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Vorbemerkung

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Gottshut gibt es auf keiner Landkarte. Es ist ein Ort meiner Erinnerung. Erinnerungen täuschen, irren, verwandeln. Es ist ein Ort meiner Fantasie. Auch andere im Buch genannte Dörfer und Städte, sofern sie nicht authentische Namen tragen, entstammen der Welt meiner Fantasie, ebenfalls die Menschen. Falls Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen bestehen, sind diese zufällig und nicht beabsichtigt. Die verwendeten Dokumente sind authentisch, die Namen darin hauptsächlich dann verändert, wenn sie im direkten Zusammenhang mit einer literarischen Figur stehen.

B.M.


In der Nacht, bevor Anna nach Gottshut fuhr, hatte sie diesen Traum:

In der Mitte der Dunkelheit sah sie Licht wie über einem Moor. Sie glitt auf das Licht zu. Da löste es sich in Helligkeiten und Dunkelheiten auf aus denen sich Bilder formten. Sie erkannte sich als Fünf- oder Sechsjährige an den hellen Locken, die spiralförmig den Kopf herunterhingen. Obwohl sie als Älteste die Geschwister überragte, schienen sie sonst alle in einem Alter.

Sie hielt die Fotos in den Händen und sah voller Glück eine Zeit abgebildet, von der sie bisher nur eine schwache Ahnung gehabt hatte. Die Kinder, hellhaarig und wenig bekleidet, saßen einträchtig auf einer alten Holzbank, dann wieder waren sie in ein Spiel vertieft, und nur eines schaute sie an, und das war immer sie selbst. Die Fotos ähnelten in gewisser Weise denen, die sie schon kannte. Die Kinder waren in Licht- und Schattenflecken eines Laubwaldes getaucht, sodass sie erst genau hinsehen musste, um die Gesichter zu erkennen. Die Fotos bekamen eine ungeheure Tiefe, als könne sie hineingreifen wie in ein offenes Fenster. Mit Bestimmtheit wusste sie jetzt, dass die Kinder sich auf dem mit Buchen bewachsenen Berg befanden. Sie spürte den herben Geschmack der Bucheckern auf der Zunge und die Splitter zwischen den Zähnen.

Wem gehören die Fotos? fragte sie und stand auf einer langen, schmalen Straße. Wer hat die Fotos dreißig Jahre aufbewahrt, ohne dass wir davon wussten? Die Flickschneiderin, war die Antwort. Es konnte auch nur die Flickschneiderin sein, schien ihr. Sie ging die Straße hinauf zu einem Haus, von dem sie annahm, dass die Flickschneiderin darin wohne. Aber dort stand nur eine mit Grün überwucherte Ruine. Die Frau zeigte sich nicht. Wahrscheinlich war sie tot. So konnte sie nicht um die Fotos bitten, mit denen sie eine Zeit voller Frieden und Harmonie in die Gegenwart hinüberretten wollte. Ohne Einwilligung der Frau hatte sie kein Recht auf die Fotos. Sie entglitten ihren Händen. Eine unsagbare Traurigkeit erfüllte sie.

Anna wachte auf.

Lange Zeit hatte sie angenommen, dass alle Menschen in den Nächten von ihrer Kindheit träumten. Als sie herausfand, dass die Träume anderer Menschen, selbst die ihrer Geschwister, sich kaum mit der Kindheit beschäftigten, war sie beschämt. Sie sah nun in ihren Träumen eine Art Krankheit, die sie vor anderen besser verbarg. Doch hatte sie Anzeichen dafür bemerkt, dass die in der Kindheit empfangenen Eindrücke für jeden Menschen tief waren. Auch diejenigen, die jegliche Beziehung zu ihren Müttern leugneten, wurden von deren Tod plötzlich tief erschüttert und ertrugen es schwer, von da an nicht mehr Kind einer Mutter zu sein, niemanden mehr zu haben, der sie vor dem eigenen Tod schützte, niemanden, der ihnen voranging. Anna vermutete eine Nabelschnur, die insgeheim die Kinder ein Leben lang mit den Müttern verband, sodass sie sich erst nach dem Sterben der Mütter wirklich allein und dem Leben wie dem Tod ganz ausgeliefert fühlten.

Hätte Anna es nicht besser gewusst, wäre sie im Glauben gewesen, sie träume die ganze Nacht und verbringe ihr eigentliches Leben in dieser Zeit. Außer von ihrer Familie träumte sie von dem Mann, den sie liebte. Die Beziehung bestand seit Jahren. Doch sie lebten nicht zusammen. Er hat sein Leben schon anders eingerichtet, hatte sie einmal einer Kollegin erklärt. Was er für sie empfand, darüber war sie sich nicht im Klaren.

Meist lag Anna schon lange wach, ehe sie aufstand. Dennoch fiel ihr das Aufstehen schwer. Sie fürchtete die Prozedur des Duschens, Eincremens, Ankleidens und mehr noch als diese mechanischen Handlungen die Anstrengung der Verwandlung in den Tagmenschen. Saß sie erst einmal angekleidet am Frühstückstisch, wunderte sie sich selbst über ihre plötzliche Frische. Sie fühlte sich für den Tag gerüstet. So würden ihre Eltern sagen. Kleidung und Make-up gaben ihr Haltung. Sie schätzte diesen alten Begriff. Disziplin ersetzte ihr die oft fehlende innere Energie. Und ihr graute vor dem Alter, wenn sie nicht mehr gezwungen wäre, um eine bestimmte Zeit aufzustehen und sich korrekt zu kleiden. Doch konnte sie sich auch vorstellen, dass sie sich dann sogar noch eher aufraffte als jetzt. Vielleicht würde sie aus dem Bett springen und Gymnastik treiben wie ihre Großmutter. Alles bis zum Frühstück wäre ein umfangreiches Programm, das sie als Pflichtübung zu absolvieren hätte. Und die einzigen Pflichten, sich und den Haushalt in Ordnung zu halten, nähme sie dann furchtbar ernst.

Für das Frühstück hatte sich Anna schon als Studentin viel Zeit gelassen. Sie dehnte es aus, zögerte den Absprung in den Tag hinaus. Und dann lief alles von selbst. Entweder saß sie in der Redaktion am Schreibtisch, die gewohnten Gesichter der Kollegen um sich, die sie sich als Freunde nie ausgesucht hätte. Aber das gefiel ihr. Denn so schliffen sich Empfindlichkeiten ab. Oder sie reiste herum, befragte Menschen, lernte neue Orte kennen, fand sich in neuen Situationen zurecht. Sie hatte ein ruhiges und bestimmtes Auftreten erlernt, bei dem das Bewusstsein, gut und teuer gekleidet zu sein, eine wichtige Rolle spielte. Sie vergaß ihre eigentliche Trägheit. Menschen interessierten sie, und in ihrer Neugier war sie gründlich, ließ nicht los, bis sie alles erfahren hatte.

Doch dann mit der Dämmerung oder schon früher, wenn sie sich unrein und verbraucht vorkam, nichts mehr sie vorantrieb, erschlaffte sie wieder, erlag dem Nachtmenschen. Hatte sie nichts für den Abend vor, döste sie vor sich hin, schlief recht früh ein. Sie schlief viel, lange. Und dann begann sie zu träumen. Immer dieselben Träume. Ihr Freund. Ihre Familie.

An dem Morgen des Tages allerdings, an dem Anna nach Gottshut fuhr, war dieser Traum erklärlich. Denn sie fuhr nach Hause. Zwanzig Jahre, nachdem sie als Oberschülerin ihr Elternhaus verlassen hatte, drückte sie sich immer noch so aus. Sie belächelte sich selbst, blieb aber dabei. Die Eltern hatten ihre Wohnorte gewechselt, die Geschwister waren aus dem Haus, auch die früher üblichen Familientreffen bei den Eltern aufgegeben, da die Geschwisterfamilien zu groß wurden. Trotzdem fuhr Anna weiter nach Hause. Vielleicht hätte sie auf dieser Bezeichnung irgendwann nicht mehr bestanden, wenn die Eltern nicht nach vielen Jahren wieder in jenes Städtchen zurückgekehrt wären, von dem sie einst ausgegangen waren: Gottshut.

Mit Bedacht war von den Gründern vor zweieinhalb Jahrhunderten dieser Name gewählt worden. Unter den Schutz des HERRN befahlen die aus Böhmen und Mähren vertriebenen Evangelischen, die sich noch von dem wegen Ketzerei verbrannten Jan Hus herleiteten, die neu gegründete Freistatt des Glaubens im Sächsischen. Johann Amos Comenius, außerhalb von Gottshut vor allem als Pädagoge bekannt, war der letzte Bischof des alten Bruderbundes der Böhmen und Mähren. Und schon sein Enkel, Oberhofprediger des Alten Fritzen weihte einen der ersten Bischöfe des erneuerten Bruderbundes, zu dem sich die Gottshuter zusammenschlossen. Seit einem Jahrhundert gehörte die Familie von Annas Vater den Gottshutern an. Aber auch der Mutter war Gottshut seit frühester Kindheit vertraut, denn die Ferien verweilte sie bei ihren Großeltern, die sich Gottshut als Ruhestandssitz gewählt hatten. Als Witwe war dann Annas Großmutter nach Gottshut gezogen, um ihre alten Eltern zu pflegen. Im Krieg schließlich kam auch Annas Mutter in das Städtchen.

Obwohl Anna nur die ersten Jahre ihrer Kindheit in Gottshut verbracht hatte, die Eltern waren bald ins Mansfeldische gegangen, zog es sie immer wieder dahin zurück. Viel stärker als ihre jüngeren Geschwister erfasste Anna, dass die Eltern in dem Dorf nicht heimisch wurden, das die erste Pfarrstelle des Vaters war. Gottshut ist die Heimat unserer Väter, hatte der Vater damals Anna erklärt und in ihr das Empfinden für das geweckt, was sie Diaspora nannten, Zerstreuung. Die Familie lebte in der Zerstreuung. Ein Schicksal, das sie mit vielen Gottshutern gemein hatte. Aber sie blieben Gottshuter, ihre Kinder wurden im Geist von Gottshut erzogen.

Freunde wussten von Annas Herkunft. Im Kollegenkreis allerdings erwähnte sie nie den Namen des Ortes. Die Gottshuter waren zwar nur wenigen, meist Älteren, bekannt. Doch diesen wenigen verriet sie sich als eine, die aus einer anderen Welt kam, womöglich aus einer anderen Zeit, in der Gott noch im Mittelpunkt des Geschehens stand. Und man sollte Anna nicht auf Zeichen ihres Andersseins hin beobachten oder gar belächeln.

Selten fuhr Anna zu den Eltern. Und dann meist nur für zwei Tage. Dieses eine Mal jedoch hatte sie sich zu einem längeren Bleiben entschlossen. Noch haben wir eine Kammer für Gäste, hatte die Mutter geschrieben. Du wirst ganz ungestört sein. Der Umzug der Eltern aus der geräumigen Amtswohnung in eine kleinere Alterswohnung stand bevor. Zudem wollte der Vater eine seiner längeren Evangelisationsreisen antreten, sodass Anna - seit wie viel Jahren zum ersten Mal - allein mit der Mutter wäre. Das hatte wohl den Ausschlag gegeben.

Anna hatte sich entschieden, erst den Mittagszug am Sonntag zu nehmen. Bei ihrer Ankunft wären die Besucher des Vaters aus dem Haus. Die Geschwister, wie sich die Gottshuter anredeten, die dem Vater, schien Anna, näher als die eigene Tochter waren und zwischen denen sich Anna als Fremde im eigenen Elternhaus fühlte, obwohl man sie als Älteste des Predigers und als Redakteurin, deren Name hin und wieder in einer Kulturzeitschrift stand, mit größter Hochachtung behandelte. Anna beklagte sich nicht, war sie doch in diesem Geist aufgewachsen, in dem rigoros nach den biblischen Gesetzen gelebt wurde und in dem die Familie - der Gottshuter Missionstradition zufolge - einen untergeordneten Platz zugewiesen bekam, anders als in den übrigen evangelischen Pfarrhäusern. Noch in der elterlichen Generation war es das übliche Schicksal des Missionarskindes, früh von seinen Eltern getrennt in den Internaten Gottshuter Prägung herangezogen zu werden und die über Tausende Kilometer entfernt lebenden Eltern erst nach Jahren wiederzusehen. Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert. Textstellen wie diese aus dem Matthäusevangelium waren Anna nur zu geläufig. Da sie die Gemeinschaft der Gläubigen verlassen hatte, musste sie auch eine Entfremdung von den Eltern und ihren Geschwistern hinnehmen. In letzter Zeit, nachdem eine Schwester Annas dem Elternhaus überraschend den Rücken gekehrt hatte, vollzog sich jedoch ein Wandel. Gerade war Anna im Werben um die Familie müde geworden, schrieb kaum noch. Als ahne die Mutter, dass Anna im Begriff war, sich zu lösen, streckte sie ihr die Hand entgegen. Nach so vielen Jahren, in denen Anna umsonst auf ein Zeichen der Mutter gewartet hatte. Ablehnung konnte sie noch ertragen. Aber sie brachte es nicht fertig, jemanden zurückzustoßen, der ihr freundlich begegnete. Was vorher gewesen war, es war vergessen oder spielte wenigstens keine Rolle mehr.

Wie die Orte auch hießen, in die Anna zu den Eltern reiste, immer benutzte sie den gleichen alten Bahnhof, der nicht in das Bild einer Großstadt passen wollte. Auf dem einen Gleis des Fernbahnsteiges kamen die Züge an, auf dem anderen fuhren sie in Richtung Süden und Südwesten ab. In gleichmäßiger Folge liefen auf den Bahnsteigen der Stadtbahn die ockerroten niedrigen Züge ein und aus. Der gewohnte Anblick der abgeschrägten Teerdächer, von deren Holzunterbau rußgeränderte Farbteilchen blätterten. Sie wurden von gusseisernen Säulen getragen, die Pflanzenornamente an den Kapitellen schmückten. Je näher die Abfahrt des Zuges rückte, um so mehr Menschen versammelten sich. In Annas Nähe ein Elternpaar mit zwei halbwüchsigen Töchtern. In den wenigen Sätzen, die die Familie miteinander austauschte, hörte Anna die ihr so vertraute Tönung der Sprache. Vielleicht ein Rest Schlesisch, und vielleicht hatte auch das slawisch gefärbte weiche Deutsch des kleinen Sorbenvolkes im Zweisprachengebiet Einfluss genommen. Noch immer übte diese Art zu sprechen eine große Wirkung auf Anna aus. Die Mädchen unterschieden sich in nichts von den supermodern und teuer gekleideten Töchtern der Stadt. Selbst in ihrer Erschöpfung genossen sie ihr Spiegelbild in der Schwester, zupften aneinander herum, warfen die Köpfe, als streife sie ein leichter Wind, sodass die Ohrgehänge in den langen gelockten Haaren wippten. Anna sagte sich, dass sie schon ihre eigenen Töchter sein könnten, obwohl sie das Ehepaar einer anderen Generation als der ihren zurechnete. Es hatte offensichtlich schon ganz seinen eigenen Anspruch an das Leben aufgegeben und schien mehr durch die Kinder als für sich selbst zu leben. So anspruchslos war es gekleidet und achtete nur auf die Kinder. Unglaublich jung kam sich Anna neben diesem Ehepaar vor. Und doch gehörte sie, im ersten Nachkriegsjahr geboren, inzwischen schon zur mittleren Generation. In wenigen Jahren würde sie vierzig.

Im Zug hatte sie ein Abteil für sich, sodass sie sich nach Belieben ausstrecken konnte. Lange blieb die Gegend flach und sandig. In der Nähe eines Kohlekraftwerkes befiel sie schmerzhafte Langeweile und überhaupt eine Reiseunlust, die sie schon kannte. Immer auf der Fahrt zu den Eltern stellte sie sich ein, mal stärker, mal schwächer. Wann hatte sich die Vorfreude verloren, diese fiebernde, fast kindliche Erwartung, nach Hause zu kommen?

Wie glücklich war sie gewesen, als der Vater nach beinahe eineinhalb Jahrzehnten Dienst als Prediger in der Anhaltischen Landeskirche zurückberufen wurde in eine Gemeinde des Gottshuter Bruderbundes. Kaum hatte sie die Eltern an ihrem neuen Wirkungsort begrüßt, als sie sich schon in das nahe gelegene Gottshut aufmachte. Unvergessen blieb ihr der Einzug, den sie damals in das Städtchen hielt. Zwanzigjährig, barfuß, in Jeans und Kutte, die kurzen Haare triefend nass vom Regen, so war sie von einem Motorrad gestiegen - immer fuhr sie per Anhalter - und durch Gottshut gezogen. Nacheinander besuchte sie alle nahen Freunde der Familie. Mit einem Mal überkam sie ein Gefühl, das sie nie zuvor gehabt hatte: Sie war heimgekehrt. Nun, da ihr Vater ein Prediger der Gottshuter war, hatte auch sie eine Heimstatt gefunden. Hier waren ihre Wurzeln. Und es bedeutete gar nichts, dass sie schon als Siebenjährige aus Gottshut fortgezogen war. Sie hatte die Leute, die ihr begegneten, auffordernd angesehen. Sie war doch Anna Herrlich, die Tochter des Predigers Herrlich, die Enkelin des Brüderhofvorstehers Herrlich, die Enkelin von Schwester Gertraud Kröger, die lange hier gelebt hatten, und die Urenkelin des Superintendenten Schlemmin, der die vielen Jahre seines Ruhestands in Gottshut verbrachte und von dem die Älteren sicher noch wussten. Anna hatte gemeint, man müsse sie erkennen, sie brauche sich nur ein wenig mehr anzustrengen. Gelänge es ihr, die freundlich abwesenden Blicke der Gottshuter auf sich zu lenken, würden deren Augen bestimmt aufleuchten. Ah, das ist doch … Dann hatte sie sich ein anderes Spiel ersonnen. Sie bildete sich ein, unter einer Tarnkappe verborgen, durch Gottshut zu gehen, genoss, dass die Leute durch sie hindurchsahen, während Anna sie unverschämt genau mustern und ihre Namen sagen konnte. Die Gottshuter ahnten nichts von Annas Genugtuung. Und wenn, sie hätten ihre Gesichter nicht vor Anna verstecken können. Sie waren ihnen schon vor Annas Geburt für ein ganzes Leben mitgegeben und Anna dadurch für immer bekannt.

Doch die Freude hielt nicht lange. Bald begannen die Eltern ihr sektiererisches Glaubensleben, das einen bis heute anhaltenden Streit unter den Gottshutern entfachte. Versetzungen erfolgten. Zuletzt kam der Vater in die Muttergemeinde. Er hatte kein eigenes Pfarramt mehr, sondern versah von Gottshut aus seinen Dienst als Reiseprediger, hielt Bibelstunden, Gottesdienste in der umliegenden Gegend. Schließlich bot vor einigen Monaten das Bekanntwerden seiner zweiten Taufe, die der Vater als seine eigentliche Taufe ansah, eine Handhabe, ihn ganz seines Amtes zu entheben und ihn vorzeitig in den Ruhestand zu versetzen. Die Ordination und damit das Recht auf Verwaltung der Sakramente und Wortverkündigung wurden ihm aberkannt. Die Eltern schien es kaum zu drücken. Sie führten, nun frei von Amtspflichten, ein noch tätigeres Leben, empfingen zahlreiche Gäste, wurden ins Land gerufen von Mitgliedern anderer Freikirchen, Sekten, Angehörigen der Landeskirchen. Dennoch, die Eltern waren Ausgestoßene, dreißig Jahre, nachdem der Vater hoffnungsvoll von Gottshut ausgezogen war.

Wie hatte es dazu kommen können? fragte sich Anna manchmal. Es lag wohl am Charakter des Vaters, der keine Niederlage ertrug, und an seinem Lebensweg. Als junger Bursche ging er zur Marine. Der Zusammenbruch, wie die Eltern das Ende des Zweiten Weltkrieges bezeichneten, löste im Vater eine tiefe Erschütterung aus. Er besann sich auf den Glauben seiner Kindheit. Die erste Erweckung der Eltern brachte sie von der Nordseeküste zurück in die alte Heimat des Vaters. Den Wechsel von der englischen Besatzungszone in die sowjetische missbilligten viele Verwandte. Trotzdem ließen sich die Eltern nicht beirren. Zur Kompromisslosigkeit neigend, geriet der Vater Ende der vierziger Jahre in Konflikt mit seinem staatlichen Arbeitgeber und entschloss sich, Geistlicher zu werden. Nach einer Ausbildung auf dem evangelischen Predigerseminar in der Lutherstadt Wittenberg ging er in ein Dorf im Mansfeldischen. Anna wusste von seinen Anfechtungen fernab vom behüteten Gottshuter Gemeindeleben, von seinem Bild über die Gemeinschaft im Bruderbund, die sich in den Jahren seiner Abwesenheit veränderte und sich auch in seinem Kopf verwandelte zu der oft beschworenen Glaubensoase. Der große Triumph, die Rückkehr zu den Gottshutern, endete mit einer Enttäuschung. Er geißelte das laue Gemeindeleben, kennzeichnete' die Mitglieder des Bruderbundes als unbeweglich. Verzweifelte, da er das Feuer der ersten Liebe nicht mehr fand, von dem die Bibel sprach und das er häufig zitierte. Diese Verzweiflung mündete in eine zweite Erweckung. Wieder erfuhr er wie in seiner Jugend einen lebendigen Gott. Der Teufel war für ihn der Leibhaftige, sinnlich erfassbar, so musste es auch Gott sein, anders fand seine gequälte Seele keine Ruhe. Die zweite Erweckung sonderte ihn schließlich von den Gottshutern ab.

Anna hatte mit dem neuen, noch inbrünstigeren Glaubensleben des Vaters nichts zu tun haben mögen und verhielt sich als einzige der fünf Geschwister dauerhaft ablehnend. Duldsamkeit war nie die starke Seite des Vaters gewesen. Jetzt betrachtete er Anna mit größerem Argwohn als zuvor. Als sie vierzehn gewesen war, hatten sie sich zum ersten Mal entzweit und nie recht versöhnt. Nun mieden sie sich. Dabei war Anna einmal des Vaters Lieblingstochter gewesen, hatte von seiner Ungeduld, dem jähen Charakter weniger erfahren als ihre jüngeren Brüder. Auch Gottshut verlor an Anziehung, besonders nachdem die Eltern am Ort wohnten. Dennoch: Ging sie durch den Ort, leuchtete manchmal Gottshut ganz unvermutet im Glanz der Erinnerung auf, und sie verstand wieder ihre Anhänglichkeit an das Städtchen.

Die Landschaft hatte sich verändert, war von der Ebene in sanfte Hügelketten übergegangen, auf denen sich Felder und Wiesen dahinzogen. Baumgruppen, wenige Alleen, auch einzelne, weit sichtbare Bäume lockerten das Bild. Wälder wuchsen in Senken hinein oder begrenzten den Horizont. Manchmal durchgrub das Schienenbett Felsgestein oder hohe Bahndämme verdeckten die Sicht, an denen Schafe weideten, krummnasige Tiere mit lang herunterhängendem zottigen Fell. Danach erholte sich das Auge an den weiter dahinschwingenden Linien, den erdenen und pastellenen Farbtönen. Der Anblick der vertrauten Landschaft verfehlte nicht seine Wirkung auf Anna. Ahnungsweise regte sich Freude in ihr.

Auf der vorletzten Bahnstation der Strecke stieg sie aus dem Eilzug, mit ihr die meisten Reisenden. Durch einen engen, vom Regen vieler Jahre feuchten Tunnel gelangte sie auf einen außerhalb des übrigen Bahnhofes gelegenen Bahnsteig.

Minuten später setzte sich der Personenzug in Bewegung, überquerte Bächlein und Bäche, die tief in die Vorgebirgslandschaft einschnitten, gewährte von Brücken und Viadukten Einblicke in die Dörfer, deren Straßen sich die Hänge hinaufwanden. Um die hölzernen, weiß gestrichenen Eingangstore der sauberen Vorgärtchen rankten sieh Kletterrosen oder Clematis mit ihren zarten großen violetten Blüten, die der Vater so liebte. Die Obergeschosse der einstigen Weberhäuser ruhten auf vorstehenden Ständern, durch Rahmen und Querstreben miteinander verbunden, sodass sie nicht von den im Erdgeschoss arbeitenden Webstühlen erschüttert werden konnten. Winzig die Fenster zwischen den Holzbögen der Umgebindehäuser im Erdgeschoss, die Wände der Obergeschosse und Seiten mit Schiefer verkleidet. Oft fehlten die angenagelten Platten auch, sodass der Holzuntergrund sichtbar war.

Gelb verputzt das Gottshuter Bahnhofsgebäude mit seinen Rundbogenfenstern. Für den Bruchteil einer Sekunde freudvolles Erkennen. Dann nahm Anna Enttäuschung vorweg. Sicher wollte die Mutter sie abholen. Aber genauso sicher würde ein Missgeschick irgendeiner Art sie daran hindern. In dem ansonsten reinen Bahnhofsgebäude roch es wie eh und je nach Toiletten. Die Fliesen waren frisch gewischt, ein Geländer neben der Tür von der früheren Sperre übrig geblieben, in einer Glasvitrine Neuerscheinungen der brüderischen Buchhandlung. Ein junger Mann, vielleicht war er von Anfang an mit Anna mitgereist, wurde von seinen Eltern empfangen. Diese sahen auch Anna kurz an. Sie hätte jetzt etwas darum gegeben, zu beweisen, dass sie keine Fremde hier war.

Laut hallend das Gespräch zweier auf einer Bank sitzender alter Männer. Ihre Gesichter tief eingekerbt, vom Wetter lederhäutig geworden.· Offensichtlich keine Gottshuter, denn sie sprachen im unverfälschten Dialekt der Dörfer. Dunkle harte Worte, in dem quirlenden Gurgeln gingen die Vokale unter. Anna hätte heulen mögen.

Langsam, fast widerwillig, ging sie unter den altersschwachen gestutzten Bäumen der Bahnhofsallee entlang. Die Villen in ihren bescheidenen Gärten hinter kunstlosen eisernen Gittern erschienen ihr bedürftig.

Dieses Gottshut, dachte Anna. Ringsum gibt es schönere Dörfer, jedes für sich überraschend und des Ansehens wert. Hier nur zwei Straßen. Eine schmale Hauptstraße, eine noch schmalere Nebenstraße, einige Gässchen, die meist beide Straßen miteinander verbinden oder auf die Wiesen hinausgehen. Und eine letzte, am Kirchsaal entspringende kurze Querstraße hinauf zum Gottesacker. Der Plan des Städtchens hatte sich wie Narben in ihr Gedächtnis eingegraben. Die Wirklichkeit war ernüchternd. Anna hoffte auf die Mutter, deren Anwesenheit Gottshut verklären könnte. Wahrscheinlich käme sie Anna ahnungslos - vielleicht auch schuldbewusst - auf den letzten Metern entgegengeradelt. Wenn die Eltern nicht mehr lebten, würde Anna Gottshut in ihrer Erinnerung bewahren wie andere, die hier aufgewachsen waren und das Bild ihrer Kindheit unversehrt in sich trugen, weil sie nie wieder zurückkehrten.

Die Nebenstraße zweigte von der Hauptstraße ab. Die Bäume eines spitzwinkligen Platzes verdeckten die Einsicht. Die Hauptstraße verlor ihre Bäume, stürzte in eine Senke hinab und stieg allmählich wieder an. Da in der Senke befand sich das Haus, in dem Annas Familie mit der Großmutter Kröger gelebt hatte. Anna überquerte die Straße, sah zwischen den Bäumen eine Frau, die in Statur und Kleidung der Mutter glich. Aber die Mutter war es nicht. Manches Mal hatte sich Anna in Gottshut auch aus der Nähe von rundlichen, kurzhaarigen Frauen täuschen lassen, deren Kleinheit zu den Straßen und Gässchen passte, auf denen sie entlangeilten und die den mütterlichen Typ Gottshuter Schwestern darstellten. Sie konnten auch Auswärtige sein. Wie tief würde es die Mutter kränken, wenn Anna ihre Irrtümer gestände. Denn ihr Leben lang hatte sie sich gesträubt, typisch auszusehen, war stolz auf ihre moderne Frisur im Kreis der dutttragenden Pfarrschwestern gewesen. Nur ihre schmale, angeblich etwas lange Nase machte der Mutter noch in Annas Kindheit Kummer. Anna mochte die kleinen Eitelkeiten, die sich die Mutter in unbedenklicher Naivität gestattete, während sie die an ihren Kindern als ein Stück Eigensucht vermerkt hatte, die ausgemerzt werden musste.

Das gelb leuchtende Gebäude des Museums, in dem von Gottshuter Missionaren gesammelte Kult- und Gebrauchsgegenstände von Tibet bis Grönland aufbewahrt wurden, fügte sich in den spitzwinkligen Grundriss des Platzes ein. Eine hohe Buchenhecke bedrängte über viele Meter den schmalen Gehweg. Anna streifte mit der Hand die glänzenden harten Blättchen, strich mit dem Körper an der Hecke entlang, die vor dem Einblick in das riesige Gartengrundstück schützte, aber auch denen auf der Straße Schutz gewährte.

Die Straße beschrieb einen scharfen Knick, um dann parallel zur Hauptstraße zu verlaufen. Aus der Kurve kam eine Frau auf einem Rad. Die Beine traten kraftvoll zu wie bei einer Vierzigjährigen, der weite Rock wehte im Fahrtwind, die herunterhängende Strickjacke schlappte, das Gesicht gerötet, die grauweißen Haare kurz geschnitten. Anna winkte aufgeregt, blieb stehen und genoss das Näherkommen der Mutter. Die stoppte vor ihr und sprang vom Rad. Ihre hellen, grünen Augen leuchteten. Das war das Gesicht, das auf Anna immer noch den gleichen Reiz ausübte wie in ihrer Kindheit. Alle Geschwister schworen beim ersten Wiedersehen, die Mutter habe sich nicht verändert. Sie glich immer der Mutter vom letzten Mal.

Hab ich's mir doch gedacht, sagte die Mutter, hielt das Rad mit den Beinen fest und umarmte Anna. Ich bin doch zu spät.

Das schaffst du nie. Anna lachte und war überzeugt, die Mutter überhörte den Vorwurf.

Ich hab nach Vaters Abreise noch alles in Ordnung gebracht. Übrigens einen schönen Gruß von ihm. Und dann hab ich einen Brief geschrieben. Der musste heute noch weg.

Jaja, beschwichtigte Anna.

Die Mutter packte Annas Reisetasche auf den Gepäckträger. Zufrieden, als hätten sie sich schon sehr lange ein Wiedersehen gewünscht und nun endlich wäre es soweit, liefen sie nebeneinander her, Anna auf dem Gehweg, die Mutter mit dem Rad auf dem Kopfsteinpflaster der Straße und dadurch noch ein wenig kleiner als sonst. Anna beugte sich. Ihr behagte nicht die Perspektive großer Menschen, sie war sie nicht gewöhnt. Aber sie musste den Dienst der Mutter, die Anna bewusst als Gast erhöhte, annehmen. Sicher tat es der Mutter wohl, neben ihrer ältesten Tochter herzugehen und zu ihr aufzublicken. Es geschah ja so selten.

Wir haben einen Artikel von dir gelesen, sagte die Mutter. Auch Vater. Ein Bruder hat ihn uns gebracht. Er handelte ... Jetzt komm ich nicht auf den Namen. Eine Stadt in Thüringen war's.

Ich weiß schon, sagte Anna und spürte die Anspannung der ersten Begegnung. Sie merkte, wie sie sich keinen Augenblick erlaubte, das Lächeln aus ihrem Gesicht zu lassen.

Du musst nicht meinen, dass wir keinen Anteil an deinem Ergehen nehmen. Die Mutter schien sich jetzt ebenfalls unbehaglich zu fühlen. Wir interessieren uns, betonte sie. Nur mit Briefen ist es schwierig. Was uns wirklich am Herzen liegt, möchtest du nicht wissen. Und dann ist unser Leben etwas zu reichlich ausgefüllt, um alles, was man möchte, auch ausführen zu können.

Ich frag mich sowieso, wie du alles schaffst, sagte Anna. Früher hast du bei jedem Besuch einen Riesenaufstand gemacht.

Das hat sich geändert. Die Mutter lächelte mit geschlossenen Lippen, die Mundwinkel spannten sich. Anna kannte dieses Lächeln. Es trat immer dann auf, wenn sich die Mutter bemühte, eine Bemerkung zu unterdrücken. Sie hatte wohl auf den neuen Menschen in sich hinweisen wollen. Ich bin selbst erstaunt, woher ich die Kraft nehme, sagte die Mutter. Aber wir bekommen sie täglich neu geschenkt.

Anna verstand die Anspielung. Ihr lebt halt anders, sagte sie. Da gehört man dazu oder nicht.

Die Mutter zögerte mit der Zustimmung. Möglich, sagte sie endlich. Nur bist und bleibst du unsere Tochter. Wir haben dich lieb. Das sollst du auch wissen.

Jaja. Anna konstatierte, wie leicht der Mutter die Worte lieb haben fielen, obwohl sie sonst zurückhaltend in Gefühlsäußerungen war und Fremden gegenüber fast verletzend kühl. Das Wort gehörte in den Gottshuter Sprachschatz. Gott hatte lieb, die Eltern hatten lieb. Das bedeutete nicht mehr, als dass man nicht verloren gegeben wurde. Die Eltern waren der Pflicht ihrer Tochter gegenüber vor dem himmlischen Vater nicht entbunden.

Die Buchenhecke endete an einem Durchgang zu den Feldern.

Die Schlippe, sagte die Mutter.

Die Schlippe, wiederholte Anna. In eine Schlippe schlüpfen, dachte sie.

Anna hatte nun die Nebenstraße bis zum Kirchsaal vor sich. Sie begrüßte das kleine barocke Türmchen auf dem langen, zweigeteilten Dach der Kirche und konnte es nicht unterlassen, in die Fenster der niedrigen Häuser zu Beginn der linken Straßenseite zu schauen. Hineinschlüpfen, dachte Anna noch einmal und besah sich die Topfblumen und pendelnden Unruhen in den Fenstern. Kurze breite Steintreppen mit eisernen Haltestangen vor den Eingängen, sodass Kinder, die Umwege liebten, sicher die Straße treppauf - treppab liefen.

Wo willst du denn hin, sagte die Mutter erstaunt, als Anna eine Treppe hinaufging.

Verwechselt, sagte Anna. Die Häuser sehen so gleich aus.

Du kannst es dir am Schild merken. Die Mutter wies auf einen über der Straße hängenden Aushang des Schreibwarenladens.

Nun behalte ich's auch nicht mehr. Das nächste Mal seid ihr schon in der neuen Wohnung.

Ja, richtig. Die Mutter lächelte. Sie zog gern um. Vielleicht hatte die Mutter in ihrem ganzen Leben nicht mehr als sieben, acht Jahre an einem Ort gelebt, ausgenommen in Hannover. Ihr Vater war als Beamter hier- und dahin versetzt worden, und ihr hatten die Ortswechsel als Kind gefallen, sodass es sie ihr ganzes Leben danach drängte, weiterzuziehen. Bot sich kein Umzug an, wurde wenigstens die Ordnung in der Wohnung gründlich verändert, weil dies praktischer schien. Aus einem Schlafzimmer wurde ein Kinderzimmer, aus einem Kinder- ein Wohnzimmer, und das Wohnzimmer wurde zum Amtszimmer des Vaters erklärt. So brachte die Aussicht auf Wohnungswechsel die Mutter in freudige Erregung und ihre Nerven, die geringeren Strapazen kaum standhielten, erwiesen sich plötzlich als äußerst belastbar. Die Mutter plante, besprach sich mit dem Vater und den Geschwistern, verwarf, fand immer praktischere Lösungen für die Aufteilung und Einrichtung der neuen Wohnung.

Anna hasste Umzüge und war hilflos, wenn ihre gewohnte Ordnung selbst für kurze Zeit durcheinandergeriet.

Am Blumenfenster erkannte Anna das Amtszimmer des Vaters im Erdgeschoss. Eine Topfblume mit zart behaarten rötlichen Nesselblättern mochte Anna besonders. Es tat ihr leid, dass sie in Zukunft nicht mehr in dieses Fenster sehen konnte.

Die Mutter schob das Rad in den Hof. Anna folgte ihr. Lautes Sprechen hatte jetzt zu unterbleiben. In dem den Brüderischen gehörenden Haus wohnten verschiedene Parteien - auch die Familie des zweiten Ortspfarrers - und die Mutter hatte das Verhalten der Großstädterin beibehalten. Gesprächen auf der Treppe wich sie aus. Husch-husch-durch, hatte sie einmal zu Anna gesagt, und Anna war betroffen gewesen, wie sehr sich die Scheu der Mutter mit ihrer eigenen schneckenhaften Empfindlichkeit vor der Berührung mit Nachbarn deckte.

Das Wohnhöfchen, von allen Seiten mit Hausmauern umgeben, war mit Kopfsteinen gepflastert. In der Mitte ein Blumenbehälter, von der naturliebenden Frau des zweiten Pfarrers gepflegt.

Die Mutter stellte das Rad in einem der Gelasse ab, Anna legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen.

Sonnst du dich? fragte die Mutter.

Nein, nein.

Sie gingen eine Bodentreppe hinauf, die zugleich den inneren Eingang zur Wohnung bildete. Die Gästekammer befand sich hinter einem Abstellraum, die übrige Wohnung auf der anderen Seite.

Du kannst wunschgemäß ganz für dich sein, sagte die Mutter und lächelte ironisch.

Anna tat einen Blick auf die in der Bodenkammer aufgestellten Betten und den Ofen. Der Tisch stand in der Dachschräge an dem zum Garten weisenden Fenster. Die Blumen dort waren sicher für Anna frisch gepflückt. Das machte die Mutter immer, das durfte man von ihr bei aller Vergesslichkeit sonst erwarten. In der Bodenkammer konnten ganze Familien bequem ihren Urlaub verbringen, zumal auch ein Heißwasserboiler und eine Kochplatte vorhanden waren. Schade, dass ihr die Kammer verliert, sagte Anna.

Ja, schade. Die Mutter pflichtete ihr bei. Ich hab noch nicht bezogen. Ich wusste nicht, in welchem Bett du schlafen willst. Frühstücken tun wir doch gemeinsam, ja?

Gern.

Mittagessen habe ich im Schwesternhof bestellt. So wolltest du es ja.

Es ging darum, dass du dir keine Umstände machst.

Aber es wäre kein Umstand gewesen.

Nachher doch. Ich kenn dich. Anna strich der Mutter über die Wange. Das tat sie ganz leicht und von sich heraus. Sie folgte ihrem natürlichen Bedürfnis, etwas Kleines, Beleidigtes oder Hübsches zu liebkosen. Seit einiger Zeit hatte sie diesen zärtlichen Umgang mit der Mutter. In Annas Kindheit war die Mutter abweisend gewesen, und Anna hatte außer zu besonderen Anlässen nie gewagt, die Mutter zu berühren. Auch heute verhielt sie sich zu Frauen mittleren Alters mitunter gezwungen und ängstlich. Wahrscheinlich fürchtete sie in ihnen die kalten, Launen unterworfenen und schwer begreifbaren Mütter. Hingegen hatte Anna eine große Zuneigung zu alten Frauen und sah in ihnen über Jahre hin die in der Ferne lebende Großmutter. Irgendwann war die Mutter in dieses Alter hineingefallen und hatte sicher damit in Anna liebevolle Gefühle geweckt.

Ach du, sagte die Mutter, wie sie zum Vater sagte, wenn sie sich - zwar noch etwas unentschlossen - mit einer Erklärung zufriedengab. Sie war nicht im Mindesten misstrauisch und leicht zu täuschen. Natürlich hatte Anna der Mutter nicht nur Arbeit ersparen, sondern sich auch ihre Unabhängigkeit bewahren wollen.

In der Sommerszeit wurden alle Mahlzeiten im Garten eingenommen. Die Mutter hatte diese Gewohnheit aus Annas Kindheit wieder eingeführt. Die Mahlzeiten gestalteten sich zu Höhepunkten des Tages. Ob sie zehn, zwölf oder nur zwei Personen waren, die Mutter betrieb den gleichen Aufwand. Anna begriff sie mittlerweile, denn ihr Lebensinhalt hatte immer darin bestanden, den Kindern die Mahlzeiten zu bereiten und sie zu kleiden. So geriet ihr beides zum Ritual, hatte sie nur irgend Zeit. Anna hatte noch die Klage der Mutter aus ihrer Kindheit im Ohr: Es ist so schnell gegessen!

Die Mutter schichtete in einem eigens für den Transport bestimmten kleinen Wäschekorb Geschirr und Besteck und gab Anna einen feuchten Lappen in die Hand. Abwischen! ermahnte sie.

Anna ging die steile Bodentreppe hinunter, die wenigen Schritte über das Höfchen durch den ständig offenstehenden Durchgang in den hoch liegenden Garten. Ein Treppchen führte hinauf. Dann war Anna in diesem heimlichen, verschwiegenen Garten zwischen Ziegel- und Schieferdächern und Mauern.

Er gehörte allen Hausbewohnern, jedem ein bestimmtes Stück. Das linker Hand bis zum Kirschbaum, Annas Eltern. Aller Boden war genutzt. Nicht einmal Trampelpfade hatte sich der Vater gegönnt. Ein Blumenbeet am Mittelweg, quer dazu Nutzpflanzen. Kaum erkennbar zwischen den gelb und orange leuchtenden Blüten der Kapuzinerkresse ein Durchlass zum Rasen unter dem niedrigen Kirschbaum. Anna balancierte, den Korb vor sich herschiebend, duckte sich unter die Zweige, die den Essplatz wie ein Gewölbe abschirmten. Doch drinnen konnte man aufrecht stehen. Hier war der Sommersitz der Mutter. Von diesem Kirschbaum berichtete sie in vielen Briefen. Der Kirschbaum blüht! Ich sitze unter dem Kirschbaum, die Blüten auf dem Tisch! Bald sind die Kirschen reif! Wenn Du nur kommen könntest! Die Mutter hatte eine große Lust am Sehen und begann jeden ihrer Briefe mit der Einführung in die besondere Stimmung des Tages, einem Blick in die sie umgebende Welt. Indem sie Anna und ihre Geschwister aufmerksam auf das machte, was sie als schön empfand, hatte sie ihnen ganz unbewusst ein Stück Lebensfreude weitergegeben.

Die kleine Blumenvase auf dem Tisch war umgestoßen. Anna sah sich nach Wasser im Garten um und füllte die Vase. Sie lächelte bei dem Gedanken an den Spott, den die Mutter für den Tischschmuck mitten im Garten von der Familie aushalten musste.

Die Mutter trug überbackene Käsebrote die Treppe herauf. Leicht ihr Gang, überraschend für eine beinahe Siebzigjährige. Sie schob sich unter den Zweigen durch und setzte das Tablett ab.

Anna wartete, bis die Mutter die Augen schloss und ihr Gebet verrichtete. Als gehöre es sich nicht, eine Betende anzuschauen, sah sie zur Seite. War der Vater da, wurde laut gebetet. Doch allein tat es die Mutter still und ohne Aufwand. Auch darin lag Unterordnung, jetzt unter Anna.

Ist es nicht schön hier? Die Mutter hatte ihr Gebet beendet.

Einmalig. Anna blickte in die grün verschwimmenden Augen der Mutter. Es hätte auch alles anders kommen können, dachte sie. Wenn ich ihre Einzige gewesen wäre.

Anna lobte die mit Tomaten- und Zwiebelscheiben unterlegten Käsetoaste.

Es schmeckt dir also. Die Mutter öffnete ihren Mund zu einem breiten Lächeln und zog die Oberlippe über ihr künstliches Gebiss.

Anna hielt einen Augenblick den Atem an. Wie Omi! fuhr es dann aus ihr heraus. So hat Omi gelächelt!

Ja. Vater und Mechthild behaupten auch, ich würde ihr immer ähnlicher, stellte die Mutter befriedigt fest, und ihr Gesicht nahm den spitzbübischen Ausdruck alter Frauen an, die mit dem Hinweis auf ihre zunehmenden Lebensjahre unverhüllt kokettierten.

Anna studierte eingehend das Gesicht der Mutter, um noch mehr über die künftigen Möglichkeiten der Verwandlung zu erfahren. Sollte sich am Ende das, was die im Wesen und Aussehen so unterschiedlichen Frauen getrennt hatte, als ganz belanglos erweisen? Die Mutter schien eine Annäherung an die Großmutter fast zu wünschen. Möglicherweise fände sich Anna in der gleichen Lage, und ihre Nichten und Neffen würden plötzlich ausrufen: Wie Omi Hilde! Dann dächte Anna an ihre eigene Großmutter und wüsste, dass sie in Wahrheit wie diese lächelte, wie diese ging, am Suchen nach verlegten Gegenständen verzweifelte.

Eigentlich hat außer mir nur Mechthild Omi noch richtig gekannt, sagte Anna.

Oh, das glaube ich nicht. Sie war doch jedes Jahr vier Wochen bei uns.

Schon. Anna überlegte. Sie hatte wohl etwas anderes gemeint. Anna und Mechthild, die beiden Ältesten, hatten in ihrer Kindheit dieselben Menschen mit ihrer Liebe verfolgt und bewiesen noch heute Anhänglichkeit an sie, während Erdmuthe abweisend gewesen war, die dritte und schönste Tochter aus dem Märchen, und dem Herzen der Mutter am nächsten, hatte Anna gemeint, bis Anna herausbekam, Mechthild, das Sorgenkind, stand ihr am nächsten. Erdmuthe hatte niemanden neben der Mutter geduldet, noch nicht einmal die Großmutter.

Sie wäre in diesem Frühjahr hundert geworden.

Hast du daran gedacht?

Natürlich. Ich war an dem Tag draußen bei Bekannten. Sie mussten auf den Hundertsten von Omi mit mir anstoßen.

Treu bist du.

Anna zuckte mit den Schultern. Was hieß Treue? Sie konnte nicht vergessen. Das war alles. Vielleicht eine Krankheit.

Vater und ich feiern immer noch.

Die Eltern nutzten jede Gelegenheit, um Abwechslung in den Jahresablauf zu bringen. Sie feierten auch früher die Geburtstage aller abwesenden Familienmitglieder. Von jeher war der Geburtstag der Großmutter besonders begangen worden. Nun ließen sie auch nach deren Tod nicht von dieser Gewohnheit.

Wie wir die Abende hier draußen genießen, sagte die Mutter und atmete tief durch.

Warum bist du nicht mit Vater gefahren?

Es hat sich nicht ergeben. Außerdem kann ich die Zeit jetzt auch brauchen. Warum lachst du?

Ihr habt so Ausdrücke: Es hat sich nicht ergeben, es hat sich nicht gefügt, es war uns nicht verordnet oder doch vergönnt.

Ja und? Was ist daran so komisch?

Das kannst du nicht begreifen. Jemand anderes hätte einfach gesagt: Es passte nicht. Ihr aber ergebt euch, fügt euch.

Soso. Du hörst ja sehr genau hin. Wir sind wohl gute Studienobjekte für dich?

Unsinn. Anna hatte nicht mit der Empfindlichkeit der Mutter gerechnet, die oft ganz überraschend auftrat und die Spottlust der Familie, besonders des Vaters, eher noch förderte.

Eine Nachbarin ging den Mittelweg entlang in den hinteren Teil des Gartens. Da sie nicht redeten, wurden sie nicht von ihr bemerkt.

Wie lange sind wir beide nicht mehr allein gewesen.

Anna sprach leise, damit sie nicht gehört wurden.

Ja, ich hab auch gedacht, es könnte doch mal ganz hübsch sein.

Sie hätte mich schon verwöhnt, dachte Anna. Nur, die Geschwister waren jünger, bedürftiger. Immer sind die Jüngeren bedürftiger.

Haben wir uns zu wenig um dich gekümmert? Die Mutter schien Annas Überlegungen zu erahnen.

Anna wich aus. Ihr habt gemeint, ich komm schon durch. So habt ihr mich halt eingeschätzt. Schnell war Anna bereit zu entschuldigen. Vor Jahren hatte Anna die Mutter in Gedanken mit Vorwürfen überhäuft. Doch nun konnte sie nicht zulassen, dass sich die Mutter ihretwegen belastete.

Fehler macht man immer, die Mutter seufzte erleichtert.

Das weiße Gartenhäuschen hob sich kaum mehr vom hellen Abendhimmel ab. Anna sah die runden, sich zum Giebeldreieck verjüngenden Eingangssäulen. Diese Gartenhäuschen gehörten zu Gottshut. Einige tempelartig. Schiefergedeckt, aus Holz, weiß gestrichen, andere teerüberdacht, aber mit reichem Schnitzwerk, manche auch gemauert und gelb getüncht. Es kam Anna so vor, als hätte sich über Jahrhunderte das eigentliche Leben der Gottshuter Brüder und Schwestern in diesen Gärten abgespielt, und noch heute bevölkerten ihre heiteren Seelen die verlassenen Häuschen, in denen sich keine Gemeinschaft mehr zusammenfinden wollte, außer dass Kinder sie zufällig zum Spielen benutzten. Nach und nach verfielen sie und wurden abgetragen.

Gehen wir? sagte die Mutter, blieb aber noch eine Weile neben Anna sitzen.

Anna schlief schwer ein. Von nirgendher kam Licht, nicht aus dem Hof, nicht vom Garten. Nicht einmal ein Geräusch war zu hören. Eine solche Stille und Dunkelheit, es nahm ihr den Atem. Endlich machte die Müdigkeit sie gleichgültig.

Lange war es still um sie. Dann erstand aus hellem Nebel eine Stadt mit engen Straßen und hohen Häusern. Dunkle Löcher klafften statt Fenstern und Türen. Ziegelsteine waren herausgebrochen. Anna stand auf dem weiten Platz in der Mitte und konnte ganz ruhig sein. Der Krieg hatte das Böse aus den Häusern herausgetrieben. Menschen liefen geschäftig auf den Straßen und gingen in die Häuser. Es schien sehr wichtig, Brot zu backen. Die Kleider waren von weißem Mehlstaub bedeckt. Hin und wieder wurde Anna angesprochen. Aber sie merkte es nur daran, dass man sie anblickte und etwas von ihr wollte. Annas Weg führte zu einem Haus in der Straßensenke, das unbeschädigt war. Im Haus ging sie eine abgetretene Holztreppe hinauf. Eine breite Diele im Obergeschoss. Hinter einer der Türen hatte ein großes Mädchen mit dem Namen Lilo gewohnt, das gut zu Anna gewesen war. Vielleicht sollte Anna an eine der Türen klopfen, und Lilo, das Mädchen mit den dicken, dunklen Zöpfen, gäbe sich endlich zu erkennen.

Eine schmale Holztreppe zum Dachgeschoss. Rechts die Kammer vom alten Herrn Renzoni. Anna war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er vielleicht schon gestorben sei und die Kammer nur mit dem Gerümpel fremder Leute angefüllt. Da entschloss sie sich, die Klinke der Tür herunterzudrücken, hinter der sich ihre alte Wohnung befand. Die Wohnung war unverschlossen. Sie sah durch den Flur in die große Wohnküche. Die Großmutter legte Leibwäsche zusammen. Ihre knochigen Hände zerrten ungeduldig an den Stücken.

Wohnst du jetzt wieder hier? fragte Anna.

Die Großmutter zog die Augenbrauen hoch. Auf ihrer Stirn bildeten sich viele kleine Runzeln. Sie blickte Anna mit ihren durch die Starbrille vergrößerten blauen Augen vorwurfsvoll an. Ja, natürlich, sagte sie, legte ein Hemd auf den Wäschestapel, das letzte Stück der Leibwäsche, und nahm ein Kopfkissen. Sie breitete es auf dem großen, ausziehbaren Küchentisch aus und sprengte es mit Wasser aus einer kleinen, Anna wohlbekannten verbeulten Aluminiumschüssel, die sonst die Mutter für Küchenkräuter verwandte. Das silberne Schüsselchen.

Weißt du, so habe ich mir das gewünscht, sagte Anna und war glücklich, dass es gekommen war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie ging näher an das große Küchenfenster und erinnerte sich, wie die Mutter den Ausblick auf den Kretzschmar gelobt hatte, hinter dem abends die Sonne unterging. Ein Bahndamm hinter Hof und Gärten.

Anna wandte sich der Großmutter zu. Du hast wieder den schönen Ausblick, sagte sie. Und die Wohnung ist besser für dich als die der Eltern. Da hättest du bei den vielen Treppchen leicht stürzen können. Sie merkte, dass sie die Eltern entschuldigte, die die Heimkehr der Großmutter nach Gottshut nicht mit genügend Eifer betrieben hatten.

Gott hat mir diesen Wunsch erfüllt, sagte die Großmutter feierlich. Ich darf meine letzten Tage in Gottshut verbringen. Auch meine Grabstelle ist schon bestimmt. Ich werde nach Schwester Goldstücker sterben. So werden wir nebeneinanderliegen.

Aber Schwester Goldstücker lebt doch noch, sagte Anna und benutzte einen Namen, von dem sie wusste, dass er falsch war. Doch sie meinten dieselbe Person.

Ja, sie wird vor mir sterben, beharrte die Großmutter. Und ich bin die Nächste. Ein wenig Zeit hat Gott mir noch hier auf Erden geschenkt.

Dann werde ich euch beide besuchen, versprach Anna. Alles bekommt seine Ordnung, dachte sie. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass dir dein letzter Wunsch erfüllt wird, sagte Anna und fühlte, wie sie vor Erleichterung zu weinen begann. Zu unerträglich war ihr die Vorstellung gewesen, der Großmutter würde die Erfüllung ihres letzten Wunsches verweigert werden.

Hier habe ich meine geistliche Heimat, sagte die Großmutter und sah Anna ernst an mit der deutlichen Ermahnung, dass auch sie endlich Frieden mit Gott schließen solle.

Ich weiß, sagte Anna. Du hast es immer geschrieben. Ich hab auch gedacht, du kannst nie zu alt sein.

Es steht dir nicht zu, mit den Eltern zu hadern. Nein. Nun gibt es ja auch keinen Grund mehr.

Die Großmutter setzte sich auf ein kleines Sofa. Anna nahm neben ihr Platz und schaute auf die zusammengelegten männlich kräftigen Hände.

Es ist aber gut, dass ich hergekommen bin. Keiner hat mir gesagt, dass du hier bist. Und wenn du bald sterben wirst, ist es gut, wenn ich dich vorher noch einmal sehe, nicht wahr? Anna strich über die Außenflächen der Hände. Sie fühlte, sie hatte ein Recht, die Großmutter zu streicheln.

Die Hände der Großmutter öffneten sich. Anna legte ihre hinein.

Du denkst daran, dass ich dich wiedersehen möchte, sagte die Großmutter. Du weißt, es gibt nur einen Weg.

Ja, Omi. Anna bemühte sich, an den bekümmerten alten Augen vorbeizuschauen. Wenn du hier so allein wohnst, sagte sie, dann könnten die Eltern wieder zu dir ziehen. Sie müssen ohnehin ihre Wohnung räumen. Anna freute sich, wie leicht sich alles löste.

Die Großmutter schwieg. Sie hatte Anna wohl nicht gehört. Ich möchte dich wiedersehen, Kind, sagte sie noch einmal.

Plötzlich war Anna allein. Sie stand auf und suchte nach Spuren, die bewiesen, dass sich die Großmutter in der Wohnung aufgehalten hatte. Am gewohnten Platz hing ein Foto in silbernem Rahmen: die Großmutter und der Großvater. Die Großmutter spitznasig, die Haare in der Mitte gescheitelt und eingerollt und mit einer wenig zu ihr passenden Handarbeit beschäftigt. Den Großvater erkannte Anna an dem abrasierten Schädel und dem Zwicker. Er hielt eine Zigarre in der dicken Hand.

Nachdem Anna das Foto gesehen hatte, wusste sie, dass sie auf ein Wiederkommen der Großmutter nicht mehr hoffen durfte. Die Großmutter hatte etwas mitzuteilen gehabt und sich danach entfernt.

Auf der Treppe traf Anna die Nachbarin. Wir werden wieder in unsere alte Wohnung ziehen, sagte Anna. Unsere Großmutter ist zurückgekommen.

Das wurde auch Zeit, entgegnete die Nachbarin. Anna lief die schmale Gasse hinauf in die Nebenstraße, um den Eltern die freudige Nachricht mitzuteilen. Jemand drückte ihr einen Brief in die Hand, sie brauchte ihn nicht zu öffnen, denn schon hörte sie die Großmutter. Ja, meinen Gottshut-Traum musste ich aufgeben. Zwanzig Jahre früher wäre es noch gelungen. Jetzt ist es zu spät. Auch die Wohnung ist nicht vorhanden. Es ist die Atmosphäre dort, in die ich gern noch einmal heimgekehrt wäre. Hier fehlt sie mir. Aber ich habe die Pension der Schwestern von Hensoldshöhe bewusst verlassen, um hier mit der sehr guten Pension meines Mannes zu helfen. Und zwar gerade noch rechtzeitig, ohne dass ich es wissen konnte: Zwei Töchter führen gleichzeitig ein längeres Studium durch. Daher ist mein Dasein nicht unnütz, wenn ich auch nun keine andere Möglichkeit habe, jemandem zu nützen. Das Abnehmen der Kräfte muss man bejahen lernen.

Anna fand sich in der elterlichen Wohnung wieder. Im Flur traf sie auf den Vater, hielt ihn am Arm fest und wollte ihm mitteilen, dass die Großmutter da gewesen wäre. Doch ihr Eifer verscheuchte den Vater. Er löste ihre Hand und bedeutete mit einer Geste, dass er ein dringendes, nicht aufschiebbares Amtsgeschäft zu erledigen habe. Eine Ahnung trieb Anna ans Fenster: Die Großmutter ruhte im Liegestuhl. Der Kirschbaum verdeckte eigentümlicherweise nicht die Sicht. Anna sah ganz deutlich das Gesicht der Großmutter, in das die Nachmittagssonne fiel. Die bräunliche Farbe der Stirn und die aufgesprungenen Äderchen der Wangen gaben ihr ein blühendes Aussehen. Das Gesicht umrahmten dichte, grauweiße Haare, die zu einem losen Knoten zusammengesteckt waren. Eine Frau in hellem Kleid näherte sich der Großmutter und beugte sich zu ihr herunter. Omi?

Jajaja, murmelte die Großmutter.

Ich bin's.

Die Großmutter öffnete langsam die Augen. Hildekind?

Der Kirschbaum schloss seine Zweige. Anna hatte genug gesehen und ging zur Bodentreppe.

Unten erschien die Mutter mit einem großen Blumenstrauß. Sie lief die Stufen herauf und sagte atemlos und glücklich: Denk dir, Anna, unsere geliebte Omi hat mich noch erkannt! Dann wurde sie nachdenklich und sagte: Sie begreift nur noch das Nächstliegende. Die Stimme der Mutter klang, obwohl sie in Annas Nähe stand, wie aus weiter Ferne, als bewege sie nur ihre Lippen und jemand anderes spräche.

An mich erinnert sie sich nicht mehr?

Nein, Anna. Es hatte wenig Sinn, deine Grüße auszurichten.

Unsere Omi geht weg von uns?

Die Mutter lächelte traurig: Sie ist schon von uns gegangen.

Nun wurde Anna die Bedeutung des Blumenstraußes klar. Die Großmutter hatte sich nach ihrem Tod noch zweimal gezeigt, um Anna mit ihrem Sterben zu versöhnen.

Dann bist du jetzt unsere Omi? fragte Anna und spürte, wie die Zärtlichkeit für die Großmutter auf die Mutter überging.

Ja, Annakind. Uns ist die Zuversicht gegeben, dass du zu uns zurückfinden wirst, denn wir beten für dich.

Omi ist tot, wiederholte Anna und hoffte, dass die Mutter ihre Worte widerrufen würde.

Sechsundneunzig Jahre, erinnerte die Mutter. Es ist ja nur eine vorläufige Trennung.

Vater beerdigt sie? Anna stellte die Frage vorsichtig, um die Antwort der Mutter nicht vorwegzunehmen, womöglich noch günstig zu beeinflussen. Denn beerdigte der Vater die Großmutter, hieße dies, die Großmutter würde doch noch in Gottshut neben dieser Schwester Goldstücker beigesetzt.

Als Antwort hörte Anna die Stimme des Vorlesers: Ihre Enkelin Ille Kröger sah die Großmutter als letzte. Die Großmutter sah hübsch aus wie ein junges Mädchen mit rosigen Bäckchen und heiterem Gesichtsausdruck. Jedoch veränderte sie sich zwei Stunden nach ihrem Hinscheiden und war völlig fremd, sodass man den Sarg zu schließen gezwungen war, einen braunen Eichensarg, welchen ihr Sohn Armin ausgesucht hatte. Es war der Tag, an dem in Süddeutschland ein schweres Unwetter herniederging und viel Zerstörung brachte im ganzen Landstrich. Doch der Gang zum Grab und die kurze Liturgie konnten ohne Regen geschehen, nachdem der Ortspfarrer nach dem Willen der Familie in der Kirche den von der Dahingeschiedenen selbst verfassten Lebenslauf verlesen hatte. Die Tochter der teuren Toten tat einen Strauß Rosen aus ihrem eigenen Garten auf das Grab. Zahlreiche Verwandte und Bekannte waren anwesend. Mit einem Wort Heinrich Heines, das am Grab ihres Sohnes in Russland gesprochen wurde, endete die Versammlung.

Anna hörte den Kommentar des Vorlesers zum weiteren Geschehen, in das Anna nach und nach einbezogen war. Landsknechte fielen in das Dorf ein und schändeten auch den Friedhof, auf den die letzten Bewohner geflüchtet waren. Das beunruhigte Anna nicht besonders, denn bisher hatte sie sich selbst aus schwersten Scharmützeln retten können, und sie verstand sich gut auf das Kriegshandwerk.


Nest im Kopf

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