Читать книгу Villa am Griebnitzsee - Beate Morgenstern - Страница 7

IV

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Der erste Dienstag im neuen Jahr. Georg kam, wünschte Susanne ein gutes neues Jahr und ein gesundes vor allem! Bald kehrte Georg von seinen Wegen zurück, ließ sich gesprächswillig auf dem Stuhl nieder, wartete, was Susanne sagte. Wie waren die Feiertage? Erkundigte sich Susanne.

Ach, ruhig, sagte Georg. Hab ausgeschlafen. Schlaf soll ja gesund sein.

Was ist mit den jungen Männern seiner Band? Dachte Susanne erstaunt. Sind es nicht seine Freunde?

Bin ganz froh, dass ich meine Ruhe gehabt habe, sagte Georg.

Nein, das glaube ich nicht, dachte Susanne. Ich bin als Studentin nach Weihnachten von zu Hause weggefahren ins Internat, sagte sie. Obwohl, da war ich ja auch allein.

Nach Babelsberg. Georg nickte, gab ihr zu verstehen, sie könne weiterreden.

Es war eine großartige Zeit an der Schule, sagte Susanne. Die beste in meinem Leben. Susanne begann zu erzählen von ihrem Babelsberg. Von dieser Stadt am Berg und auf dem Berg. Die Straßen, sich gemächlich vom Griebnitzsee hinaufwindend wie die von Mauern umgebenen des Turms von Babylon auf einem alten Gemälde, Grundstück an Grundstück. Die Grundstücke weitläufig. Mal ein steiler Durchgang entlang der Villen. Die liegen an der Straße groß und größer, sich rückwärts der Hanglage anpassend, herrlich anzuschauen, im florentinischen Landhausstil oder Fachwerk mit Erkern und Türmen. Offene Balkone im oberen Stockwerk oder einen Umgang im obersten. Schönsten Stuck kann man betrachten und efeubewachsene Mauern.

Susanne sah das Haus vor sich, in dem sie am liebsten gewohnt hatte: ein Ziegelbau, schiefergedeckt, der rund ausgeformte Erker im Dachgeschoss von Säulen gestützt, so dass das Gebäude wie ein kleiner Tempel anmutet. Zur Straßenseite schirmt das Grundstück eine Buchenhecke ab. Glasüberdacht der Gang zwischen hoher Nachbarmauer und Haus, noch ein Stück in den Garten hineinragend. Man kann bei Regen dort sitzen und schauen oder die Wäsche aufhängen. Und daneben die Glasveranda, in der Susanne wohnte, den Blick den langen Garten hinab mit seinen alten Bäumen. Der Garten beliebt. Da sonnten sich die Studenten. Babelsberg: der Klang des Namens verbunden mit Film, mit Ufa-Stars. Bei einigen Villen weiß man noch, wer sie erbauen ließ. Tauber-Villa, Urbig-Villa, die von Harry Piel, von Heinrich George. In der Villa auf der breiten Straße unten am Berg residierte Stalin während der Verhandlungen 45 mit den Alliierten. Ein großer Kasten, zwei Geschosse. Säulen tragen das breite Balkonoval. Der rückwärtige Blick zum Griebnitzsee hinunter, hier nun nur wenige Meter noch entfernt.

Babelsberg wie Babylon, Sünden-Babel, Film-Babylon. Der Mensch, der immer noch wie Gott sein will und sich seine Welten illusionistisch und beliebig schafft. Die Zeit, die bekanntlich nicht aufzuhalten ist, lässt sich vorwärts und rückwärts spulen. Eine Kunst gibt es nur. Aber sie lebt von der Vielfalt der Sprachen.

Die Filmhochschule war in verschiedenen Villen untergebracht, erklärte Susanne Georg. Die Stalin-Villa die berühmteste. In dem Haus traf man sich zu Festlichkeiten, zu Prüfungen. Oder weil man sich in der Bibliothek im Erdgeschoss Bücher auslieh.

Ich hab was darüber gesehen, sagte Georg.

Na, dann wissen Sie ja. Ich hab die Sendung aufgezeichnet, sagte Susanne. Von der Stalin-Villa überblickte man den ganzen Griebnitzsee.

Auf der anderen Seite das Jagdschloss, sagte Georg.

Susanne gab es einen Stich tief in ihr Inneres. Wie selbstverständlich war Georg dieses Wissen! Die Mauer war gefallen. Aber sie hatte an der Neu-Erkundung nicht teil. Ihr blieb ewig der sehnsuchtsvolle Blick auf die andere Seite. Das Gelände von Neu-Babelsberg ist von der Ufa auch als Filmkulisse benutzt worden, sagte sie. Im Park, vom Fürsten Muskau geschaffen, tanzte Marika Rökk. Vor der Tauber-Villa fuhr sie mit einer Kutsche vor. Nicht weit entfernt von der Stalin-Villa das Hauptgebäude. Zwei Häuser, durch einen Flachbau miteinander verbunden. Direkt am See gelegen, sehr großzügig angelegt das Gästehaus der Akademie für Staat und Recht. Wir nahmen diese Studenten üblicherweise gar nicht wahr. Aber man aß dort sehr gut. Allerdings musste man eingeführt werden. Für zwei Mark bekam man ein Steak, ein Schnitzel, Cordon bleu, Filet Stroganoff.

Das lässt man sich gefallen, sagte Georg. Und wie viel Studenten waren in einem Zimmer? Endlich einmal stellte Georg von sich aus eine Frage!

Im letzten Studienjahr war ich allein, antwortete Susanne. Eine Berlinerin hatte noch eine Schlafstelle bei mir. Die benutzte sie kaum. In der Regel wohnte man zu zweit, in Ausnahmefällen zu dritt. Zwei Mädchenhäuser hatten wir, fünf Jungenhäuser, wenn ich mich richtig erinnere. Die Zimmer unverschlossen. Es ging zu wie im Taubenschlag. Man kam, verschwand wieder. Alles sehr frei. Susanne lachte. Auf dem Flur konnte man unversehens einem Mädchen nackt begegnen. Oder jemand kam nackt ins Zimmer, wollte eben mal was wissen oder haben. Als die Schauspielmädchen und die von der Dramaturgie und Produktion noch im selben Haus wohnten, war es für uns kaum auszuhalten. Die Schauspielmädchen, von sich aus laut und mit ihren Sprechübungen: Mimimimimimi-mimimä-mimimo-mimima-mimimau-mimimu ...

Susanne schaute zu Georg, prüfte, ob ihre Erzählung Erfolg hatte. Sie hatte. Georg griente vor sich hin.

Und wir waren mit geistiger Arbeit beschäftigt. Das nervte. Geschlafen hat man wenig. Ich hab mir früh starken Kaffee gemacht, damit ich wieder auf die Beine kam. Geraucht wurde den ganzen Tag über, während der Vorlesungen, während der Seminare.

Während der Vorlesungen?, fragte Georg.

Wir waren ja zum Schluss nur noch vier und ein Dozent. Wir saßen im Geviert, ein Tisch blieb frei. Warum sollte man nicht rauchen. Mit Rauchen, starkem Kaffee, Tee, grünem chinesischen in fast tödlicher Dosis, hielt ich mich tagsüber aufrecht.

Und wie viel Stunden hatten Sie pro Woche? Das studentische Leben schien Georg zu interessieren. Noch stand er selbst ja erst in den Startlöchern.

52 bis 56, denke ich.

Soviel? Im Ernst?

Am sogenannten Fachtag ging es durch von acht Uhr früh bis sechs, acht Uhr abends mit einer kurzen Mittagspause, in der wir den Mensafraß runterschlangen. Und den Rest der Zeit saßen wir auch noch im Kino. Wir haben wunderbare Filme gesehen. Man pumpte in uns hinein. Zu der Zeit dachte man, im Fernsehen sollte ein zweites Programm aufgebaut werden, man würde viele gut ausgebildete Leute brauchen. Wir sollten die Elite werden, und wir waren uns aufgrund der Behandlung, die wir erfuhren, auch unseres Wertes bewusst. Freie Zeit für anderes blieb kaum. Sonnabend/Sonntag arbeiteten wir für uns. Wer nicht mitzog, blieb auf der Strecke, ganz klar. Sonntags fuhr man mittags mal nach Babelsberg rein in die "Ponybar", um was Vernünftiges zu essen, das war alles.

Pferdefleisch?

Bulette, Gulasch. Fleisch vom Wal. Wir hatten im Haus auch eine Küche. Aber die Töpfe, Pfannen so verdreckt, dass ich es gleich aufgab. Manchmal bemühte sich dort die Mutter einer bulgarischen Mitstudentin. Dann zogen herrlichste Gerüche durchs Haus.

Hatten Sie eigentlich eine Aufsicht?, wollte Georg wissen.

Manchmal gab es Razzien, um der Ordnung Genüge zu tun. Aber im Sekretariat des Direktors wurde ich als Vertreterin der Mädchen in der FDJ-Leitung rechtzeitig gewarnt. An den entsprechenden Abenden wurden die Herrenbesuche in den Mädchenhäusern eher entlassen. Nicht nur die Schauspielmädchen führten ein fleißiges Liebesleben.

Und Sie, Frau Burkard?

Ich habe an der Schule zum ersten Mal gemerkt, dass einem vor Liebe das Herz wehtun kann.

"Wie lange waren wir zusammen, Kleines?" - "Ich habe die Tage nicht gezählt." - "Aber ich, und besonders erinnere ich mich an den letzten mit einem Mordsschluss. Ein Mann steht auf dem Bahnsteig mit einem wunderlichen Gesichtsausdruck, weil man ihm die Seele aus dem Leib gerissen hat."

Hm, hm. Kennt man, brummte Georg.

Aha, dachte Susanne. Er hat wohl gerade die erste Liebe hinter sich. Georg, gerade 19 geworden, teilte eine sehr wesentliche Erfahrung mit ihr.

Susanne ging in ihr zweites Zimmer, suchte im Schrank nach einer Unterlage, die sie Georg für ein Amt mitzugeben hatte.

Susanne griff einen falschen Hefter, aber so falsch war der doch nicht. Da, meine Abschlussarbeit vom ersten Studienjahr!, sagte sie, überreichte Georg den Hefter.

Georg las laut: die Härte des Konflikts als Voraussetzung für die sozial aktivierende Verallgemeinerung im Film "Das Vaterhaus". Was soll'n das heißen?, sagte Georg. Das versteht doch kein Mensch! Er gab ihr den Hefter zurück. Und das nach dem ersten Studienjahr?!

Susanne genoss Georgs Erstaunen. Im zweiten Studienjahr habe ich dann über das Pathos bei Majakowski, Eisenstein und bei Tschuchrai geschrieben, der die "Ballade vom Soldaten" drehte. Im Dritten war dann schon das Vordiplom fällig, eine Konzeption und ein Exposé für ein Szenarium, das ich dann im vierten Studienjahr vorlegte. Wir wurden ja im Fach Szenaristik ausgebildet. Wir sollten am Ende Filmdrehbücher nach literarischen Vorlagen schreiben können.

"Was in Gottes Namen hat Sie nach Casablanca gebracht?" - "Meine Gesundheit. Ich kam nach Casablanca wegen der Quellen." - "Quellen? Was für Quellen? Wir sind in der Wüste!" - "Man hat mich falsch informiert!"

Wir waren also keine normalen Dramaturgen. Wir waren die Exoten an der Schule. Diese Ausbildung gab es nur einmal. Golzow, den Namen kennen Sie vielleicht. Der war mit in meiner Klasse. Susanne bestand auf der auszeichnenden Unterscheidung. Was hatte sie sonst schon an Leistung aufzuweisen, als diesen besonderen Studiengang absolviert zu haben?

Auch als Georg gegangen war, blieb Susanne bei bester Stimmung. Die Schule interessiert ihn, ich kann ihm erzählen!, dachte sie. Die Zeit in ihrem Leben, die sie als die glücklichste bezeichnete, wurde zum unmittelbaren Gestern, glaubhaft durch einen Gesprächszeugen. Ihre Gedanken hakten sich an einem Punkt fest, an dem noch alles für sie möglich war:

Frühsommer 1962. Prüfung in der Stalin-Villa, dem bombastischen Gebäude aus der Kaiserzeit. Stuck, Säulen innen. Eine breite Holztreppe mit herrlichem Geländer. Der Teppich auf den Stufen mit schmalen Messingstangen festgehalten. Alles unverändert, seit Stalin während der Potsdamer Konferenz dort wohnte. Im Zimmer, das unter Denkmalschutz steht, die Aufnahmeprüfung. Plüschsessel dort, Samtportieren. Golzow kommt ins Bild. Dünn, die Haare wirrlockig abstehend, der Schneidezahn fehlt ihm noch immer. Golzow abseits, gelangweilt wie stets. Ihn wird nie etwas aus der Ruhe bringen. Er hat in jeder Hinsicht beste Voraussetzungen. Begabt theoretisch wie als Schreiber. Und schlau. Weiß bei jeder Antwort Marx, Lenin oder Mao Tse-tung zu zitieren und bezieht sich notfalls auf seine proletarische Großmutter. Sein Philosophiestudium lässt die Antworten zum Spiel, zur Farce, geraten. Er gilt als Angehöriger der Arbeiterklasse, da er sich als Bühnenarbeiter bei der Defa einstellen ließ. Was ihm zudem eine Stelle dort sichert. Da die Defa ihn zum Studium delegierte, muss sie ihn auch zurücknehmen. Golzow Berliner. Die langen Fahrten mit dem "Sputnik" um Westberlin machen ihm nichts aus. Als Susanne ihn fragte, sah er sie erstaunt an. Er verbringt die Fahrzeit studierend, saugt Literatur in sich auf, ist ständig auf der Suche nach Filmvorlagen.

Fietz, blass und blond, in grauem Flanellanzug. Scharfzüngig. Seine Karten weniger günstig. Biedert sich der Partei an. Hat sich im Sommer zur Specki-Tour verpflichtet. Fietz, der Ephebe, beim Abholen von stinkenden, triefenden Tonnen mit Speiseresten, die für die Schweinemast bestimmt sind. Nie wird Susanne begreifen, warum er sich das antut. An der Schule, vielleicht durch das Schauspiel geübt, erkennt man Charaktere. An der Schule jedenfalls wird man ihn nie für eine Kandidatur zur Einheitspartei vorschlagen.

Wernerle, wie Fietz ihn abschätzig nennt, naiv und jung wie Susanne. Erschien zur Aufnahmeprüfung noch im "Ehrenkleid der Volksarmee". Im Laufe des Studiums immer störrischer. Was ihm nach dem dritten Studienjahr ein Jahr "Prärie" einbringt. An der Prüfung nimmt er noch teil. Ob er das Diplom später machen darf, ist nicht klar.

Dora, groß, schwarzhaarig, dunkler Teint, Berlinerin, zehn Jahre älter als Susanne, drei Kinder. Hochschwanger kam sie vor drei Jahren zur Aufnahmeprüfung. Hat als Sonderschul-Pädagogin gearbeitet. Parteizugehörigkeit aus Überzeugung. Die Bekanntschaft mit Heiner und Inge Müller brachte sie darauf, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Ihre physische Leistung am erstaunlichsten. Dora schluckt koffeinhaltige Tabletten. Dora im Kostüm, Susanne im Kostüm. Zu befürchten haben sie nichts mehr. Schon nach dem zweiten Studienjahr nicht mehr. Exmatrikuliert wird höchstens, wenn jemand noch einen richtigen Bock schießt wie Wernerle. Die bis dahin durchkamen, wissen in der Regel, ihre Zunge zu hüten. Die Schule hat kein Interesse mehr, die Anzahl der Studenten zu dezimieren. Nebenfächer haben sie abgeschlossen. Den gesamten Philosophie-Komplex mit ML, Marxismus-Leninismus, Pol-Ök, Politische Ökonomie, Wissenschaftlichem Sozialismus, Geschichte der Arbeiterklasse, Englisch, Russisch, Kunstgeschichte, Ästhetik, Literaturgeschichte, Filmgeschichte. Eigentlich steht bei der Prüfung nichts auf dem Spiel. Sie werden zu ihrer theoretischen Abschlussarbeit befragt. Während des Studienjahres lieferten sie Arbeiten ab, die auf Filmadaptionen hinausliefen, hatten alle eine Konzeption abzugeben, zum Beispiel zur "Moskauer Novelle" von Christa Wolf Man kann die Studenten also einschätzen, ihre Fähigkeiten wie Weitsicht. Susanne wird ihre Theorieschwäche nachgesehen. Auf die spezielle Begabung kommt es an. Nicht einmal ein Abitur ist zu der Zeit notwendig. Susanne trotzdem aufgeregt, hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Die Studenten werden einzeln hereingerufen. Ihnen gegenüber eine Versammlung von Damen und Herren der Schule, der Parteisekretär darunter und ein Vertreter der FDJ, Gäste von der Defa, Dramaturgen. Ein kleiner eleganter Herr, in teurem westlichem Anzug, Old-spice-Duft umweht ihn, Regisseur, Autor. Die Gäste neugierig, wollen begutachten, was das nächste Jahr für eine Ausbeute an Absolventen bringen wird. Bisher konnten - bis auf einzelne Absolventen der Dramaturgie - Studenten an die Defa übergeben werden. Die Stellen dort inzwischen knapp. Deshalb wohl das verzweifelte Bemühen von Fietz, seine Nähe zur Arbeiterklasse zu bekunden, indem er auf Specki-Tour geht.

Dora gibt glänzend Antwort. Man lauscht draußen. Golzow bemüht Urvater Marx. Mühsam formen sich schon gedachte Gedanken neu, als Susanne befragt wird. Die Unbefangenheit der Oberschülerin, der Gersdorfer Alleinunterhalterin längst dahin. Langsam antwortet sie. Die Dozenten kennen Susannes Prüfungsnot. Seminarleiter Schwab lächelt. Mütterlich die klein-rundliche Verena Kammermeier neben dem langen schwarz-ernsten Kurt Kammermeier. Susannes Sätze beginnen zu fließen.

Die Prüfung vorüber. Sie alle draußen auf der Diele. Die Türen zum Zimmer weit geöffnet. Ein wunderbares Licht. Vom Balkon herein Jasminduft. Aufgehoben die Trennung zwischen Dozenten, Gästen und Studenten. In Grüppchen stehen sie auf dem herrlich graublauen Teppich, zentimeterdick. Man plaudert, blödelt, witzelt, schaut sich um. Susanne wie in Trance: endlich vorbei, überstanden. Sie sieht Fietz in seinem grauen Flanellanzug dahinschweben, von Grüppchen zu Grüppchen eilend, hier ein Witz, dort eine Bemerkung. Fietz zündet sich elegant eine Zigarette an. Lange waren sie gut befreundet. Susanne hört eine Stimme neben sich. Aber da Susanne sich wie im Film befindet, nur als Zuschauer, am Ort des Geschehens, als Akteur also nicht anwesend, kann die Stimme nicht ihr gelten.

"... Sie haben vielleicht bemerkt, dass ein Menschenleben in Casablanca nicht viel zählt. "

Fietz stößt sie mit dem Zeigefinger an. Hör mal, du blöde Henne, sagt Fietz, Dort wartet jemand auf dich! Nun mach mal!, weist auf eine Kammer, die Tür halboffen. Susanne sieht, in der Kammer steht jemand. Susanne wandelt auf die Kammer zu. Ein blonder, angenehmer Herr, Gruppendramaturg bei der Defa, erwartet Susanne. Haben Sie sich schon überlegt, wie es nach dem Studium weitergehen soll?, fragt er.

"Im Café Americain trifft sich alles."

Susanne weiß, wie es nach dem Studium weitergehen soll, sagt es nicht, so klug ist sie doch. Schaut ihn bloß an. Na ja. Sie zuckt mit den Schultern. Und da kommt das Angebot, das einmalige, das nie wiederkehrende: Ich würde Sie gern in unserer Gruppe sehen!, sagt der Dozent. Susanne wirft sich ihm nicht an den Hals und jubelt. Verhält sich ganz still. Auch das kann Freude sein. Aber ist es nicht. Nur Verwirrung.

Überlegen Sie es sich, sagt der Gruppendramaturg freundlich. Aber nicht zu lange. Und sagen Sie niemandem etwas darüber! Bringen Sie das fertig? Der Gruppendramaturg weiß um ihre Impulsivität, kennt Susanne nicht erst seit heute. Will sie vielleicht genau deshalb in seiner Gruppe von Dramaturgen haben, weil Susanne nicht lügen kann, ihrem Gefühl, Instinkt folgt. Und ihr Instinkt ist gut. Eine gute Nase ist manchmal besser als ein kluger Kopf. Wie sagt man: Ein kluger Kopf benutzt unter Umständen seine Klugheit, um sich ein Brett vor denselben zu nageln. Jaja, sagt Susanne. An diesem Tag kann sie alles. Auch schweigen. Sie torkelt zurück zu den anderen, zieht eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Tasche, raucht, ganz lässig.

"Wenn du nicht hilfst, wird Victor Laszlo in Casablanca sterben." - "Na und wenn schon, ich werde auch in Casablanca sterben. Ist doch ein guter Platz dafür. "

Lange hält sie es in der Villa nicht mehr. Aber wir feiern noch!, sagt Fietz. Jaja, geh nur, sagt Schwab, Schwäbchen genannt, der Seminarleiter, kennt ihre Schwäche an solchen Tagen. Die Nerven. Unter Nervenschwäche litt auch ihre natürliche Mutter, wie die ihr erzählte, Stickerin und Weißnäherin und mit einem typischen Hang der Dresdner zur Kunst und zum Adel. Erst als sie ins Rentenalter kommt, lebt sie auf, verdient sich freudig als Einlassdame beim Kino dazu. Der Bus ist gerade weggefahren. Susanne zieht Stöckelschuh und Strümpfe aus, um voranzukommen, geht den Berg hinauf, hat ein Ziel: ER. An diesem besonderen Tag wird Reimar da sein, hofft sie, wird in seinem Zimmer auf sie warten. Vom Schauspielhaus kommt ein Mädchen herunter, als "Don Gil von den grünen Hosen" gekleidet, grünes Wams, grüne Beinlinge, knallrotes Käppchen auf dem Kopf mit einer langen, wippenden Fasanenfeder. Das Mädchen hält sich die Kappe fest. Hallo!, sagt sie. Susanne hat es eilig. Warte mal, warte mal!, sagt das Mädchen. Wann machen wir's denn, wann, Nanne? - Na, was denn?, fragt Susanne. - Na unsere Weiberfete! - Nee, ist doch kaum jemand noch da. Wir müssen warten, bis das Haus wieder voll ist. - Aber wir können doch auch allein saufen! - Nee, sagt Susanne, heute nicht. Ich hab was vor. Susanne lächelt, verrät sich. Ach ja, du hast heute deinen eigenen Sommernachtstraum mit Reimar, spottet das Mädchen. Ja, denkt Susanne. Hoffentlich. Will weiter, endlich zu ihm. Doch Don Gil von den grünen Hosen hält sie fest, ist auch allein, hat Dreharbeiten beim Film, die anderen Schauspielmädchen sind schon abgereist. Wie war's denn? Wie hast du's überstanden? Sie fragt nun nach der Prüfung. Jaja, sagt Susanne, so und so. Das Mädchen lässt nicht locker. Susanne rennt einfach los zur Villa, in der Reimar wohnt, ist voll des süßen Jasminduftes und im Erfolgsrausch: Gleich wird sie bei ihm sein. Rennt hin zu ihm wie ein Hundel, wird ihn anschauen, sehen, wie er sitzt, wie er guckt. Dann wird er sie - vielleicht - in die Arme nehmen und küssen, der große Reimar, der überragende Schriftsteller. Und vielleicht wird er sagen: Hach, wie freu ich mich! Ja, wie stolz bin ich auf dich! Und dann wird er wieder von seinem Traum reden. Sie werden zusammen in die Taiga gehen, in die Prärie, gleichbedeutend mit weit weg und nah an der Basis. Sie nehmen den Kontakt zum Volk auf, nur so wird echte Kunst entstehen. Ins Petrolchemische Kombinat Schwedt werden sie gehen, Erfahrungen sammeln, die fürs Schreiben, für die Kunst wichtig sind. Susanne durfte noch keine Zeile von Reimars großem, wundervollem Roman lesen. Aber es muss ein ganz außerordentliches Werk sein, so wie er davon redet. Im "Neuen Deutschland" wurde schon ein Stück abgedruckt. Reimar hat eine Theorie, die Susanne einleuchtet. Doch bei ihr laufen die Figuren, wie sie wollen, sie kann sie nicht zur Disziplin rufen. Das ist ihre Schwäche, denkt sie. Es kann ja nicht sein, dass die Figuren, von ihr erschaffen, sich plötzlich nicht mehr um sie scheren und ihr Eigenleben führen.

Utz, ein Mitbewohner von Reimars Zimmer, kommt ihr entgegen mit einem Kotelett in der Hand, lacht. Was soll ich nun machen, abwaschen oder gleich so in die Pfanne?, fragt er, wird mit einem Mal ganz ernst, was nichts mit der Frage nach der Prüfung zu tun hat. Susanne könnte aufmerken. Später wird sie sich an den mitleidigen Ausdruck erinnern. Jetzt sieht sie nur eins: Reimar ist nicht da, hat nicht auf sie gewartet. Kein Reimar, kein Held, der sie umarmt! Sie steht da, bedeppert. Na ja, er ist sicher in seinem Verlag, denkt sie endlich. So einen Helden hat man nie für sich allein, der hat Aufgaben, kann sich nicht um Susanne kümmern, wie sich Susanne um ihn gekümmert hätte. Sie läuft in ihr Haus, legt sich hin, versucht zu schlafen. Bald wird sie gestört. Fietz steht vor ihrem Bett. Die Fachrichtung trifft sich nachmittags zur Feier, sagt er. Nee, sagt Susanne. Ich will nicht. Sie denkt, Reimar wird noch kommen. Mein lieber Reimar wird mich holen. - So geht das nicht, sagt Fietz. Und wenn du nur ne Stunde dort erscheinst! Reimar kommt nicht und immer noch nicht. Susanne wird schwindlig, übel. Gegessen hat sie seit gestern nichts. Die Küche ist nicht mehr besetzt. Was mache ich bloß?, denkt sie, kocht sich schließlich einen starken Kaffee. Und rennt dann die Straßen hinunter zur Stalin-Villa. Die Feier ist schon im Gang. Wodka gibt es. Sie ist nüchtern und Alkohol nicht gewöhnt. Trotzdem kippt sie zwei, drei Wassergläser voll Wodka runter.

Laetitia, die Geliebte des Rechtsanwalts Maglia, die offenen Haare, halb nach oben gesteckt, das herrliche Gesicht eines Geiers und einer bösen Vettel, immer noch als Frau anziehend, klopft an die Tür des Rechtsanwalts, steckt ihren Kopf hinein. "Kuckuck, du wirst verlangt, großer Wau- Wau",: krächzt sie. "Signore! Raffaele mit Freunden und einer jungen Frau, einer jungen Frau, wie Signore Sie geliebt hat. Früher." Laetitia bewegt sich elegant, sehr wenig, weicht dem Buch aus, das er nach ihr wirft, lacht, fett, hexisch, flüstert: "Beeil dich, meine große Ratte, es gibt Portwein und Zigaretten."

Als Susanne zu sich kommt, hört sie ein Gemurmel. Man hat sie auf ihr Bett gelegt. Die Jungen müssen sie den Berg hinauf getragen haben in ihr Zimmer. Alles dreht sich. Und immer noch denkt sie: Reimar! Wann kommt Reimar? Fietz kümmert sich, denn die Mädchen sind nicht mehr da. Ihn sieht sie, als sie wieder einmal die Augen aufschlägt.

"Das Bett Julias. Ich bin bezaubert. Ich bin entzückt ... und verwirrt zugleich ... immerhin ..."

In der Nacht kommt Utz vorbei. Wo ist denn Reimar?, fragt sie.

Nun warte doch nicht, sagt Utz. Der ist doch bei seinem Verlag.

Aha, wie ichs dachte, er ist bei seinem Verlag!, denkt Susanne, will einen Augenblick erleichtert sein, aber ihr Herz krampft: Wieso weiß er davon, und ich, ich weiß nichts? Weh tut diese Frage, bitterweh, lässt sie nicht mehr los. Na schön. Ich werde ihm nichts sagen, wenn er wieder auftaucht, denkt sie.

"Bist du gelaufen, Angelo?" - "ja, aber nicht schnell genug. "Angelo fällt hin, eine Glasscherbe in der Hand. "Ich war in schlechter Gesellschaft, und meine Nase hat ihnen nicht gefallen."

Ich mache ihm keine Vorwürfe, denkt Susanne. Wenn man liebt, rennt man eben hinterher, das ist so. Sie schläft ein. Der große Tag, an dem endgültig klar ist, dass sie einen Abschluss an der Schule bekommen wird, endet ganz und gar nicht im Jubel.

"... Vergiss nicht, als ich dich aus deinem Loch geholt habe, warst du halbtot vor Hunger und vor Angst halb krepiert", erinnert Raffaele den Staatsanwalt. "... Du hast aufs falsche Pferd gesetzt. Du hast den Krieg verloren. Ich hab ihn gewonnen. Und ohne ihn zu führen."

Wenige Tage später findet die "Versteigerung" der Studenten statt. Golzow bekommt bei der Defa einen Vertrag als Assistent, an den eine spätere szenaristische Tätigkeit gekoppelt ist, Dora bei der Defa einen Vertrag als Dramaturgin, da sie mehr theoretisch begabt ist. Susanne wird von Seminarleiter Schwab wie Sauerbier angeboten. Gesellschaftlich interessiert sei sie. Das ist nun mal Grundvoraussetzung. Nicht interessiert zu sein, bedeutete, politisch untragbar zu sein. In einer Blockpartei sei sie. Und szenaristisch sehr, sehr begabt. Keiner der anwesenden Herrschaften rührt sich. Eine voluminöse Dame vom Fernsehen meldet ihr Interesse an. Ganz gleichgültig ist Susanne nicht, dass sie dem Fernsehen zugeschlagen wird. Doch sie hat ja andere Pläne. Reimar hat ihr versprochen, in die Prärie zu gehen, hat sie überhaupt darauf gebracht. Fietz allerdings wird grüngelb, als die Dame vom Fernsehen auch ihn "einkauft". Für die "Dramatische". Da hat er Dora drei Jahre lang ganz umsonst die Stiefel geleckt!

"Weine nicht, Georgia, weine nicht!"

Villa am Griebnitzsee

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