bauen, ohne Siedlungsschichten zwischen mir und dem Stein.

Eines gab es in Jotapata nicht. An keiner der dunklen, verschmutzten Wände stand mit Kreide geschrieben »niemand weiß von mir«, wie ich es einmal als junger Mann anderswo gesehen hatte.

*

Als ich nach der kurzen Rast aus unserer Bleibe hinaustrat, fand ich eine mildnächtige Idylle vor, die dem Verhängnis der Stadt präludierte, und die Tiefe der Ruhe schien mir von der Unausweichlichkeit des Kommenden zu künden.

Ich weckte Jakob, wir beteten und machten uns auf unseren Schleichweg. Fürs Erste mussten wir jeden Kontakt mit dem Feind vermeiden. Wir hatten uns der Belagerung mit drastischen Mitteln widersetzt, und wenn wir auf jemanden trafen, dessen Kamerad von kochendem Olivenöl überschüttet worden war, stand zu fürchten, dass er vor dem Abstechen nicht zu sprechen war. Egal, ob die Prämie für einen lebenden Feldherrn höher ausfiel als für einen toten. Auch konnten uns alle möglichen dummen und ungünstigen Zufälle ins Handwerk pfuschen. Nein, der Übertritt ins feindliche Lager durfte nur unter stabilen, überprüfbaren Umständen erfolgen, und dazu mussten am besten ein paar Tage vergehen. So lange wollten wir uns in einer trocken gefallenen Zisterne verstecken, die außerhalb der Mauern im Fels verborgen lag. Sie war von der Straßenseite aus nicht zu vermuten, und wer die Anhöhe erklomm, sah in eine steile Schlucht. Die Wasserleitung in die Stadt hatte man unter den Vorsprung gegraben, über den ein Suchender blickte, und neben ihr führte ein so schmaler Pfad entlang, dass Höhenangst nicht von Vorteil war.

Wir kletterten und huschten durch eingestürzte Mauern, unser Ziel war das erste Sammelbecken des Wasserkanals in der Stadt, das mit einem inzwischen zerstörten Haus überbaut worden war. Dort hatte ich den Deckel des Zugangslochs mit Schutt unkenntlich gemacht.

Der Schutt fehlte jedoch, der Deckel war blank. Das gefiel mir nicht, aber ich schwieg. Wir banden eine Schnur um einen schräg nach oben stehenden Balken, der eine sorgsame Schichtung von Trümmerteilen stützte. Nachdem wir uns hinuntergelassen hatten und der Deckel nahezu das Loch bedeckte, zog Jakob mit aller Kraft und die ganze Bescherung stürzte in sich zusammen. Um auf den Pfad neben der Leitung zu kommen, mussten wir die ersten zwei Dutzend Ellen durch den Kanal kriechen, der schlimmste Teil für mich. Aber es sollte noch ärger kommen. Nach wenigen Schritten wandte sich Jakob, der darauf bestanden hatte vorauszugehen, mit Besorgnis in der Stimme um.

»Der Weg ist weg.«

»Wie ... weg?«

Jemand hatte die Felskante auf einer Länge von zehn Ellen gewaltsam abgebrochen, bis dicht an die Leitung, augenscheinlich hatten fachmännische Hände geeignetes Werkzeug geführt. Nun schwante mir einiges, und mein Herz wurde schwer. Was war zu tun? Der Rückweg war versperrt, wir konnten kein Brett oder Ähnliches holen, um den Abgrund zu überbrücken. Es blieb nichts anderes, als uns an die Seitenwand des Kanals zu klammern und hinüberzuhangeln. Jakob schien von der Bodenlosigkeit wenig beeindruckt, er ging nicht davon aus, dass Gott seine Agenten bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abstürzen lassen würde. Ich vermochte dem jungen Mann kaum zu folgen, setzte langsam Hand um Hand und sang leise vor mich hin: »Du hast mich aus dem Schoß meiner Mutter gezogen, Du hast mir Geborgenheit geschenkt an ihrer Brust, Dir bin ich anvertraut von Jugend an, von Geburt an bist Du mein Gott.« So schaffte ich es, meinen Schwindel über dem Abgrund zu bezwingen. Der weitere Weg bot keine Hindernisse mehr, und als wir die Zisterne erreichten, offenbarte sich uns der Grund für den umsichtigen Abbruch des Zugangs.

Dorthin hatten sich acht Familien und ein paar Einzelne geflüchtet, die in stickiger Enge lagerten. Sie hatten mir nichts von ihren Plänen erzählt. Wir ihnen nichts von unserem. Die Mienen hellten sich jedoch auf, als sie unser ansichtig wurden. Den Anführer bei sich zu haben, mochte ihren Hoffnungen neue Nahrung geben. Es bedurfte keiner besonderen Einfühlung, um zu wissen, von welcher Absicht und welchem Begehr ihre Herzen bewegt wurden. Sie begehrten ein langes jüdisches Leben. Für den Fall, dass Gott ihnen ein solches gewähren wollte, waren sie ihm so weit entgegengekommen wie irgend möglich. Sie hatten ihn um Überleben angefleht, indem sie ihm eine Rettung erleichterten. Vielleicht würden sie irgendwann an die Sonne klettern, wahrscheinlicher aber war, dass sie längst verdurstet waren, wenn die letzten Schakale aus dem Tross abzogen. Fünf von ihnen verstarben aufgrund der Entbehrungen und Verwundungen während meiner Zeit in der Zisterne. Ich besuchte jede der Familien, die auf die zwei Räume verteilt waren, sprach mit ihnen als Rabbi.

In der Versammlung der Ältesten, die nach meinem Herumkriechen zusammenhockte, bestätigten sich meine Eindrücke. Es war längst, vermutlich vor dem Aufbruch aus der Stadt, festgelegt worden, wer wen zu töten hatte, falls die Römer sie entdecken sollten. Ein jüdisches Leben wäre dann nicht mehr möglich, egal welches Schicksal den Einzelnen traf. Kein Gebot könnte mehr beachtet werden, sie müssten alles, was ihnen heilig war, mit Füßen treten. Das Leben als Gottesdienst wäre beendet. Also wollten sie sich Gott anvertrauen, um ihn über ihre Not zu befragen. Sie waren nie auf die Idee verfallen, sich mit dem Gedanken an ein mögliches gottfernes Leben unter den Römern überhaupt zu befassen. Wenn der Geist zum Sterben in Knechtschaft verurteilt war, sollte die Hülle des Körpers Folge leisten, denn wozu gab es sie noch? Mein Beitrag zu dem Gespräch bestand in der Mahnung, die Rede von Sünde und Strafe, die ebenfalls angeklungen war, zu mäßigen. Es gebe zwischen ihren Sünden, welcher Art immer, und der Strafe des Untergangs der Stadt und des Landes kein Verhältnis, das dem Wesen Gottes entspreche. Wir seien mit Gott im Gram vereint. Die Sünden, die den Krieg heraufbeschworen, führten zu selbst auferlegten Strafen. Gottes Liebe sei davon unberührt. Er werde seine Kinder unter allen Umständen in die Arme schließen. Nach dieser ersten und letzten Zusammenkunft beteten wir lange.

Jakob und ich bekamen die besten Plätze zugewiesen, direkt am Eingang, ein Mädchen mit kugelrundem Bäuchlein uns gegenüber. Ich fühlte mich ausgeschüttet, wie verlorenes Wasser, als hätten sich alle Glieder aufgelöst, mein Herz zerschmolzen wie Wachs. Unser Plan war in sich zusammengefallen, kaum dass wir an seine Ausführung gegangen waren. Natürlich mussten wir mittun und auf den Abzug der Römer hoffen. Und wenn die Freiheit winkte, so hatten Jakob und ich ein ganz anderes Leben vor uns, als wir uns das gedacht hatten. War das denn eigentlich zu beklagen? Keineswegs. Langsam ging es mir besser. Ein junger Sohn Jotapatas, dem kaum der Bart flaumte, der jedoch die geheimen Schliche kannte, auf denen man sich zwischen den Felsen zurechtfand, wurde regelmäßig durch ein erweitertes Regenloch zum Spähen ausgeschickt. Zwei Tage schien alles gutzugehen, die Römer schleiften die Stadt und bauten ihre Maschinen ab. Sie suchten gewiss nach dem jüdischen Strategen, die Schicksalswaage blieb in der Schwebe. Bis zum dritten Tag.

Das schwangere Mädchen war verschwunden. Frühmorgens wurde sein Fehlen bemerkt. Es dauerte kaum bis Sonnenaufgang, dass sich draußen großes Geschrei erhob. Die Römer hatten uns gefunden. Die werdende Mutter war geflohen, weil ein Wesen, das dabei ist, Leben weiterzugeben, nicht zugleich mit dem Wesen den Tod finden darf, das dabei ist, lebensfähig zu werden.

Ich musste ziemlich lange hinübergestarrt haben, dorthin, wo die junge Frau ihren Platz gehabt hatte, ehe mir etwas auffiel. In der Wand, an die sie sich gelehnt, klaffte ein Spalt. Befand sich dahinter ein Hohlraum, ein Gang, durch den sie geflüchtet war? Aber nein, warum sollte sie sich tiefer verkriechen? Ich hatte nach meiner Ankunft in Jotapata sämtliche Wasservorräte und Zisternen gründlich inspiziert und alle Wände abgeklopft. So auch hier. Ich musste etwas übersehen haben. Das machte mich stutzig. Das mögliche kleine Versagen weckte meine Neugier. Ich kroch hinüber, zwängte mich durch die schmale Öffnung und konnte mich dahinter aufrichten.

Tatsächlich, ein Weg zwischen Felsen hindurch, keine Anzeichen von Werkzeugspuren, meine ersten Schritte wurden noch vom schwachen Schein des Eingangs erhellt. Obwohl meine Wissbegierde wuchs, setzte ich die Füße sorgsam, um meinen Augen Zeit zur Gewöhnung zu geben. Es ging mählich bergab, immer schneller traute ich mich vor. Wieso konnte ich überhaupt etwas sehen? Von den Wänden schien ein Schimmer auszugehen. Ich trat nahe heran und der Stein zeigte sich durchsetzt von feinen Linien, die Lumen in sich trugen. Sie waren miteinander verbunden wie ein Nervengeflecht, und meine Finger spürten eine verhalten glühende Wärme.

Ich wanderte lange hinab, ich kann nicht sagen, wie lange, es zog mich unwiderstehlich voran. Was erwartete mich? Welche Erkenntnis harrte meiner in der tiefsten Höhle der Welt? Dass ich dahin unterwegs sei, verstand ich von selbst. Die Felsen traten nach und nach zurück, auch ging mir das Gefühl für eine Decke verloren. Dafür spürte ich ein sachtes Rumpeln in Abständen, gefolgt von einem leichten Beben. Nach einer Weile blieb ich stehen und hob den Kopf.

Über mir spannte sich eine weite Höhle, ein riesiges Gewölbe, dessen Höhen und Wände von Glimmer durchzogen waren. In der Spitze, ganz nach oben jedoch, erblickte ich ein ungeheures Herz, um das sich das Leuchten ballte. Es hing mächtig im leeren Raum und bewegte sich langsam, wie mühselig. Wenn es zögernd endlich schlug, schien es sich aufzubäumen, und ich spürte das Zittern der Felsen durch meine Füße. Da überkam mich ein Wasserfall des Begreifens. Der Berg war die versteinerte Geschichte der Menschheit, das Schimmern in den Adern waren die zu reinem Leid zusammengepressten menschlichen Verbindungen und das Herz versorgte sie mit der Kraft des Ertragens. Es nährte ihre Leidensfähigkeit. Einst war es das Herz einer Menschheit gewesen, dessen hoffnungsvoller Puls davon kündete, dass die Zukunft erstrebenswert sei. Inzwischen hatte es sich zum Herzen der Qual gewandelt. Es lebte nur noch dem Schmerz, so gut es das vermochte.

Ich setzte mich und betrachtete es, wie es arbeitete, wie es vor jedem Schlag seine ganze Energia sammelte, welche Anstrengung das kostete. Nun nahm ich auch ein Glänzen wahr, das ab und an aufschien. Der Schweiß seiner Arbeit bedeckte das Herz. Er lief an ihm hinab und sammelte sich am äußersten unteren Ende zu einem Tropfen. Bei jedem Schlag wurde dieser durch die Erschütterung abgeworfen. Meine Augen folgten einem der Tropfen auf seinem Weg nach unten. Plötzlich, mitten im Flug, zersprang er zu einem Kranz aufblitzender Tröpfchen. Was ging da vor? Ich kniff die Augen zusammen, und aus dem Dämmer trat ein Fließstein hervor, der vom Boden der Höhle emporgewachsen war. Ein rundlicher, schlanker Tropfstein von der Form eines Kegelhutes. Die Schweißtröpfchen trafen auf die Spitze des Kegels und zersprühten dort. Das Wässrige floss, so weit es kam, die Salzkristalle blieben oben haften. Und ich erkannte, was geschehen wird. Eines Tages wird der Tropfstein bis dicht unter das Herz gewachsen sein, so dicht, dass sie aufeinandertreffen. In einer letzten großen Anstrengung wird sich das Herz voll füllen, und die Spitzen der Kristalle werden seine Muskeln aufschneiden. Das Blut wird herausfließen und das Herz wird aufhören zu schlagen. Dann wird es aus sein mit der Qual. Aus und vorbei. Das Herz wird langsam versteinern. Das Leuchten wird verlöschen und das Blut wird den Tropfstein rot versiegeln. Er wird im Dunkel stehen bleiben. Wird er warten? Worauf? Auf seine Erforschung? Durch wen?

Jakob fand mich, er fiel mir um den Hals, tränenüberströmt. Er sank in meinen Schoß und schluchzte: »Sie sind alle tot.« Und so war es. Sie hatten uns nicht weiter beachtet. Unser Los hatte keinerlei Bedeutung für sie. Sie lagen in Haufen und der Blutdunst nahm uns den Atem. Das Entsetzen verschmolz uns. Wir hielten uns umklammert, und diese Umklammerung hat bis heute nicht nachgelassen. Irgendwann mühten wir uns vor den Eingang, und als das Herumgebrülle kein Ende nehmen wollte, gab ich zurück, die beiden Tribunen, die darauf warteten, uns gefangenzunehmen, seien mir unbekannt und ich hätte kein Vertrauen zu ihnen. Ich würde mich ausschließlich dem Tribun Nikanor ergeben, der zwei Feldflaschen guten Wassers mitbringen solle. Werde dieser Bedingung nicht entsprochen, könnten sie mit einem toten Feldherrn verhandeln. Für weiteren Austausch bestehe kein Bedarf, und ich müsse im Übrigen noch dringend ungestört ein Kapitel aus dem Buch Daniel lesen. Danach hatten wir erst mal Ruhe und durften beten.

Nikanor spielte eine wichtige Rolle in unserem Plan. Ich hatte ihn in Baiae kennengelernt und immer wieder getroffen während meiner Zeit in Campanien. Wir waren übers Land geritten und hatten ein wenig mit Holzschwertern herumgefuchtelt. Wir hatten über Gott gesprochen und ich pflegte die Bekanntschaft, weil ich in ihm eine empfindsame Seele vermuten durfte. In Jotapata hatte ich ihn gleich in der ersten Woche entdeckt, aber wir waren einander zum Glück im Kampf nicht begegnet. Um Erfolg zu haben, musste als Allererstes ein Treffen mit Vespasian herbeigeführt werden, und das ließ sich nur mit Nikanor bewerkstelligen. Jede andere Lösung barg untragbare Wagnisse. Irgendwelche anderen Tribunen würden mich vielleicht gar nicht anhören oder sofort die Peitsche hervorholen, sobald ich den Mund aufmachte. Oder sie würden stumpf glotzen und auf mein Gerede nichts geben. Wir konnten ohne Weiteres sang- und klanglos weggesperrt werden.

*

Nach einer guten Stunde hörte ich die vertraute Stimme. Ich schrie zu Nikanor hoch, es dauere ein wenig, doch wir kämen. Um ins freie Gelände zu gelangen, mussten wir die Zisterne noch einmal betreten. Dort nahmen wir uns Zeit für das Totengebet. Draußen steuerten wir auf den wartenden Tribun zu. Auf Armeslänge vor ihm hielt ich an. Wir wechselten ein »Salve«. Nikanor reichte mir die Wasserflaschen, von denen ich eine nach hinten weitergab. Er hatte alle Neugierigen und Herumsteher, von denen es einige gegeben haben mochte, weggeschickt. Hinter ihm, in einem Stadion Abstand, wartete eine Abteilung von vier mal vier Mann, ein Centurio davor. Ich schloss die Augen und hob die Wasserflasche an den Mund. Diesen Moment zu bewältigen, hatte zu unserer Vorbereitung gehört. Die Gier unserer Körper zu beherrschen, forderte zugunsten der Gesundheit strengste Disziplin. Wir hatten einander zu einem bestimmten Rhythmus des Trinkens verpflichtet, und ich nahm die ersten sieben kleinen Schlucke.

Um zu schildern, welche Wonne uns das Nass bereitete, müsste ich über poetische Begabung verfügen, doch fehlt mir das Geschick für leuchtende Bilder. Deshalb sei angemerkt, dass ich aufblühte wie ein fast verdorrtes Gänseblümchen.

Nikanor blickte ernst und aufmerksam. Die belebende Kraft des Wassers versetzte mich zurück an einen denkwürdigen Abend der Annäherung zwischen uns vor zwei Jahren, auf einem kleinen, feinen Strandfest, unterhalb der Villa des Petronius Arbiter. Nikanor hatte einen Fleischknochen aus der Hand gelegt und nicht wieder angerührt, weil er mich, da er gerade hineinbeißen wollte, fragte, warum denn den Juden das Schwein für unrein gelte. »Weil Menschenfleisch und Schweinefleisch eine Gemeinsamkeit haben«, hatte ich geantwortet, »... beide riechen gleich, wenn sie gebraten, gesotten oder angeschmort werden.« Er wusste, dass ich nicht leichtfertigen Wesens war, kein Luftikus, der irgendetwas daherplapperte, um seine Haut zu retten. Weitere sieben Schlucke, und ich konnte ohne Räuspern loslegen.

»Ich muss umgehend den Feldherrn Vespasianus treffen. Ich habe ihm eine dringende Botschaft zu überbringen.«

»Was ist das für eine Botschaft?«

»Eine Prophezeiung.«

Ich sah, wie es in ihm arbeitete. Er war schmaler geworden, seinem Gesicht fehlte das Gepolsterte. Er verzog keine Miene. Sollte er weiter nachfragen? Er entschied sich dagegen. Wenn es um die Zukunft ging, musste er befürchten, mir mehr Vertraulichkeit abzufordern als ihm zustand.

»Wir werden sehen.«

Immerhin, damit konnte ich mich zufriedengeben.

Wir wurden in einer Formation abgeführt, die ich genauso eingeteilt hätte. Vier Mann uns voraus, vier hinterher, vier längs zu jeder Seite, dazwischen Jakob vor mir, Nikanor im Rücken. Trotzdem waren wir nicht vor dem Speer der Rache gefeit. Es mochte einem Krieger gleichgültig sein, ob er selbst zur Strafe sein Leben lassen musste, Hauptsache, der verdammte Wüterich war tot. Ein leichtes Kribbeln zwischen meinen Schulterblättern begleitete mich die ersten Stadien unseres Weges.

Wir trugen verderbliches Gut mit uns, für das es keine Frischegrade gab. Jede überzählige, überschüssige Stunde des Transportes ließ unsere Früchte rapide welken. Nach nur einem Tag wären sie so gut wie verdorben. Es war entscheidend, unser Geschenk in knackigem Zustand zu präsentieren. Verführungkunst bedurfte darüber hinaus des Ausdrucks ungestümen Verlangens und frisch geschminkter Hergabe. Der Haltestein, den ich einzugraben hoffte, musste so tief wie möglich fundiert werden. Er sollte ja nicht nur unsere Geschichte, sondern auch deren Weiterungen zuverlässig verankern.

Um mich von solchen äußerlichen Problemen abzulenken, richtete ich mein Augenmerk auf das zu fordernde Treffen selbst. Endlich konnte ich wieder in den Fächern arbeiten, für die ich ausgebildet war. Ich musste meine Weisheiten nicht mehr aus zerfledderten Handbüchern über Belagerungs- und Abwehrtechniken gewinnen, ich, der Lehrling des Kriegshandwerks, der blutige Anfänger, der Anführer von Unbeholfenen beim Töten. Die Römer mit ihrer turmhohen Überlegenheit waren bisher die Meister gewesen, die Kundigen, die wussten, wie sie ihren Nutzen mehren konnten. Sie hatten präzise Kenntnis von Disziplin, Technik und Wirksamkeit gewaltsamer Maßnahmen bis in die kleinsten Einzelheiten. Wir hatten ihnen lediglich improvisierte Notwehr entgegenzusetzen. Damit war es vorbei. Ich brauchte mich nicht mehr in Fertigkeiten zu üben, die mir zuwider waren, für die mir das Verständnis fehlte. Die Lage hatte sich umgekehrt. Jetzt wurden sie einem Angriff ausgesetzt von jemandem, der wusste, was zu tun war. Der lange gelernt hatte, der sich auskannte und daher aus Luv kam, für dessen Kenntnisse und Fähigkeiten sie nur staunende Kinder sein würden. Alle hundert Schritt trank ich ein wenig vom Wasser. Ich sprach lautlos die Verse aus meinem Gürtel und fühlte, wie sich mein Herz mit Kraft erfüllte. Ich summte zum Marschtritt römischer Stiefel eine kleine Rhapsodie:

»Schluss mit der verkehrten Welt,

sie wird auf ihre Füße gestellt!

Ich bin der Magister und ihr seid die Laien.

Ich bin der Fachmann und ihr seid die Unwissenden.

Ich bin der Sachverständige und ihr seid die Ahnungslosen.

Ich bin der Schlaue und ihr seid die Deppen.

Ich habe die List und ihr habt das Schwert.

Ich bin der Jude und ihr seid die Heiden.«

Unser Zug wurde links und rechts erwartet. Man war auf die Wagen geklettert, die mit Maschinenteilen beladen wurden. Man hatte Felsgeröll erstiegen, um einen besseren Blick zu bekommen. Man johlte und brüllte, schamlose Rufe und Verwünschungen wurden laut. Man freute sich sehr. Mir ging es genauso.

Wir kamen am Gipfel unseres Berges vorbei, der für sich lag. Unser Ausguck, ein Außenposten, der sich nicht verteidigen ließ. Die Römer hatten den von der Natur ungeschützten Teil der Stadt gleich zu Beginn der Belagerung erobert und von dort ihre Geschosse lenken können. Hinab durch die Senke und die Anhöhe zum Römerlager hinauf verdichteten sich die Reihen, die wir durchschritten; immer mehr Masse reicherte sich an. Augenscheinlich war man sogar herbefohlen worden, denn auf einer künstlichen Terrasse halb am Hügel hatte eine komplette Cohorte in Reih und Glied Aufstellung genommen, vermutlich die Erste der X. Legion. Vor ihr die Stangen, an denen sie ihr Eigenverständnis befestigen. Trompetengeschmetter ließ die Legionäre zusammenfahren, eine einzelne Posaune folgte und auf einer Felsnase oberhalb der Terrasse erschienen vier Männer in vollem Ornat, der Feldherr, sein Sohn Titus und zwei Legaten, vorwiegend in Rot. Nikanors Abteilung marschierte die Front der Legionäre ab, die mucksmäuschenstill blieben. Unterhalb der Felsenkanzel wurde Halt befohlen.

Der Prächtigste, eine untersetzte, breite Gestalt, ließ sich einen Sprechkegel reichen, trat nach vorn und richtete seine Worte an das umstehende Publikum. Er eröffnete mit Kaisar Rotbart lobesam und schwurbelte dermaßen drauflos, dass ich bald die Lust am Zuhören verlor. Ich drehte mich halb zu Jakob um, und wir unterhielten uns mit den Augen. Da meldete sich mein innerer Archivar. Was hatte er vernommen? Es war eine unerhörte, eine ätzend scharfe Vokabel gefallen. Der alte Knochen hatte zu formulieren beliebt: »Zum Abschluss unserer Übungen ...« Ha, Übungen! Aber was ich als Spott empfand, meinte der Römer durchaus sachlich. Außerdem erreichte damit das Echo eigener Gedanken mein Ohr. Ich war ja nicht blind und taub gewesen. Der Feind hatte fast alle Waffengattungen, über die er verfügte, zum Angriff gebracht und die unterschiedlichsten Truppenteile eingesetzt. In den Kämpfen traf man keine Bekannten. Ja, sie hatten sich mit unserer Hilfe ertüchtigt, und eine Übung, bei der es durch echte Gegenwehr zu kleineren Verlusten kam, musste in ihren Augen die wertvollste Ausbildung sein. Der Redner kam zum Ende, es wurde Ernst, ich lauerte auf den Blick Nikanors, doch der wich mir aus. Der Feldherr fasste noch einmal zusammen, dass es zwar das eine oder andere zu verbessern gebe, dass er aber insgesamt ausgesprochen angetan sei. Er zeigte mit großer Geste auf mich, rief den Seinen letzte Lobhudeleien zu und schloss:

»... und so werden wir dem viel geliebten Imperator Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus ein hocherfreuliches Geschenk übersenden können, den ersten Feldherrn der Juden in diesem Krieg.«

Nicht enden wollender, lärmender Beifall. Die vier Stabsoffiziere wandten sich um und schlenderten gemächlich schräg nach oben in Richtung einer kleineren Plattform, auf der ein halbes Dutzend großer Zelte stand.

Ich trat vor Nikanor hin:

»Das Schicksal ist größer als wir. Wir müssen ihm dienen. Ich muss noch in dieser Stunde den Feldherrn Vespasianus sehen ... aber das ist nicht alles.«

»Was denn noch?«

»Die Würde meiner Botschaft erfordert ein schickliches Auftreten. Es geht um die Reinheit eines Priesters. Ich muss mich waschen.«

Der Tribun blaffte den beistehenden Centurio an, er solle warten, bis er zurückkehre und kletterte zur Felsnase hinauf. Oben war man aufmerksam geworden, der Sohn hatte seinen Vater am Arm berührt, die vier drehten sich um und blieben stehen. Nikanor erreichte den Pulk und löste anscheinend Heiterkeit aus. Die Helmbüsche kamen vom Köpfeschütteln in Bewegung. An einer Geste des Titus erkannte ich, dass die Entscheidung zu unseren Gunsten fiel. Nikanor kehrte zurück und führte uns an den Rand der Terrasse, wo die Zelte der Tribunen standen, deren Areale durch Reihen weiß getünchter Steine voneinander abgeteilt waren. Hinter einer breiten Wand aus aufgespannten Zeltbahnen erwartete uns eine Waschstelle, die keine Wünsche offenließ. Wir schlugen die Hemden aus, hielten uns an die einfache Seifenwurzel der Legionäre und mieden deren duftende Schwestern. Die kurz gehaltenen Bärte abzunehmen eine schmerzhafte Labsal. Ich, Josef, bat meinen Kameraden um den Segen des Jakob. Nach einer halben Stunde ließen wir uns abführen. Den üblichen Fahrweg hinauf, der in einer ausholenden Kurve auf das Zelt des Imperators zulief. Dass Jakob an meinen Fersen klebte, stellte niemand infrage. Vor dem Eingang jedoch musste ich ihn allein lassen.

Im Zelt ein großer Tisch in der Mitte, Vespasian sitzend dahinter, sein Sohn, gleich gedrungen und breit wie der Alte, stand neben ihm, Schreibzeug in Händen, er wollte sich wohl Notizen machen. Seine Augen befanden sich in Höhe der meinen, eine willkommene Gunst der Umstände. Links die beiden Legaten in allzu lässiger Haltung, wie ich fand. Ich trat in die Mitte des mir verbleibenden Raumes, grüßte kurz und meinte angelegentlich im Plauderton:

»Bevor ich zur Verkündigung der Prophezeiung komme, ersuche ich den Hegemon darum, eine private Bitte äußern zu dürfen.«

»Noch eine Bitte, das wird ja immer schöner.«

Das kam von Titus. Sein Vater folgte der Erhöhung meines Einsatzes.

»Es sei.«

»Ich wünsche mir, dasselbe Schicksal zu erleiden wie mein Kamerad und Waffenbruder Jakobus, der draußen steht.«

Verblüffte Stille, ich hatte sie bekalmt, und sie boten mir ihre Breitseite.

»Es sei.«

»Ich bin Josef ben Matatias aus Jerusalem, Priester der ersten Reihe aus der Prima Classis, und habe eine Botschaft für den Imperator Vespasianus, die mir durch einen Traum vor fünf Nächten eingegeben worden ist. Sie hat folgenden Wortlaut: ›Das flavische Haus wird zur Herrschaft über die Oikumene berufen. Sein Oberhaupt Titus Flavius Vespasianus wird als Erster zum Augustus erhoben, nach ihm seine Söhne. Das ist mein Wille, der Wille der Einen und Einzigen Gottheit, und so wird es geschehen.«

Ehe jemand nachfragen konnte, fügte ich hinzu:

»Das ist alles.«

Das Zelttuch des Eingangs flappte im Wind, ferne Rufe drangen herein, die Augenblicke schlichen akrobatos, auf Zehenspitzen vorbei. Ich wechselte das Standbein. Von links waberte mir unverhohlener Hass entgegen, einem der Legaten platzte die Fassung:

»Das ist doch eine ungeheuerliche Frech... «

Titus mit dunkler Stimme dazwischen:

»Ruhig, Trajanus, ruhig ... das ist, wie ich finde, eine bemerkenswerte Mitteilung, über die sich nachzudenken lohnt.«

Er wollte übernehmen und sein Vater überließ ihm das Ruder. Das Schreibzeug, mit dem er meine Worte festgehalten hatte, legte er auf den Tisch vor sich hin, runzelte die Stirn und sprach die Empfehlung aus:

»Ich finde, es gibt keine Veranlassung zu überstürzten Maßnahmen. Ich rege an, den Boten weiterhin der Obhut des Tribunen Nikanor zu überlassen. Kommt Zeit, kommt Rat.«

Da er keinen Widerspruch erntete, rief er mit Stentorstimme nach draußen. Nikanor erschien und erhielt Anweisungen, die mir unser Überleben bis zum Ende der nächsten Nacht zu garantieren schienen. Vor dem Zelt erwartete mich Jakob, und ich fasste mich ans rechte Ohr, das ausgemachte Zeichen. Das Herz wurde mir warm durch seinen aufleuchtenden Blick. Wir wurden zu den Zelten der Tribunen zurückgebracht.

Unterwegs betrachtete ich das Ergebnis meines Auftritts. Titus hatte angebissen, mehr noch, er hatte den Köder geschluckt, dessen war ich mir sicher. Der Alte schwankte in seiner Einschätzung zwischen Belustigung und Belästigung. Der Junge hatte wenige Herzschläge gebraucht, um die glänzenden Aussichten zu erkennen, die dem von mir überreichten Keim entsprossen. Und er scheute in spannenden Lagen nicht vor Sprichwörtern zurück. Warum sollte nicht das flavische Haus die Evolution der Geschichtsrolle übernehmen? Gab es ein besseres? Trajan würde gut daran tun, seine Zunge zu hüten. Im Sohn hatte ich meinen ersten Verbündeten im feindlichen Lager gewonnen. Ihm blinkte von ferne das Diadem, das er sich eines Tages als Nachfolger seines Vaters aufsetzen würde.

Im Bereich Nikanors wurde uns ein Bündel vor die Füße geworfen. Es entpuppte sich als Zweimannzelt mit sauberen Decken, das wir unter meiner Anleitung ohne Verzug und überflüssiges Handanlegen aufschlugen. Ich kannte mich aus mit Zelten verschiedenster Konstruktionen und Macharten. Was wir taten, wurde verstohlen beobachtet. Weil die Hitze zunahm, setzten wir uns in den Schatten des kleinen Eingangs. Der Schatten einer Eiche wäre uns lieber gewesen. Auf Nikanors Frage nach unserem Hunger bestellten wir frische Brötchen, einen Becher Olivenöl und Stockfisch. Ich erzählte Jakob, was in der vespasianischen Löwengrube geschehen war und konnte kaum genug Antworten auf seine vielen, stürmischen Fragen finden. Die Römer packten allerorten zusammen. Sie hatten Jotapata ausgeräumt wie Ameisen einen Rinderschädel. Blieb, keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Gefangene waren nirgends auszumachen, die Großhändler hatten ihre Ware bereits abgeholt. Die überstandenen Strapazen und das erfolgreiche Absetzen des prophetischen Logos ließ uns früh müde werden. Wir beteten und schliefen so köstlich tief, dass der Feind uns anderentags zum Frühstück wecken musste. Einen weiteren Tag verbrachten wir auf gleiche Weise, am nächsten rückte zu Sonnenaufgang ein verlegen dreinschauender Nikanor an, hinter dem zwei Centurionen eigenartige Sachen bereithielten. Der erste eine recht lange, feine Kette, der zweite ein buntes Ding, das mir Rätsel aufgab. Jakob und ich sprangen hoch.

»Es ist die kleinste Norm, über die wir bei der Legion verfügen«, meinte mein römischer Freund mit Bedauern in der Stimme und wies auf die Ketten. Er nahm dem Centurio das bunte Etwas vom Arm, entfaltete es und schüttelte es aus. Ich traute meinen Augen nicht, das konnte nicht wahr sein.

»Was zum ...?«

»Der Imperator überlässt dir ein schickliches Kleid, das der Würde deiner Botschaft entspricht.«

Wollte Nikanor mich veräppeln? Immerhin war er zwanglos aufs Du verfallen. Es hätte ihm ähnlich gesehen, er war für schrägen Ulk zu haben. Doch das blieb eine letzte, trügerische Hoffnung. Ich konnte es nicht fassen. Was ich da vor mir sah, in was ich hineinkriechen sollte, war ein Papageienkostüm aus Wolle und Leinen, ein Ärmelrock, wie ihn der reiche syrische Kaufmann trug, wenn er festtags zu den Gladiatorenkämpfen stolzierte. Wo hatten sie dieses unsägliche Stück Stoff aufgetrieben? Warum hatten Vespasian und Titus unter all der Auswahl, die ihnen vorgelegen haben musste, sich ausgerechnet für das Machwerk eines geistesverwirrten oder gewissenlosen Meisters Zwirn entschieden?

»Sag dem Feldherrn, ich sei aufs Höchste entzückt und versichere ihn meines tief empfundenen Dankes.«

Es half nichts, ich musste hinein. Schweres Gewebe, in dem mir die Sonne einheizen würde. An Jakobs versteinerter Miene sah ich, wie sehr er innerlich feixte. Ich knurrte ihn an und zeigte ihm einen Eckzahn. Nikanor und die Centurionen grinsten offen. Drei Mann halfen mir. Mein Amicus gab Befehle, wie man sie sonst von einem Raubtierbändiger hört. Wenn irgendetwas eine Flucht absolut verhinderte, dann diese Art der Fesselung. Ob Aspekte der Sicherheit, der Securitas, welche die Römer so hochhielten, bei der Kleiderauswahl bestimmend gewesen waren? Vielleicht. Hoffentlich. Selbstverständlich. Das hieß, dass sie mich als äußerst gefährlich einstuften.

Wir bekamen Pferde zugeteilt. Meines hieß Hektor, ein graufleckiges stämmiges Tier, dessen Gestalt und Geduld mich an Bannus erinnerten, mein von Herzen geliebtes Maultier, mit dem ich drei Jahre lang durch Hellas und Asia gezogen war. Ich glaube, Hektor spürte meine Freude, als ich mich ihm vorstellte. Ich ließ mir zeigen, ob die Hufe ordentlich ausgeräumt waren, ob die Eisen saßen, ob Gurt- und Sattellage stimmten. Mit Jakobs Hilfe kam ich hinauf. Ich saß so weich wie möglich ein zu tiefem Sitz, und wir machten einander bekannt. Hektor war ein altgedientes Legionspferd, dem eine Richtungsangabe genügte, und das den Rest gerne selber erledigte. An Hilfen brauchte ich ihm nur zustimmende Anlehnung zu bieten. Mit hingegebenen Zügeln trug das Ross den Propheten dorthin, wo der Heereszug nach Ptolemais zusammengestellt wurde.

Es ist kein willkommenes Gefühl, wenn der Feind einem Bewunderung abnötigt. Unsere Pferde standen am Rand der Terrasse, und wir schauten hinunter in das Jotapata vorgelagerte Tal. Die Legionen und Auxilia warteten darauf, zum Einschwenken in den Zug aufgerufen zu werden. Wie perfekt und mühelos sie ihre Truppen ordinierten! Der Mensch reduziert sich in der Menge desto mehr zum Tier, je größer die Anzahl ist. Entsprechend bedarf es einer Führung, wie man sie bei Herdentieren anwendet. Den Römern stand die Erfahrung von Jahrhunderten zu Gebote, jedes einzelne ihrer Kriegstiere zu veranlassen, genau das zu tun, auf was es abgerichtet war. Dabei besaßen ihre Methoden bei aller Schärfe und Strenge einen gutmütigen Schlupf, der die Prozesse der Formationsbildung erleichterte. Wenn es zu Störungen kam, ein Achsbruch, eine Abteilung wurde irrtümlich fehlgeleitet oder Ähnliches, vermochten die Offiziere Teile der Truppenkörper langsamer und schneller zu treiben oder stillzulegen. Wie eine Maschine, die während der Arbeit repariert wurde. Die Erinnerung an meine eigenen kläglichen Bemühungen, Ordnung in meine Leute zu bringen, gesellte sich zu meinem widerwilligen Respekt. Ich hatte kaum über Männer verfügt, die in militärischen Fragen bewandert waren, einige Überläufer, ein paar Ausländer und Veteranen. Und der Stratege selbst ein Priester, der sich in aller Kürze Dinge aneignen musste, die ihm fremd waren. Was für ein hehres Wort, »Stratege«! Verglichen mit dem Aufmarsch der Römer war ich Hauptmann von disziplinlosen Haufen gewesen.

Die Römer hatten meine heimliche Betrachtung ihrer Vortrefflichkeit dazu genutzt, die leichteren Hilfstruppen und Bogenschützen loszuschicken, welche die Vorhut bildeten. Ihnen folgte, um den Ausschwärmern notfalls nachdrücklich den Rücken zu stärken, eine Abteilung Schwerbewaffneter, sowohl Fußvolk als auch Reiterei. Das Gepäck des Feldherrn und seiner Offiziere bekam die nächste, sicherste Stelle im Zug, denn der Hauptteil der Reiterei bewachte es. Jetzt waren wir an der Reihe. Wir wurden zu Vespasian dirigiert, der inmitten von Lanzenträgern mit Rundschilden wartete, seiner auserlesenen Leibwache. Wir fädelten uns viel beäugt hinter dem Feldherrn und vor den Legaten ein. Nach uns die übrigen Reiter, die Lastwagen, die Tribunen und Centurionen, die Feldzeichen samt Pelzträgern und Blechtönern. Dahinter marschierte die Legion in Sechserreihen, lediglich begleitet von einzelnen Centurionen. Zum Schluss der Tross, die Auxilia und die Nachhut.

Dies war kein gewöhnlicher Heereszug. Summte und brummte es nicht in der langen Schlange? Was war geschehen? Durfte man seinen Ohren trauen? Stimmten die unglaublichen Gerüchte? Der Rang ihres Feldherrn sollte erhöht, das Amt des Imperators und sein Imperium sollten in ihrer Bedeutung von Befehlshaber und

Befehlsgewalt nach oben geöffnet werden? Das Dach sollte abgebrochen werden, um einem neuen, obersten Stockwerk Platz zu machen. Kaisar sollte er werden, wie die Griechen titulierten. Der geschlagene Jude hatte sich zum Glücksvogel gemausert. Zur weißen Taube einer frohen Botschaft. Man durfte doch seinen Augen trauen. Welch ausgesuchte Behandlung dem Propheten zugeeignet wurde, dem Vernehmen nach einer der höchsten Priester der Juden, ein Pontifex. Dass er leichte Ketten zu tragen hatte zu seinem herrlichen Gewand, erhöhte den Reiz. Gab es nicht überhaupt uralte Weissagungen, der Herrscher der Welt werde dereinst aus dem Osten gerufen? Die X. Legion hatte vor gut hundert Jahren im Westen einen neuen Herrn nach oben getragen und sich mit unsterblichem Ruhm bedeckt. Sie hatte dem ersten Caesar als Trittstein gedient. Und wieder sollten sie einem neuen Mann den Weg bereiten. War es zu fassen? Östliche Weisheit! Für die Überzahl der Legionäre aus

dem Westen und Norden des Reiches ein Buch mit sieben Siegeln, dessen erstes ich ihnen gelöst hatte mit dem verheißungsvollsten Versprechen, das es gab. Was auch immer sie sich von der Eroberung Jotapatas erwartet haben mochten, egal womit sie gerechnet hatten, damit gewiss nicht. Jeder, ob im Heer oder Tross, durfte mit der Erhöhung seiner Einkünfte kalkulieren. Auch Laufbahnen und Aufstiege konnten ungeahnt an Fahrt gewinnen. Der Anwärter auf den Thron würde zudem für seine Salbung einiges springen lassen. Drohte gar ein Bürgerkrieg? Na und? Mehr Legionäre, mehr Geschäfte. Vorteile für alle entströmten dem Füllhorn meiner Prophezeiung.

In Ptolemais, im Lager der X. Legion, in einem Zelt am Schnittpunkt der beiden Lagerstraßen, hinter drei Altären und einem Stangenwald, ward uns endlich Gelegenheit zur Muße beschieden. Wir staunten nicht schlecht, denn wir befanden uns im Allerheiligsten der Heiden. Eine klobige, mit Eisen beschlagene Truhe ruhte im Hintergrund, die Kasse der Legion, dazu eine Menge Ritualgerät und ein Ersatzadler. »Ob ich ihn polieren soll, er scheint mir etwas matt«, überlegte Jakob. Unser Wert war in die Ränge sakrosankter Kostbarkeiten aufgestiegen. An Essen wurde uns eine breite Auswahl angeboten, von der wir wenig nahmen. Zwei Tage saßen wir meist vor unserem Refugium und studierten das Lagerleben. Die dabei gewonnenen Kenntnisse mochten eines Tages ihren Nutzen entfalten.

*

Am dritten Tag, in der noch dunstigen Frühe, hockten wir zu Füßen respektive Krallen des Stangenadlers und mümmelten Feigen und Nüsse. Wir führten eben die letzten Bissen zum Munde, als sich ein geschmückter Querbusch vor uns aufpflanzte und einen Befehl für mich entbot. Ich habe vor dem Feldherrn zu erscheinen, sofort, und Jakob dazubleiben. Ich zögerte zunächst. Sollte ich mich zum ersten Mal von meinem Kameraden trennen? Das Wagnis konnte eingegangen werden, denn uns verband eine unsichtbare Fernwirkung. Was dem einen geschah, widerfuhr auch dem anderen. Ich zwängte mich mühsam in den sperrigen Ärmelrock, während Jakob mir die Stiefel band.

Der Alte verlor wenig Zeit. Ob er ein Auge zugemacht hatte des Nachts? Ich lass mich doch nicht für dumm verkaufen, das musste ein ums andere Mal am Ende seiner Gedanken gestanden haben. Dieses zweite Zusammentreffen war weitaus gefährlicher als das erste. Er konnte beschlossen haben, beim kleinsten Zweifel Schluss zu machen mit dem Spuk. Er würde ausschließlich dem Urteil folgen, dem er am meisten vertraute, seinem eigenen. Ein Wink, und der im Sand rollende Kopf eines Aufschneiders würde allen von der Unbestechlichkeit eines Vespasian Kunde geben. Ich folgte dem Offizier und versuchte, wie ich es gelernt hatte, aller Achtung für die äußeren Umstände ledig zu werden. Nur was auf der Bühne spielte, war von Bedeutung. Ich fühlte, wie sich mein Körper beschleunigte, das »missionarische Fieber«, wie ich es bei mir nannte.

Da saß er, allein, ein alter Mann, an einem reinen Tisch, unter einem Feigenbaum, eine leere Bank seiner Seite gegenüber. Nicht unvertraut die Szene für mich.

»Setzt euch!«

Während ich mich niederließ und er meinen Gruß knapp erwiderte, witterte ich die Bedrängnis und das Drängen seiner Seele. Sie hatte wenig zu melden in dem starken Trägertier und fristete ein eingehegtes Dasein. Aber sie war nicht völlig machtlos und lauerte auf diese Gelegenheit eines echten Kontaktes zum Göttlichen, um Sinn gutzumachen und ihren Einfluss zu vergrößern.

»Ihr sagt, ihr hättet einen Traum gehabt. Was war das für ein Traum?«

Seine Worte besaßen die Herzlichkeit einer funkelnden Schwertspitze.

»Es sind mir insgesamt drei Träume gegeben worden. Der erste vor gut einem Jahr im Morgengrauen, noch an Bord der Thetis, vor dem Landfall in Caesarea, als ich von einer Reise nach Rom zurückkehrte. Mir wurde befohlen, nach Jerusalem zu eilen und mich dem Anführer der Friedenspartei zu unterstellen. Den zweiten Traum erhielt ich am Ende der Nacht, nach der mich die Volksversammlung zum Strategen wählen sollte. Mir wurde befohlen, das Amt anzunehmen und in seiner Ausführung auf die Friedenspartei zu hören. Der dritte Traum traf mich in der Frühe des Tages, welcher der Eroberung Jotapatas vorausging. Er teilte mir Auftrag und Botschaft der Gottheit mit. Der Auftrag ist erfüllt. Die Theoria der Eidola, die Anschauung der Bilder, war in allen drei Träumen dieselbe. Ich schritt in meinem Priestergewand einen breit gepflasterten, mählich ansteigenden Weg entlang, der beiderseits von hohen Schwarzpappeln begleitet wurde. Deren Blätter drehten und rieben sich in einem milden, sanft wehenden Wind, als tuschelten sie miteinander. Aber ich bemerkte links und rechts lange Hüttenreihen und ich erkannte, dass hier die Großen der Geschichte auf das Ende aller Tage warteten, und was ich für Gespräche unter Bäumen gehalten hatte, waren in Wirklichkeit die leisen Unterhaltungen der Verblichenen, die über die Zukunft mutmaßten. Nach sieben Stadien endete der Weg an einem mächtigen, von Eichen umstellten Felsen, aus dessen rosenberankter Seite ein lebhafter Quell hervorsprang, der in ein weiträumiges Tal mit wogenden, gelben Gerstenfeldern hinunterfloss. Es war vor Sonnenaufgang. Unter dem hohen, hellen Himmel, an dem der zunehmende Mond stand, sah ich, dass die Spitze des Felsens von einem Adlerhorst gekrönt wurde, der jedoch jedes Mal verlassen war. In diesen Augenblicken vernahm ich in allen drei Träumen eine tiefe Stimme, die von überall herzukommen schien. Sie erfüllte mich ganz und gar. Beim ersten Mal sagte sie: ›Eile und unterwirf dich deinem Lehrer.‹ Beim zweiten Mal: ›Sag Ja zum Amt und führe es nach dem Rat deines Lehrers.‹ Beim letzten: ›Geh in das römische Lager und übergib dem Feldherrn das Evangelium meines Willens.‹ Ich muss dazu sagen, dass ich ansonsten bis vor einem Jahr keinerlei irgendwie prophetischen Träume hatte. Ich benötigte auch noch nie die Hilfe eines Deuters, denn meine Traumgesichte waren alle stets von gewöhnlichster Art. Wenn ihr mir an unerschrockener Aufrichtigkeit einen Anteil einräumt, so will ich nicht verhehlen, dass ich dem Wahrsagegewerbe grundsätzlich mit Skepsis gegenüberstehe. Ich bin kein Opferpriester, sondern ein Schriftgelehrter im Dienste der Einen und Einzigen Gottheit. Als solcher betrachte ich es mit Missfallen, wenn an jeder Straßenecke, auf allen Marktplätzen und Festen billigste Verlockungen der Zukunft hochgestapelt werden, wenn den Wahrheitsuchenden mit dubiosem Scheinwissen das Geld aus dem Beutel gezogen wird. Dieser faule Zauber beruht auf simplen Vortäuschungen und bedient die Mirakelsucht des Volkes. Eingebildete Großmäuler verkaufen ihre Schaumschlägerei als gottgesandten Bescheid, obwohl jede genaue und vernünftige Prüfung deren mantische Wertlosigkeit erweist. Von Wahrsagerei lässt sich gut leben, vom Wahrheitsagen eher nicht. Auch das Orakelwesen ist mir nicht geheuer. Ich will nicht unerbietig erscheinen, aber mir war es seit jeher nicht leicht verständlich, dass ein Stück Leber klüger sein soll als ein erfahrener Feldherr. Ich möchte mir jedoch kein Urteil darüber anmaßen, in welcher Weise die Gottheit den auf der Erde Wimmelnden ihren Willen kundtut, dass sie sich aber in jede Einzelheit des Alltags einmischen will, halte ich für eine abwegige, in höchstem Maße unangemessene Vorstellung. Mein Lehrer, Jochanan ben Zakkai, der Anführer der Friedenspartei, hat mich gelehrt, dass die Gottheit die menschliche Geschichte wie ein Stratege überblickt und lenkt. Sie greift ein an strategischen Wegmarken, wenn eine Richtungsentscheidung erforderlich wird, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen. Außerdem wurde mir eingeschärft, dass die Gottheit in den seltenen Fällen, in denen sie ihre Sophia mit ihren Geschöpfen teilt, sich unbedenklicher, reiner Kanäle für ihre Weisheit versichert. Wenn es also bei einer angeblichen Verlautbarung göttlichen Willens bereits beim Träger der übernatürlichen Botschaft irgendetwas Unangemessenes, Unschickliches oder Unwürdiges zu entdecken gibt, so verdient der Bote keinerlei Glaubwürdigkeit. Es besteht natürlich die Gefahr, dass bei dem vielfältigen Scheinangebot an Prognosen und deren religiöser Unreinheit das Echte schwer zu bestimmen ist. Wie findet man die Perle der Wahrheit in einem Berg aus Unrat? Die Lehren meines Meisters geben mir das Selbstvertrauen, dass ich kein Spinner bin, kein Fabulierer, dass ich nicht einer magischen Selbsttäuschung erlegen bin. Ich finde nichts Unangemessenes an dem Gedanken, dass die Gottheit immer wieder in der Geschichte neue Männer wählt, welche die alten Werte, Kräfte und Sitten wieder beleben. Das Evangelium, das ich euch überbracht habe, verlangt nach der Autorität des Alters, dem Schatz der Erfahrung, der Reife des Urteils, der Garantie römischer Rechtssicherheit, entsprechend der Fülle an Verantwortung. Darin vermag ich keine Missweisung zu erkennen, nichts Unschickliches oder Unwürdiges. Die Absicht der Gottheit ist, das ist meine private Meinung, klar ersichtlich und über jeden begründeten Zweifel erhaben.«

Die Miene des alten Mannes hatte eine noch schärfere Fassung gewonnen, doch seine Augen blickten träumerisch, eines weiten Horizontes nicht ungewohnt, wie ihre Krähenfüße erzählten. Seine Seele hatte den Kreis, den er für sie gemacht hatte, überschritten. Sie hatte meine Worte aufgeleckt wie das Kätzchen die Milch. Ich empfand mit, wie sie ihr Tier umschnurrte.

»Was ist wirkmächtiger, das Schicksal oder der menschliche Wille?«

Oh alte, viel geliebte Frage, und in welch bescheidenes Gewand gekleidet! Vertrauensvoll war sie gestellt worden, wie von einem Gottesfürchtigen, gerichtet an einen Rabbi. Eine wertvolle Bestätigung für die Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses. Ich gab ihm die Antwort, leicht abgewandelt, die ich von meinem ersten Lehrer Gamaliel erhalten hatte:

»Eine Feige fällt niemals nach oben vom Baum. Das ist verfügt als Schicksal. Die Gottheit weist ihr für ihr Fallen einen bestimmten Umkreis zu. Das ist der Bereich menschlichen Willens, in dem Freiheit zum Herrschen gewährt wird.«

Und als ob es vom Bühnenhaus der Natur eingeplant gewesen wäre, löste sich just in diesem Moment eine Feige vom Baum. Sie knallte unglaublich laut auf den Tisch und kullerte auf den Alten zu. Es gibt Augenblicke im Leben, da beschleicht einen das Gefühl, dass Gott vielleicht doch bei der einen oder anderen Gelegenheit ein klitzekleines bisschen nachhilft. Ich möchte meine kurzzeitige seelische Verwirrung jedoch nicht als magisches Kränkeln verstanden wissen. Ich war mir vollkommen darüber im Klaren, dass die Feige und ich zwei Agenten Gottes waren, die zusammenarbeiteten, nichts Ungewöhnliches also. Auf der anderen Seite hatte die reife Frucht einigen Eindruck gemacht, ich spürte den überschäumenden Triumph der Seele. Wie um ihr Mütchen zu kühlen, die Gefühlsduselei zu dämpfen, fast unwillig, meldete sich das Tier zu Wort:

»Was ist in der Zisterne passiert?«

»Dort hatten sich nach und nach neunundvierzig Flüchtlinge gesammelt. Sie hofften, anders als ich, bis zum Abzug des Feindes unentdeckt zu bleiben. Falls sie aufgespürt werden würden, wollten sie sich selbst den Tod geben. Meine beschwörenden Vorstellungen, uns den Römern zu ergeben und auf ihre Milde zu setzen, waren für den Wind. Ja, man drohte mir an, mich und meinen Kameraden in den Hades vorauszuschicken. Mein Wort als Stratege galt nichts mehr, im Gegenteil. Um eine Krisis herbeizuführen, verfiel ich auf die Idee, das Los darüber entscheiden zu lassen, in welcher Reihenfolge die Sterbehilfe ausgeführt werden sollte. Der Vorschlag wurde angenommen. Die drei Ältesten sammelten die Namen aller Männer in einer Schüssel aus Steingut. Wessen Name gezogen wurde, der hatte seine Untergebenen umzubringen und musste selbst seine Halsgrube dem Nächstgezogenen darbieten. Der Name meines Kameraden, Jakob, und der meinige blieben bis zum Schluss übrig. Ich habe dafür keine Erklärung. Wir waren umgeben von Leichen. Und wir waren wie von Sinnen, denn der freiwillige Tod von Menschen, mit denen man noch vor ein paar Tagen Seite an Seite gekämpft hatte, verdüsterte unsere Herzen. Allerdings war mir durch diese Geschehnisse der Auftrag der Gottheit umso dringender vor Augen getreten, und ich verwunderte mich nicht.«

In Ermangelung einer geeigneten Antwort wich er, als wolle er die barsche Frage vergessen machen, aus auf privates Gebiet, in die Domus des Josef. Auf so etwas hatte ich gehofft.

»Was habt ihr in Rom gemacht?«

»Ich wollte drei meiner Freunde freibekommen, Priester wie ich, greise Collegen, denen ich in dankbarer Verehrung verbunden war, und die schon ein paar Jahre im Kerker geschmachtet hatten. Ihr Verbrechen hatte im Tempel stattgefunden und war akustischer Art, wenn es auch nicht musikalisch genannt werden kann, eher misstönend. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob ihre Darbietung bei mehr Wohlklang größeren Anklang gefunden hätte. Es hatte damit angefangen, dass der König Agrippa seinen Palast in Jerusalem umgebaut und im obersten Stockwerk einen großen Speisesaal eingerichtet hatte, der halb im Gebäude lag, zur anderen Hälfte jedoch als Terrasse mit bester Aussicht gestaltet worden war. Diese Aussicht nun bezog sich auf nichts weniger als die Einsicht in die heiligen Opferhandlungen, denn der Palast befindet sich gegenüber einem Portikus des Tempels. Aus beträchtlicher Höhe konnten jetzt der König und seine Gäste, darunter Damen und Nichtjuden, entspannt auf Polstern ruhen und dem heiligen Geschehen folgen. Während die feine Gesellschaft tafelte, Krustenbraten in Sahnesoße genoss und Meeresfrüchte in Garum schlürfte, klangen immer wieder helles Gelächter und laute Rufe herüber in den Tempel. Manchmal war auch ein einzelnes Klatschen zu hören, wenn eine Dame vor Aufregung einem selbstbezahlten Opfer entgegenfieberte. Beifall gab es des Öfteren, ob nach innen oder außen gerichtet, blieb unklar. Meine drei Freunde waren entsetzt, wie alle Priester des Tempels. Sie verlangten den Bau einer Mauer von hinreichender Höhe, um dem Treiben Einhalt zu gebieten. Die Erfüllung dieses Begehrs aber zog sich hin und die Verbitterung meiner Freunde wuchs. Sie entsannen sich des Vorbilds eines römischen Legionärs der Tempelwache unter Cumanus, warteten auf den nächsten Besuch des Königs und ein großes Gastmahl. Zudem hofften sie auf einen windstillen Tag, auf dass die Luft für Geräusche gut tragfähig sei. Da es nun so weit war, tranken sie am Tagesanfang unter Absingen frommer Lieder sehr viel Bier, und als sie dies vergoren hatten, gingen sie, kein Lüftchen rührte sich, in den Tempel an eine Stelle, die mitten im Blickfeld der Vornehmen lag. Ich stand als Beobachter nicht weit entfernt. Die Geländer der Terrasse waren gesäumt von Gesichtern. Zwischen zwei Opfern, als einmal Augenblicke völliger Stille eintraten, drehten sich meine Collegen um und schürzten ihre Kleider. Sie beugten sich nach vorn, zogen die Stopfen aus ihren entblößten Hintern und entließen eine zornige Kakophonie. Auch über den Geruch kann ich nur Schlimmes sagen, wenn ich auch bezweifle, dass er es bis zu den hochmögenden Nasen hinaufgeschafft hat. Der damalige Prokurator Felix hat die drei verhaften lassen und nach Rom geschickt. Ihn habe ich in Italia als Ersten aufgesucht, ihn und seine Frau Drusilla, eine Schwester des Königs Agrippa. Ich erhielt eine günstige Einlassung von ihm. Auch der zuständige Beamte, Epaphroditos, beförderte mein Anliegen. Endgültigen Dank aber schulde ich der Augusta selig, die dafür sorgte, dass mein Bittgesuch förmlich bewilligt wurde.«

Was sah ich da? Versteckte sich nicht ein Grinsen in den gegerbten Falten? Es war an der Zeit, zum Ende zu finden. Die Sache stand gut, alle weiteren Worte brachten nur unnötig neue Unwägbarkeiten und Fehlerquellen. Ich beschloss spontan, alles Nötige auf einen Handstreich zu wagen. Dazu brauchte es eine letzte Ermunterung, ein theatralisches Erheben und den Einsatz meiner Geheimwaffe, die ich bisher sorgsam verborgen hatte.

Ich schenkte ihm mein Lächeln.

Aus der Klasse der Aufbauenden, mit Auxilia aus Selbstsicher und Strahlend, beigemischt Dosen wärmender Gewissheit und lockenden Mutes und, als kleine Prise Salz, Ergebenheit des Untertanen vor dem Kaisaros.

Zeitlich gerafft ließ ich mein Lächeln wie einen Sonnenaufgang ablaufen, denn ich musste mich gleichzeitig respektvoll erheben, um ihn mit zum Aufstehen zu bringen. Das würde mir die Windseite im Gespräch erhalten und den Absprung ermöglichen. Nicht zu hastig, in fließender Bewegung, obzwar behindert vom pompösen Ärmelrock, wie vom Schicksal selbst emporgezogen, stand ich auf, er wie ein Schlafwandler folgte mir, und als das Lächeln in flammende Bewunderung übergehen wollte, sagte ich mit feierlicher Zuversicht:

»Das Wunderbare in eurem Geschick ist im Zunehmen begriffen. Ihr werdet Imperator Caesar Vespasianus Augustus sein.«

Ein großer Tag für seine Seele. Sie konnte dem Tier unter die Nase reiben, dass es gefunden hatte, ohne an eine Suche zu glauben. Die Seele konnte zu ihm sagen: siehste wiede bist! Misstrauisch bis zum Gehtnichtmehr und doch wider Verdienst belohnt. Wir standen uns gegenüber, und ich ließ mein Lächeln verglühen. Seine Rechte winkte mit der Beiläufigkeit des Befehlshabers irgendwohin, und der Querbusch stiefelte auf uns zu. Weil ich mich nach der Nahbegegnung mit einer Seele immer wie ein Lotusesser fühle, schwebte ich eine Handbreit über dem Boden des Geschehens. Wir sahen dem Centurio beim Salutieren zu. Der Schmuck seiner Brust und der übrige Klimbim der Rüstung zeugten davon, dass er besondere Umsicht und Selbstlosigkeit beim Totmachen bewiesen hatte. Bestimmte Muskelanspannungen und Stellungen des Körpers sollen beim Grüßen Disziplin und Tatendrang gleichermaßen symbolisieren und müssen deshalb kraftvoll, aber wie gezirkelt ausgeführt werden. Für mich bestand das Problem, nicht laut herauszuplatzen in meiner gehobenen Stimmung.

In liebenswürdigem Ton wandte sich Vespasian an mich:

»Ich schlage vor, dass ihr angesichts der obwaltenden Umstände ein Quartier in Caesarea bezieht. Man wird euch dorthin geleiten.«

Ich erwiderte sehr ernst:

»Ihr seid zu gütig.«

Es ist dies die nützlichste Redewendung überhaupt auf meiner letzten Erde. Für einen Juden zumal. Ich leistete dem golden glänzenden Rücken Folge und wurde Schritt um Schritt meiner Umgebung gewahr. Linker Hand Reiter, etwa vierzig, mittig wartende Fußtruppen, tausende, rechter Hand, an einem einfachen, weißen, niedrigen Zaun entlang, Trossleute und buntes Volk, wahrscheinlich aus Ptolemais. Was für ein riesiges Publikum uns beigewohnt hatte! Alle mussten meinen Auftritt verfolgt und sich gefragt haben: Rollt der Kopf oder rollt er nicht? Jede Menge Wetten wurden entschieden. Die Römer verstanden sich wirklich aufs Theater. Der erfahrene Spielleiter hatte ein Stück eingerichtet, das sowohl den amtierenden Caesar Augustus besänftigen als auch der Fama eines Neuen den Boden bereiten konnte. Mein bunter Aufzug wäre in ersterem Fall nichts als Verhöhnung gewesen. Das bedeutete auch, dass das Stück noch nicht zum Ende gekommen war. Ich besann mich auf die Kette, die ich trug und setzte sie fortan als Rasselinstrument ein. Außerdem würde ich mir die Gelegenheit zu einer kleinen Einlage, die mir ihre Herzen näherbrachte, nicht entgehen lassen.

Der Centurio steuerte auf meinen Hektor und Jakobs braune Stute zu, die für sich die zweite Bühne beherrschten, inmitten des Kranzes von Argusaugen, auch das blendend inszeniert. Man hatte mir sogar ein kleines Treppchen ausgeklappt. Ich bewegte mich in dem Wissen, dass ein Prophet seine Macht an nichts anderem erkennen lassen darf als an der Ungezwungenheit seines Auftretens.

Kurz vor dem Punkt, an dem der Offizier vermutlich anhalten würde, verließ ich die Spur und schritt gemessen zum Kopf des Tieres. Ich rief Hektor an, klopfte ihm den Hals und kraulte seine Mähne. Ich stellte mich vor ihn, schob die Hand breit unter den Kehlriemen, zwei Finger flach unter den Nasenriemen, und strich ihm die Stirnhaare über das hellblaue Kopfband. Ich legte meine Stirn auf seine Nüstern und sang ihm einen der Verse vor, die ich im Gürtel trug. Als ich mich zum Treppchen hin abwandte, tat mir Hektor den Gefallen, ein wenig Freude zu zeigen. Auf Stufen ein Pferd zu besteigen, ist natürlich eine dankbare Rolle, und ich suchte der Würde des Propheten eine schwungvolle Note zu verleihen. Nicht nur die Reiteraugen würden jede meiner Bewegungen mit fachkundigem Argwohn beobachten.

Ich musste mein Pferd versammelt halten. Wenn ich gedacht hatte, die Reise würde gleich beginnen, so wurde ich eines Besseren belehrt. Die Nebendarsteller waren an der Reihe. Offiziere, die nach einem bestimmten Muster verteilt standen, brüllten sich kurze Sätze zu, die dazu führten, dass der rechte Block der Legionäre sich in Bewegung setzte und linksschwenkmarsch die Straße nach Süden gewann. Die übrigen Truppenteile folgten in schier endloser Reihe. Ich lugte verstohlen hinüber zur ersten Bühne. Der Alte hatte mich am Brunnen vor dem Tore empfangen. Der kühle Quell entsprang einem großen Meilenstein, der sich in einem Feigenhain versteckte und dessen Wasser von einem hoch gelegenen Rückhalt gespeist wurde. Hier hatte ich vor gut zehn Jahren Rast gemacht, auf meinem Weg nach Antiochia. Die Stätte konnte recht lauschig sein, ohne Heerlager drumherum.

Aber der Flavier saß ja noch da! Und was machte er? Er schrieb etwas auf, unermüdlich, hatte keinen Blick für uns. Wenn er eines Tages seine Denkwürdigkeiten diktieren sollte, konnte er das Traumgeschenk wörtlich zitieren. Vielleicht würde er sein Schriftgut auch anderen Fachleuten vorlegen, denen vom Karmel zum Beispiel. Ganz gewiss aber würde er es seinem Sohn zeigen, der bestimmt zappelig in irgendeinem Zelt mit dem Frühstück wartete.

Meine Stimmung hatte sich merklich verdüstert. Sollten wir im Schritt nach Caesarea? Hinter all dem Fußvolk? Noch mal so eine Tortur wie nach Ptolemais in meinem unerträglichen Kostüm? Die Reitergruppe, auch wir, schlossen uns den Marschkolonnen an. Hektor und ich ließen die Köpfe hängen, er latschte vor sich hin und ich wiegte mich in der neu gewonnenen Geborgenheit.

Militärisch gesehen hatten wir uns einen Brückenkopf erobert, den es zu stabilisieren und auszubauen galt. Die Lage musste jeden Tag überblickt werden, mehr noch, ständig war Ausschau zu halten nach möglichen und unmöglichen Gefahren, gleich aus welcher Richtung sie kommen oder hinter welcher Ecke sie uns auflauern würden. War der Brückenkopf erst einmal ausreichend gesichert, konnten wir vorsichtig an die Ausweitung gehen. Mit dem bisher Erreichten durften wir zufrieden sein.

Ein Nickerchen übermannte mich, aus dem ich hochschrak, als Hektor stehenblieb. Die Lage hatte sich verändert, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hatte. Erst wohlfeile Selbstverpflichtung zum unermüdlichen Ausspähen und anschließend einschlafen, das fing gut an. Die Fußtruppen hatten sich zu den Seiten der Straße geteilt, wir ritten hindurch, vorneweg der Adler und ein paar Fahnen, hinterdrein unser Schwarm, Turma genannt, ein halbes Dutzend Centurionen und fünf Tribunen zum Schluss, die diverse Einheiten repräsentierten. Dazu Jakob und ich, die wir uns wie ausgestülpt vorkamen. Die X. Legion hatte zu Anfang des Marsches nach Caesarea ihren erbeuteten Schatz wie ein großer menschlicher Körper, wenn ich so sagen darf, noch einmal aus sich herausgetrieben und diese Geburt übrigens mit Geräuschen begleitet, wie man sie mittels Blech und Eisen erzeugen kann. Nach einer Weile steigerte sich mein Glück. Wir hielten an und sämtliche Reiter entledigten sich ihrer Paradesachen. Ich entkam dem beengenden Brutsack, und zwar für immer. Sogar die Ketten wurden mir abgenommen, und ich habe sie, bis auf eine Ausnahme, nie wieder anlegen müssen. Bereits bei diesem ersten Austausch unter Reitern, währenddessen mir diskret Wollfett angetragen wurde, entwickelte sich ein kameradschaftlicher Ton; alle fühlten sich sichtlich wohl als selbstständige Sondereinheit des kommenden Princeps, wie die Römer den Kaisar nannten.

Von der Entstehung des Christentums

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