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II

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Georg sah auf den Zettel, den Susanne ihm gab. Alle 14 Tage bekam Susanne am Kiosk vorn am Bahnhof ein Heft und eine CD zu einem billigen Preis. Was ist für heute angekündigt?, fragte er.

Mozart, Sinfonie Nr. 1. Ich freu mich schon. Und ein Andante eines Orchesterstücks.

Georg verzog das Gesicht. Ach na ja, Mozart, sagte er.

Was haben Sie gegen Mozart?

Da ist doch manches sehr verspielt!

Was haben Sie eigentlich für einen Lieblingskomponisten?

Sarasate. Für einen Geiger ganz klar. Und die Romantiker.

Bei denen treffen wir uns wieder, sagte Susanne.

Durch ein Grinsen gab Georg zu verstehen, er war, was Mozart betraf, zum Verzeihen geneigt.

Ich könnte ihm erzählen, wie ich den 17. Juni 53 erlebt habe, sagte sich Susanne, während Georg unterwegs war. Das wird ihn interessieren.

Nach seinen Einkäufen war Georg geneigt, Susanne zuzuhören. Und so begann sie von jenem Tag zu berichten:

Susanne wie jeden Morgen im überfüllten Zug nach Karl-Marx-Stadt zwischen Arbeitern von Secura, der Harlaß-Gießerei, von Diamant, vom 7. Oktober, vom Fritz-Heckert-Werk. Ein Murren unter den Arbeitern: Ene Schinderei. Was solln das noch wern, wer solln das noch schaffn. Un for das Geld! De Norm erhöhn, das könn se, aber frach mich, was se sonst könn! Susanne läuft den Trampelpfad zur Schule, die Innenstadt eine Ödnis. Trümmer weggeräumt, aber noch nichts oder wenig neu gebaut. In der Pause dann ein Zischen: Meine Güte, heute is was los! Habter schon gehört? Die streikn! Die streikn! Ein großes Wundern unter den Schülern. Streiks sind verboten. Die Betriebe volkseigen. Ein Volk kann nicht gegen sich selbst streiken!, wird argumentiert. Plötzlich drehen sich die Köpfe in Richtung Hofmauer. Zwei Gestalten in gestreifter Kleidung klettern über die Mauer der Schule am Kassberg. Die mussten schon eine ganze Weile gelaufen sein. Ein Gejohle, ein Geklatsche geht los! Hurra! Hurra die Freiheit! Die Stimmung unter den Schülern aufgeheizt. Ein Häftling bleibt verdutzt stehen, der andere rennt gleich weiter. Die Lehrer merkwürdig aufgeregt. Und dann werden die Schüler früher nach Hause geschickt. Susanne schließt sich zwei anderen Mädchen in Richtung Bahnhof an. Heute ist man lieber nicht allein. Am Seiteneingang des Hauptbahnhofs ein Panzer. Susanne müsste in zwei, drei Metern Entfernung vorbei. Die Erinnerung an schießende Panzer zu mächtig. Auch am Haupteingang Panzer, russische Panzer, von Polizisten bewacht. Ob sie wollen oder nicht, die Mädchen müssen an ihnen vorbei zu den Zügen. Sie schleichen, huschen. Erwachsene werden kontrolliert. Die Mädchen nicht. Man sieht ja, Schüler, Lehrlinge. Mittags nur wenige Leute auf dem Bahnhof, in den Zügen. Susanne dämmert vor sich hin, als eine Frau die hohen Stufen zum Abteil erklimmt, sich schnaufend hineinhievt. Oh, oh, o Schreck, o Schreck, sagt sie zu einem Mann. Ham Se das gesehn? - Nee, nee, hab nischt gesehn!, brummt der Mann.- Aber ich, ich hab se gesehn!, sagt die Frau. Sie sin gekomm mitm großn Transparent: WIR STREIKEN! NIEDER MIT ULBRICHT!

"... Ich hoffe, das bedeutet, dass der Waffenstillstand Gott sei Dank aufhört und endlich wieder normale Zustände eintreten! Es lebe der Krieg. Freunde! Trompeter! Zum Sammeln geblasen. " Die Stimme des Hauptmanns überschlägt sich vor höchstem Entzücken.

Die Stimme der Frau schrill. Susanne denkt: Mach die Ohren zu, am besten, du bist nicht da! Die Frau beruhigt sich nicht. Sie spricht einen Nächsten an und einen Übernächsten. Ham Se das gesehn! Ham Se das gesehn! Keiner antwortet ihr. Alle tun, wie Susanne es tut. Bis ein alter Mann kommt. Auch ihm muss die Frau berichten. Und der rückt die arme Frau zurecht, die gar nicht mehr weiß, ob sie heute, gestern oder morgen lebt: Na ja, sagt der alte Mann. Dann kriechn die och mal gezeicht, dasse nich machn könn, wasse wolln! Die nächste Station steigen Eisenbahner zu, die Schichtwechsel hatten. Die brechen das Schweigen der Einzelnen. Mensch, habter das gehört, die mit ihrer Normerhöhung! Ham se ihm doch alles vorgearbeit. Die Männer reden über den Aktivisten Adolf Hennecke, der auf dem Oelsnitzer Schacht die Norm durchbrach. Die Bahner fangen an zu lachen, zu toben. Einer sagt: Un wennch heut nach Hause komm und meine Frau saacht wieder, se hat keene Schuh for unsern Kleen gekricht, da hau ich ab innen Westn!

Die Leute hatten einfach die Schnauze voll, so war das, sagte Susanne zu Georg. Und da war ja immer der Westen, auf den sie schauten, der goldene Westen, wo die goldenen Äpfel von den Bäumen fielen. Bei uns Reparationsleistungen, Demontagen. Was haben die Eisenbahner sich aufgeregt! Und drüben der Marshall-Plan. Die Geschäfte voll. Die Leute fuhren ja rüber, Mensch, mein Bruder in Braunschweich, was der forn Auto hat! Und wir kamen nicht auf einen grünen, geschweige den goldenen Zweig. Die Wut im Bauch, wie es mit denen vorwärtsging und mit uns nicht, war vielleicht das Schlimmste. Denen gehts doch gutt, denen gehts doch gutt! Warum gehts dän gutt und nich uns? Weil wir de Russen ham!! Punkt. Die Ostdeutschen stellten böse fest, sie werden wieder mal beschissen. Bei Adolf war's nichts. Der hat den Krieg gebracht. Nun zum zweiten Mal. Sie haben das damals nicht mal der SED übelgenommen. Was konnten die von der SED denn? Auch so 'n Scheißverein. Ein echter Kommunist war manchen noch mehr wert als jemand, der sein Mäntelchen nach dem Wind hängt. Ulbricht hasste man. Den Spitzbart mit seinem hohen, singenden Sächsisch, ja, Genossen, ja? Über Lotte und Walter machte man grobe, ordinäre Witze. Pieck, den Präsidenten, verachtete man wegen seines dicken Bauchs. Er will einer von uns sein? Aber er ist so voll gefressen wie keiner von uns! Von Konterrevolution hab ich nichts erlebt, sagte Susanne zu Georg. Das Volk war aufgebracht. Es wurde denen gezeigt, dass sie auch nicht alles machen können. Na ja, Georg, alte Geschichten. Ich erzähle Ihnen alte Geschichten und ich hab mir auch selber welche erzählen lassen. Von meiner Tante Else Boehm, der 17 Jahre älteren Schwester meiner Mutter, wie sich am 9. November 1918 in Berlin die roten Matrosen mit den Kaisertreuen schwere Gefechte lieferten und Liebknecht vom Schloss herunter die Republik ausrief. Und wenn Sie mal so alt sind wie ich, dann werden Sie erzählen, wie die Mauer fiel.

Glaube ich nicht.

Und warum nicht?

Hat man sich doch jetzt schon alles an den Fußsohlen abgelaufen. Und sowieso wird Geschichte nur benutzt.

"Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen!" Susanne lachte.

Wir haben gelernt, die Justiz sei ein Machtinstrument der herrschenden Klasse, sagte Georg. Die Geschichte wird genauso gedreht, wie man's haben will. Jeder, der Macht hat, nimmt sie und dreht sie zu seinen Gunsten.

Immerhin kann man erzählen, was man erlebt, gesehen hat.

Politik interessiert mich nicht. Lügenmärchen alles.

Dann sind die vom Baron von Münchhausen immer noch die schönsten, nicht wahr, Georg?, versuchte Susanne, Georg aufzuheitern.

"Man sagt, gehängt werden ist gar nicht so unangenehm." - "Das ist schon möglich, aber in dem Punkt war er sehr eigen. Er wollte nicht sterben. Der König ist mir unbegreiflich." - "Ja, das Leben macht keinen Spaß, vor allem, wenn man es verliert."

Die Autogrammpost, die Susanne erhält, meist gestempelt. Von Horst Buchholz aber bekommt Susanne ein echtes Autogramm und eine Einladung von seinem Fan-Club in vornehmer Westberliner Gegend: Zehlendorf. Sie besucht den Fan-Club. Mädchen plaudern mit ihr, erzählen, dass sie sich um die Autogrammpost des Schauspielers kümmern. Susanne bekommt eine Vorstellung davon, was schick ist. So, wie die Mädchen angezogen sind, das ist schick. In den öffentlichen Verkehrsmitteln kennt man sie als Ostlerin heraus, obwohl sie kaum spricht, damit der Dialekt sie nicht verrät. Doch noch besitzt sie nicht die James-Dean-Jacke und die wenige andere Kleidung westlicher Herkunft wie später. Es kommt vor, dass man ihr eine Semmel schenkt, eine Apfelsine. Susanne nimmt sie als Zeichen der Solidarität: Die armen Schweine, die unter Ulbricht zu leiden haben! Susanne isst. In hübschem Flitzer fährt Horst Buchholz bei seinem Fan-Club vor. Gerade hat er "Die Halbstarken" gedreht und "Mon Pti". Ein bisschen affektiert ist er, harmlos, im Grunde gutmütig scheint er Susanne. Na, wenn Sie sich so für den Film interessieren, dann fahren Sie doch mal zu CCC raus, sagt er. - Wo ist denn das?, erkundigt sich Susanne. Der Schauspieler nennt eine Adresse in Spandau. Sagen Sie einen schönen Gruß von mir! Lang die Straßenbahnfahrt. Ein Stück mit dem Bus. Dann steht sie vor dem Pförtnerhaus der Filmateliers. Ich komme mit einem Anliegen von Herrn Buchholz!, sagt Susanne dem Erklärung heischenden Pförtner. Von wem?! - Na, von Horst Buchholz! In dem Augenblick fährt aus dem Gelände ein zweisitziges, offenes Sportcoupé, rot. Darin eine schöne schwarzhaarige Dame. Das ist SEINE Frau, sagt der Pförtner. ER ist Arthur Brauner, Atze Brauner genannt.

Carmela, krause Zöpfe, gerade Nase, rundes volles Kinn wie eine griechische Göttin, die Augen klein, ein Mädchen ursprünglich, trotzig und voll wilder Energie, taucht im Laden auf will von Antonio eisgekühlte Limonade, nimmt dem sich ausruhenden Besitzer den Fächer aus der Hand, wedelt sich selbst Luft zu. "Scheinbar haben wir uns gern, wir treffen uns überall ...", sagt sie zu Antonio. "Genauso wie Hund und Katze, die treffen sich ja auch überall", erwidert Antonio.

Der Pförtner weist Susanne den Weg. Susanne verirrt sich einige Male, bis sie endlich ins Vorzimmer von Arthur Brauner gelangt. Ich komme mit einem Anliegen von Horst Buchholz, wiederholt Susanne. - Und was ist das für ein Anliegen?, will die Vorzimmerdame wissen. Das möchte ich nur Herrn Brauner selbst sagen! - Na ja, er ist gerade da. Aber ob er Sie empfängt? Die Vorzimmerdame unschlüssig.

Die Dame drückt auf eine Taste der Gegensprechanlage. Ja, hier ist ein Fräulein Burkard!, sagt sie. Susanne hört ein Brummen: Hab keine Zeit. -Aber es ist dringend! Susanne hakt nach. -Aber es ist dringend!, sagt die Vorzimmerdame.

Na gut, rein mit ihr!, hört Susanne. Ein Sesam-öffne-dich voll-zieht sich. Die Tür geht auf. Susanne betritt den Raum. Da sitzt der Allgewaltige der Filmkunst, der liebe Gott. Oder besser: der Anführer der teuflischen Heerscharen: denn dunkel seine Augen, buschig, spitzwinklig, dunkel seine Augenbrauen, sein Schnurrbart. Und vor allem: Er ist glatzköpfig. Susanne hat sich zu der schönen Dame im Sportcoupé einen anderen Mann vorgestellt. Was hat Sie hergetrieben?, fragt Atze Brauner mit östlichem Akzent, rollendem R.

Die Mutter nimmt Carmela das Tuch vom Kopf "Ich hab mir die Haare gewaschen.", sagt Carmela. "Und davon sind sie so kurz?" - "Ja." - "Carmela, was hab ich da nur zur Welt gebracht!"

Schließlich schlottert Susanne. Immerhin stottert sie nicht. Noch trägt sie ihren dicken Pferdeschwanz. Es gab noch keinen, für den es sich lohnte, ihn abzuschneiden. Anders als bei Carmela, die sich in Antonio verguckt hat und ihn nicht mehr in Ruhe lässt. Doch wäre Susanne für den Film zu allem bereit.

"Ach, geht doch alle zum Teufel!", erwidert Carmela.

Na ja, ich hab etwas übertrieben, sagt Susanne, schwächt ihr dringendes Anliegen ab. Es ist so, ich interessiere mich sehr für den Film. Ich hab in Babelsberg an der Filmhochschule eine Aufnahmeprüfung gemacht. Der Allgewaltige lacht los. Schön, sagt er. Abgelehnt, was? Durchgefallen? - Nö, nö, so war's nicht ganz! Susanne widerspricht. - Und wer ist dabei gewesen?, will Atze Brauner wissen. Es kann schon sein, dass er in Susanne ein Menschlein sieht, ganz am Anfang, wie er doch sicher auch einmal ganz am Anfang gewesen ist. Es kann auch sein, der Typus kommt ihm bekannt vor. Jedenfalls ist ER nicht abgeneigt. Die Namen, die Susanne nennt, sagen ihm nichts bis auf den des Defa-Regisseurs, der den "Thälmann"-Film gemacht hat. Kurt Maetzig. Ha!, macht er da. Und was treiben Sie?, fragt er. Ich bin in einer Bibliothek, einer wissenschaftlichen. Aber auf dem Absprung zur Wismut. Zum Volk. So sagt sie wörtlich. Damals schon der Hang zum Volk. Zur Kunst und zum Volk. Und ich drehe Amateurfilme und versuche, zum Studium zu kommen. - Na ja, sagt Atze Brauner. Ihr Abitur wird hier nicht anerkannt. Dann will ich dazusetzen, das Abitur macht es auch nicht, formuliert er eigenartig, wählt eine Nummer. Reden Sie mit unserem Chefdramaturgen! Da hat er schon den Chefdramaturgen am Apparat. Ja, hier ist ein Fräulein Burkard!, sagt er. Und wie er Susannes Nachnamen nennt, fällt das weich rollende R besonders auf. Zeigen Sie ihr mal, reden Sie mit ihr, trinken Sie eine Tasse Kaffee auf Kosten des Hauses! Susanne bedankt sich. Na, sagt er, verhalten Sie sich so, dass ich mir den Namen Burkard merken muss! Einschmeichelnd wieder das weich rollende R.

Selig kehrt Carmela heim in den bergigen Garten ihres Vaters. Antonio hat Arbeit. Er wird einen Omnibus chauffieren. Gerade war am Bahnhof die Einweihungsfeier, der Priester segnete den Bus. Der Vater erfährt, wo Carmela war. "Wenn du geklaut hast, bekommst du eine Ohrfeige, dass du die Engel singen hörst", sagt er. Carmela wendet dem Vater die Wange zu. "Papa, lass sie singen", bittet sie, bekommt eine derbe Ohrfeige, verzieht die Nase, hält sich die Hand an die Nase und fängt im Garten des Vaters herrlich an zu singen.

Man weist Susanne den Weg zu einer Baracke. Der Chefdramaturg spricht die Sprache der Intellektuellen, weshalb Susanne sich fürchtet. Doch schnell stellt er sich auf Susanne ein. Wie finden Sie denn die Defa-Filme?, fragt er. Ja, sagt Susanne, die Frühen! Nennt Titel. Als ersten "Die Mörder sind unter uns". Den hat Staudte gedreht! Der Chefdramaturg lächelt. Und weiter? "Ehe im Schatten", "Die blauen Schwerter", noch einen Titel. Der Hauptdarsteller ein Westdeutscher!, erwidert der Chefdramaturg. Susanne wird böse. "Vergesst mir meine Traudl nicht", "Die Buntkarierten". Bald weiß sie nicht mehr weiter. Bis zum Mauerbau spielen die Schauspieler wahlweise im Osten und im Westen, danach nur in Ausnahmen.

Der Chefdramaturg fragt nach internationalen Filmen. Susanne spricht von Produktionen mit Gerard Philipe.

"Meine erste Hinrichtung, der ich beiwohne! Muss man alles mal erlebt haben. "Rittersporn zeigt sich weniger wissbegierig als sein Freund Fanfan: "Meine arme Frau! Sie hat behauptet, sie stirbt vor mir. Alles Schwindel." - "Wer zuerst drüben ist, wartet auf den anderen!" - "Ja, bis gleich!" Der Ast, vorsorglich angesägt, um ein "Gottesurteil" und damit eine Begnadigung zu ermöglichen, bricht. Die Freunde landen auf dem Boden. Noch begreifen sie nicht. "Hach, schon vorbei?", wundert sich Rittersporn. Fanfan sieht verdutzt auf seinen Freund, glaubte nicht, ihn so schnell im Jenseits wiederzutreffen. "Du auch schon da?"

Vorfreude hält länger, sagt man, also kann sich Susanne lange freuen, von einer Stelle des Films auf die nächste und immer so weiter, denn viele Male rannte sie, um Gerard Philipe in der Rolle des Fanfans von der Tulpe im Karl-Marx-Städter Kino anzuschauen.

Susanne nennt Produktionen von Visconti, andere Filme, die in Karl-Marx-Stadt liefen, deren man sich nicht zu schämen brauchte. Na ja, sagt der Chefdramaturg, einverstanden mit Susannes Beurteilung. Sieht nicht übel aus. Und Sie haben sich für Regie beworben? Bei uns würden Sie höchstens als Regieassistentin eingesetzt. Auch bei Ihnen! Und dann müssen Sie wissen, wir arbeiten ganz anders als drüben bei Ihnen oder im sowjetischen Film. Ich bin für die gesamte Produktion von CCC zuständig und habe einen einzigen Mitarbeiter. Außerdem ist der Bereich, in dem sich ein Dramaturg bewegt, sehr schmal. Die eigentliche Beziehung ist die Autor-Produzent. Und wie sieht es mit Ihrem Studium aus?

Susanne berichtet von den vielen Ablehnungen bei verschiedenen Hochschulen, Universitäten, die sie sich nicht erklären kann. Vielleicht hängen sie mit dem Makel zusammen, der Deportation ihres Vaters. Ein Studium muss sein, sagt der Chefdramaturg. Sie müssten nach Westberlin, als Werkstudentin Theaterwissenschaft, Germanistik studieren. Und wenn Sie den besten Abschluss haben, kommen Sie noch lange nicht beim Film, beim Theater unter. Im Übrigen täuschen Sie sich nicht: Unser Beruf ist trocken. Sie scheinen mir nicht der Typ zu sein! Susanne gibt keinen Ton mehr von sich. Der Chefdramaturg fragt nach ihrer Familie.

"Ach, hier bist du also?", staunt Carmela, als sie Antonio "zufällig" im Haus seiner Familie trifft." "Ja, und der Papst ist in Rom", antwortet Antonio.

Aber gutes Kind, Herr Brauner würde Ihnen Arbeit geben! Wenn er Sie in irgendeiner Richtung für begabt hält, gibt er Ihnen eine Chance! Aber ein Studium muss sein, eine Grundlage! Das wird zukünftig in der DDR nicht anders sein! Und Sie sind nicht in der Partei, keine linientreue Genossin! Der Chefdramaturg gibt ihr den Rat, sich an die zuständige Abteilung beim Senator für Kultur zu wenden. Sie können sich gern wieder melden, sagt er zum Abschied. Susannes Beine tragen sie kaum noch. Wie ferngesteuert gelangt sie in die Senatsabteilung, ist in einen Paternoster hinein- und wieder herausgesprungen. Die Vorzimmerdame gibt Susanne einen Begriff von Abstand zwischen westlicher und östlicher Welt. Susanne ist niemand, gar niemand.

Carmela verzweifelt, bleich, nass die schwarzen Haare. In ihrem Eifer, ihrer Eifersucht hat sie Antonio wieder um eine Arbeit gebracht. "Wie du wieder aussiehst", sagt die Mutter. - "Lass mich sterben. Ich will sterben, ich will an Schwindsucht sterben. Was bist du überhaupt. Bist du noch meine Mutter? Immer, wenn ich ein gutes Wort brauche, hast du nichts weiter zu sagen als setz dich hin, benimm dich anständig!"

Susanne hat gar nichts zu melden, nichts zu fragen, ist am Ende ihrer Nerven. Sie heult.

Von den Tränen der fast Gleichaltrigen ergriffen, fragt eine zweite junge Dame: Könnten wir nicht Herrn Sowieso um ein Gespräch bitten? Sie wird von der Vorgesetzten angefahren. Da schreitet jener besagte Herr durch den Raum, elegant vom Scheitel bis zur Sohle, halbe Brille, die an der Kette hängt, ganz unüblich in jenen Zeiten, mit Stockschirm. Schon will er die gepolsterte Tür zu seinem Zimmer öffnen, als er stutzt, sich zur heulenden Susanne wendet: Kommen Sie mal mit! Die junge Dame freut sich, Susanne bemerkt es noch, bemerkt auch, wie sie ihre Freude schnell verbirgt vor jener anderen. Susanne setzt sich, fasst sich. Aha, aha, sagt der Geschniegelte-Gebügelte, da waren Sie beim Herrn Brauner und kommen vom Chefdramaturgen Sowieso. Er wird sehr menschlich und wiederholt das, was schon der Chefdramaturg sagte: Ohne Ausbildung geht es nicht! Hüben und drüben nicht. Auch bei Ihnen wird in Zukunft profundes Wissen verlangt werden! Ich könnte dem Herrn Senator vorschlagen, einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren. Aber ich bin sicher, er wird Ihnen dasselbe sagen. Und dann sagt der Beamte etwas Erstaunliches: Sind Sie überhaupt sicher, ob Sie hierher wollen? Schließlich haben Sie sich an Ihrer Filmhochschule beworben! Die schlechten Zeiten drüben in der Zone können noch schlechter werden, vielleicht müssen Sie dann einfach gehen. Doch jetzt?! Den Sprung einfach so zu machen, ohne gezwungen zu sein, da müssen Sie sich schon fragen, ob Sie das wollen, in welche Welt Sie wirklich wollen! Und überlegen Sie sich, ob Sie gesundheitlich ein Studium als Werkstudentin durchhalten! Susanne ist erschöpft, der Beamte bemerkt es wohl. Es ist kein gutes Zeichen, erschöpft zu sein, gleichgültig, wie lange sie schon auf den Beinen ist. Überlegen Sie es sich wirklich gut!, sagt der Senatsbeamte. Und wenn Sie sich entscheiden, im Osten zu bleiben, rate ich Ihnen, lassen Sie sich nicht oft bei uns sehen!

Susanne setzt ihre Erkundungen fort. Carmela lächelt wieder, steigt unverdrossen ihrem Antonio nach. In einer Seitenstraße des Ku'damm entdeckt Susanne das Büro von Radio London, ein Schild weist auf die BBC hin: Auslandsbüro Deutschland. Susanne besitzt inzwischen ein leistungsfähiges westliches Kofferradio mit starkem UKW-Teil. 1000 Ostmark gab sie dafür aus. Hört Radio Basel, Radio London und ganz besonders gern die Sendungen von Austen Harrison. Es zieht sie in dieses Auslandsbüro. Sie betritt eine Eingangshalle mit Säulen, Marmor im Aufgang. Geht eine Treppe hinauf. Ich möchte gern mit jemandem reden, sagt sie. Sagt es, als arbeiteten nicht an die Dutzende Geheimdienste in der Stadt, deren Geschäft es ist, Leute zum Reden zu bringen. Eine Dame verweist sie an einen jungen Journalisten. Aja, aha, sagt er. Was? Und Sie hören immer die Sendungen mit Austen Harrison! Da haben Sie aber großes Glück! Warten Sie mal einen Moment! Der junge Journalist geht nach nebenan, erscheint gleich danach mit einem großgewachsenen Herrn: Austen Harrison! Susanne reißt es vor Freude vom Sessel. Die beiden Herren unterhalten sich mit Susanne, wollen von ihrem Leben drüben wissen. Haben Sie auch Halbstarke?, fragt Austen Harrison. Nee, sagt Susanne. In dem Sinn, in dem Sie's verstehen, nicht. Also, Langeweile gibt's wohl. Die gibt's zur Genüge. Aber schon, wenn sich ein Trüppchen am Bahnhof bildet, ist die Polizei da. Gruppen- oder Cliquenbildung heißt es. So was will man bei uns nicht. Alles könnten die beiden Herren fragen. Susanne würde Ihnen treulich antworten. Sie erzählt, sie wolle zum "Ausschuss freiheitlicher Juristen" gehen, um wegen ihres Vaters etwas zu erfahren.

Zehn Jahre ist es her, dass jener Gutsbesitzer aus einem Dorf bei Oederan kam, ein Mithäftling des Vaters, um von dessen Tod zu berichten. Selbst vom nahen Tod gezeichnet, achtete er nicht die Schweigepflicht. Aber eine amtliche Bestätigung hat die Mutter nie erhalten. Susanne will nicht mehr wahrhaben, was der Gutsbesitzer sagte. Es ist so lange her. Vielleicht macht dieses Westberlin sie auch träumen. Alles ist hier anders, alles scheint möglich. Vielleicht leiten Nachforschungen die Auferstehung des Vaters ein. Austen Harrison geht. Der junge Journalist sieht Susanne eine Weile freundlich an. Dann sagt er: Oh, ich würde Ihnen nicht empfehlen, zu diesem Ausschuss zu gehen.

Wieso nicht?, fragt Susanne verdutzt.

Na ja, wissen Sie, dieser Ausschuss ist durchsetzt. Und Sie reden sehr offen. Man weiß nie, was Ihre Aussage auslöst, wo die Aussage hingelangt. Sie begeben sich ganz unnötig in Gefahr!

Susanne hat gespielt. Hat mit Gedanken gespielt. Und hat das Anfangsglück eines Spielers. Sie war hier und da. Aber den "Ausschuss freiheitlicher Juristen" meidet sie, was nach ihrer späteren Kenntnis mindestens das sichere Ende jeglichen beruflichen Fortkommens bedeutet hätte. In Wirklichkeit will sie gar nicht in den Westen. Es zieht sie auch nicht in die westliche Filmwelt. Wie viel Billigware, Ramsch wird produziert zwischen einzelnen herausragenden Filmen. Nein, sie will nicht in den Westen. Warum ner nich? Warum ner nich?, klagt die Mutter. Seitdem das mit ihrem Mann passierte, hat sie nur wenige Menschen um sich. Als ob der ganze Ort sich schäme, lässt er es die büßen, die Leidtragende sind. Und doch sind die Burkards auch wer. Geschäftsleute. Boehm & Burkard, der Name hat Klang. Susanne, von Kind an mit dem Makel behaftet, nicht richtig zu sein, erträgt die Vorstellung nicht, dass sie drüben niemand wären, Flüchtlinge aus dem Osten. Sie weiß ja von ihren Klassenkameraden, Jahre älter als sie, was es bedeutet, Flüchtlingskind zu sein. Da braucht es ein halbes Leben, ein ganzes, bis man vielleicht zwischen den Alteingesessenen Fuß fasst. Susanne hat ihre Ohren aufgesperrt bei allen Erzählungen von Weggegangenen und über Weggegangene. Mit feinen Antennen ausgestattet, hat sie Demütigungen herausgehört. Kennt die Dankbarkeit, die verlangt wird. Auch sie musste ja immer dankbar sein, verlangte der Onkel, Boehm-Otto, die Mutter, warum, wusste sie damals bloß nicht. Wer aus dem Osten kommt, ist nichts. Ob er aus dem nur ehemaligen deutschen Osten kommt oder dem Staat, der nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland als Deutsche Demokratische Republik ausgerufen wurde. So bleibt sie stur, wie sehr ihr die Mutter auch in den Ohren liegt.

Und dann gibt es noch mindestens einen Grund, weshalb Susanne dem Drängen der Mutter widersteht: Sie will die Wälder, Hänge, Berge, Dörfeln ihres Erzgebirges nicht missen. Hat sie sommers wie winters durchstreift. Sie hat eine Treue zu dem Landstrich, in dem sie aufwuchs. Als sei es nichts, eine Gegend, Menschen, eine Ordnung zu verlassen, dachte Susanne. Eben hat man noch die Kriegsflüchtlinge bedauert. Nun hat sich jeder zu rechtfertigen, der geblieben ist! Ihr schien, drei Jahre nach der Einheit nahmen die Absurditäten eher noch zu.



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