Читать книгу Villa am Griebnitzsee - Beate Morgenstern - Страница 6
III
ОглавлениеEs war nicht kalt, doch feucht. Susanne kam früh kaum aus ihrem Bett. Dämmerung noch, als Georg eintraf. Susanne mochte nicht reden. Auch Georg maulfaul. Nach der längsten Nacht der kürzeste Tag oder umgekehrt. Georg war mit seinem eigenen Rad gekommen, weshalb er die Besorgungen schnell erledigte. Na ja, vorm Fest sehen wir uns ja noch mal!, sagte sie.
Ein Monolog, an einen unsichtbaren Georg gerichtet, kam auch nach seinem Weggehen nicht zustande.
Doch die Erinnerungsmaschinerie, einmal in Gang gesetzt, lief: Gersdorf, ein Dorf den Berg hinab, hinauf. Hier ein Häusel, dort ein Häusel, hier ne Fabrik, da eine Fabrik und mal eine abgehende Straße in ein anderes Dorf. Auf halber Berghöhe das Gemeindeamt und das Klubhaus. Da arbeitet Susanne nun in der Gemeindebibliothek. Hat sich versetzen lassen, ist zum Volk gegangen, an die Basis, wie sie Arthur Brauner voraussagte. Ist nun auch der Mutter ein Stück weit entkommen. Bewohnt ein Zimmer bei einem alten Lehrerehepaar. Oberlehrer Schulz und seine Frau nehmen sie an Tochter statt auf. Die Gemeindebibliothek hat einen Bestand von 3000 Exemplaren. Es wird dazugekauft, ausgeliehen vom Kohleschacht oben in Oelsnitz. Die Gewerkschaftsbibliothek dort hat eigene Mittel, ist besser bestückt. Adolf Hennecke, jener, der die Schicht fuhr, in der er alle Normen brach, arbeitet in Oelsnitz. Man hatte sich ihn ausgeguckt von oben. Das kennt man nachher schon. Adolf Hennecke bis in letzte DDR-Zeiten ein Synonym für jene Zeit der ersten Aktivisten, in der der Aufbau mit allen Mitteln betrieben wird. Initiativen wie "Max braucht Wasser", in der Jugendliche mit Mut das Stahlwerk Unterwellenborn aufbauen, werden ins Leben gerufen. Andere, immer neue Namen von Aktivisten, später auch Neuerer genannt, in der Reihe nach Adolf Hennecke. Ein Name fiel Susanne ein. Der fiel jedem ein, der mit der Zeit vertraut war, denn allein der Name machte lachen: Frida Hockauf "Straßen der Besten" mit Fotos an den Flurwänden oder Plakaten an der Werkstraße gab es in späterer Zeit. Susanne also leiht Bücher von jener Oelsnitzer Gewerkschaftsbibliothek wie andere Gemeindebibliotheken auch. Sie kennt dann schon Geschmack und Wünsche der Dorfbewohner. Einem ist es nur darum zu tun, dass die Bücher dick sind. Von Liebe soll es handeln, verlangen die meisten.
"Warte auf mich", sagt Antonio. - "Ich warte auf dich ... Und wenn ich darüber auch weiße Haare kriege und alt und blind werde. Wenn ich inzwischen einen anderen ansehen sollte, dann sprenge ich mich, meinen Vater, meinen Bruder und die ganze Gegend in die Luft." - "Na, das wird ein schönes Feuerwerk."
Die Arbeiter vom Oelsnitzer Kohleschacht besuchen statt der Bibliothek im Schacht Susanne im Klubhaus. Seit man weiß, Susanne kann Klavier spielen, ist sie noch beliebter. Im Saal des Gemeinde-Klubhauses steht ein schöner Flügel. Susannes wegen wird er gestimmt. Susanne spielt den Straßenbauern auf, den Brauereiarbeitern, den Arbeitern vom Kohleschacht, von der Nickelhitt in St. Egidien, Sankt Ekidschen in hiesiger Redeweise, von der Wismut. Moderne Schlager, alte Kamellen spielt Susanne. Ein, zwei Flaschen feinster Deputatschnaps, den die Leute von der Wismut zum Lohn dazubekommen, auf Talons, in Magazinen der Wismut einzutauschen, stehen immer auf dem Tisch. Die Wismut-Arbeiter deshalb beneidet, die Talons als Tauschobjekt begehrt. Die Wismut die sowjetische Fördergesellschaft für Uran, was man leider hier nun auch findet zu Kohle und Nickel und früher Silber dazu. Susanne muss mittrinken. Kriegt Bockwurst spendiert. Doch das Mittagessen in der Brauerei schon zu gut, zu reichlich, vier grüne Klöße auf einem Teller! Lieber Zigaretten!, verlangt Susanne. Sind Frauen dabei, wird getanzt, geschwooft. Man prostet Susanne zu. Die Beine weich, als sie die Straße hoch will. Die Arbeiter torkeln nicht minder. Oberlehrer Schulz ist auf der Wacht, wenn Susanne abends im Klubhaus aufspielt. Wartet, und wenn sie gar nicht kommt, macht er sich mit dem Handwagen auf den Weg, geht die Straße hinunter.
Susanne klammert sich an den Wagen oder lässt sich ganz fallen, der alte Mann zieht sie den langen Berg hinauf, holt sie heim. Oh, oh, Fräulein Burkard, sagt er am nächsten Morgen. Das dürfen Sie nicht machen. Machen Sie das um Himmels willen nicht! Mit ihren zarten Nerven. Und Sie rauchen zu viel, Fräulein Burkard, wie viel rauchen Sie denn? 20 Zigaretten sind es zu jener Zeit schon. Die Frau des Oberlehrers Schulz, eine weißhaarige kleine Dame, sieht sie nur besorgt an, ihr Mann redet für sie mit. Susanne braucht die Abende im Klubhaus, die Verbrüderung mit den Kumpels. Sie braucht die Gespräche mit den Dorfbewohnern, die kommen und sich beraten lassen. Mit steigender Abneigung denkt sie zurück an die wissenschaftliche Bibliothek, die stumm vor ihren Karteikästen sitzenden meist älteren Kolleginnen, an die ebenso stumm vor ihren Büchern sitzenden Jünglinge. Grad die Helga Brauer fehlt ihr. Susanne macht Buchbesprechungen bei der DSF, im Kulturbund. Ist Abende unterwegs. Hat immer zu tun. Man verlangt viel nach Susanne, denn die weiß nicht, dass auch sie verlangen könnte, Geld nämlich, 15 bis 30 Mark wie ihre Kolleginnen für den Abend. Die junge hauptamtliche Bürgermeisterin hält viel von der neuen Bibliothekarin. Und Susanne bekommt als Ausgleich für ihren Einsatz bis in die Nacht den Sonnabend frei, bestimmt die Bürgermeisterin, was Susanne recht ist, denn so kann sie nach Hause fahren, schreiben. Geschichten aufschreiben. Ihre Vorgängerin machte noch am Sonnabendnachmittag Ausleihe. Um eine Ausrede zu haben, nicht zu ihrer Mutter fahren zu müssen, erfährt Susanne. Wie sich die Probleme doch gleichen. Susanne hat Ausflüchte nicht mehr nötig, denn sie hat eine Zuflucht, sie bringt Worte aufs Papier. Rastlos bleibt sie. Das kann es doch noch nicht gewesen sein!, denkt sie.
"Was hast du in diesem Kaff verloren?" - "Hatte keine große Auswahl", sagt Joe, der Alte, ein weiß gekleideter Ganove. Mario und Joe wandern die eine breite Straße entlang, die den Ort ausmacht, unbefestigt die Straße, große Pfützen, einige Häuser, einige Hütten. Sie gehen hinter einem Beerdigungswagen her. Hinter ihnen noch andere Weiße. "Der Mann hatte Fieber", beruhigt sich Joe. Es gäbe auch andere Krankheiten, teilt ihm Mario mit. "Tierchen, die von innen her die Leber auffressen. Lepra. Jeden Morgen sieht man nach. Aber das ist halb so schlimm. Denn hier gibt es eine widerliche, eine chronische Krankheit. Das ist der Hunger."
Susanne frisst sich durch die Weltliteratur der gut bestückten Kreisbibliothek Hohenstein-Ernstthal, kurz Huhnsteen genannt, liest rund um sich, Faulkner, Graham Greene, Theodore Dreiser, bewirbt sich - unerlaubt - gleichzeitig für drei Studienrichtungen. Wieder an der Filmhochschule, diesmal für Dramaturgie. Außerdem für Theaterwissenschaften in Leipzig und für das Studium der Germanistik in Berlin. Im März 59 fährt sie mit Fieber nach Leipzig. In einer Villa findet die Aufnahmeprüfung statt. Zwei junge Herren, mit sich selbst beschäftigt, schreiten gesenkten Hauptes das getäfelte Foyer auf und ab. Susanne steht blöd herum. Sie hat Geschichten abgegeben, die sie für sich geschrieben hat und für die Zeitung, hat Stückanalysen gemacht. Susanne wird gerufen. Drei Herrschaften erwarten sie. Eine Probebühne. Susanne soll die Fabel von "Emilia Galotti" erzählen. Feurig, im Fieber, berichtet Susanne. Die unten sitzenden drei Herrschaften rucken unruhig auf ihren Stühlen. Später kann Susanne deuten, was es damit auf sich hat: Sie versuchten, ihr Lachen zu beherrschen. Was meinen Sie, liebes Kind, haben Sie uns erzählt?, fragt der Professor dann. "Emilia Galotti", sagt Susanne. "Rigoletto" war' s, antwortet der Professor. Aber schön! Eine erstaunliche Aufgabe wird Susanne vorgegeben, vielleicht aufgrund ihrer temperamentvollen Erzählung der falschen Emilia. Spielen Sie, dass Sie warten, sagt der Professor. Ihr Freund kommt. Oder er kommt nicht. Susanne, nicht mehr in der Lage, auf Wünsche einzugehen, steht fassungslos. Der alte Professor Kuckoff sehr ruhig, der Dozent Rohmer gleichgültig. Wir sind uns einig, sagt Käthe Selig, lächelt, schaut die beiden Herren an, wir glauben, dass Sie für Theaterwissenschaft nicht geeignet sind. Susanne ein, zwei Augenblicke wie nicht mehr von dieser Welt, aber noch bei irgendeinem Bewusstsein.
Das Öl brennt. Verwundete, Tote werden auf Lkw gebracht. Die einzige Möglichkeit, den Brand auf den Feldern zu löschen, eine Sprengung durch Dynamit. "Hier gibt's genug Gesindel", sagt während einer Besprechung einer der Öl-Bonzen, der sich O'brabim nennen lässt. "Auf ihrem Buckel würden die das Zeug 10000 Kilometer weit schleppen ..."
Nein, nein, sagt Käthe Selig. Wissen Sie, die Theaterwissenschaft ist eine trockene Arbeit. Wo hat das Susanne schon mal gehört? Was Sie eingereicht haben, sagt Käthe Selig, ist sehr lebendig geschrieben. Deshalb sind wir der Meinung - wieder sieht sie zu den Herren hin -, bei den Journalisten sind Sie viel besser am Platz, Fräulein Burkard. Wir haben uns mit der Fakultät der Karl-Marx-Universität in Verbindung gesetzt. Ihre Unterlagen sind bereits dort. Wir wollten uns eigentlich heute nur noch mal mit Ihnen unterhalten! Susanne kommt langsam zu sich. Nein, nein!, sagt sie. Da hätte ich doch gleich das Volontariat in Karl-Marx-Stadt annehmen können, das man mir angeboten hat! Nicht Journalistik, das nicht, denkt sie. Jeder weiß doch, was mit den Zeitungen los ist! Na ja, sagt Professor Kuckoff still, hat den Aufschrei gehört, ahnt vielleicht, warum Susanne keinesfalls zu den Journalisten will. Wissen Sie was: Wir können ja noch mal drüber reden. Aber gehen Sie erst mal dorthin! Tür zu, denkt Susanne. Klavierklimpern für Würstchen, Schnaps und Zigaretten, mit dem Bücherkarren losziehen, um von Oelsnitz Bücher zu holen oder welche zu bringen, das nun bis ans Lebensende?
"Warum verduften sie nicht?", fragt Joe - "Das würden sie lieber heute als morgen", antwortet Mario-Montand. "Aber aus dem Loch hier kommt kein Schwein raus. Die Entfernungen sind zu groß Daran gehen wir alle kaputt." - "Eisenbahn?" - "Eisenbahn gibt's nicht." - "Straße?" - "Nur eine, und die endet in den Ölfeldern."- "Flugzeug?" - "Caracas? Da kann man auch hierbleiben. Genauso schlimm wie hier. Schon bis Lima kostet der Spaß 2000 Dollar ... Reinkommen ist verdammt leicht. Macht sich fast von selbst. Aber rauskommen, denkst du! Und wenn du drinbleibst, krepierst du."- "Ich habe keine Lust zu krepieren." - "Das will hier niemand. Aber du krepierst trotzdem."
Na, wenn Sie uns schon Bücher ausleihen, sagen die Oelsnitzer Arbeiter, dann müssten Sie sich auch für unsere Arbeit interessieren! - Ja, natürlich!, sagt Susanne. Deswegen wollte sie doch von der Hochschule weg an die "Basis"! Das wirkliche Leben sollte ihr begegnen. Gehen Sie zum Kollegen Sowieso, sagen die Arbeiter. Das ist ein Mitarbeiter vom Direktor. Denn Sie brauchen eine Sondergenehmigung, um in den Schacht einzufahren. Und bringen Sie uns ein paar Bücher mit!, sagen die Arbeiter. Aber wieso?, fragt Susanne. Aber das geht doch nicht, unten im Schacht Bücher auszuleihen! - Na, wollen Sie uns nun mit der Kultur vertraut machen, sagt einer der Arbeiter. Interessieren Sie sich nun für unsere Arbeit oder nicht?, sagt ein anderer. Jetzt kneifen Sie, haben wohl doch Angst, was?, ein Dritter.
O'brahim schüttet ein wenig Nitrolgyzerin auf den Boden. Es explodiert. "Ich habe nur gewöhnliche Lastkraftwagen, ohne Aufhänger, ohne Stoßdämpfer, mit nichts", sagt er den Bewerbern, die das Dynamit auf die Ölfelder bringen wollen. Ein Texaner steigt aus dem Geschäft aus. Er habe Männer gekannt, die nicht wiederkamen. Und die wiederkamen, hatten weiße Haare. "Die Angst überfällt einen wie Pocken. Und wer sie kriegt, behält sie fürs Leben. "
Die Männer reden auf Susanne ein, bis die nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Ich will schon, natürlich!, stottert Susanne. - Und gehen Sie ja zu dem Kollegen Sowieso und nicht etwa in die Bibliothek!, warnen die Arbeiter. Die Bibliothekarinnen sind nämlich eifersüchtig, dass wir Bücher bei Ihnen ausleihen! Susanne geht zum Kollegen Sowieso, redet etwas von Kunst an der Basis, redet nun wiederum ihn besoffen, bekommt die Genehmigung, besteigt den Förderkorb, behelmt wie die Arbeiter, die mit ihr hinunterfahren, bepackt mit Büchern. Schlecht wird ihr. Ist froh, als sie in soundso viel Meter Tiefe ankommen. Der Steiger unten sieht den Bücherkorb, dann schaut er Susanne an, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. Ja, die Kollegen, Susanne nennt Namen, haben mich gebeten! Ich soll Ihnen die Bücher persönlich bringen. Hat sie denn eine Erlaubnis?, fragt der Steiger einen der Arbeiter. Ja, hat sie! - Hm, hm, dann kommen Sie mal mit. Susanne geht dem Steiger nach. Hunte fahren ihr auf Schienen entgegen. Mörderisch die Wärme. Der Steiger schaut Susanne von der Seite an mit einem Blick wie: Na, Mädel, mach dich auf was gefasst! Sie gehen nicht weit, da trifft sie auf die Männer: schwarz die Augen, Zähne weiß leuchtend. Und wenn sie auch vollkommen schwarz sind, sieht Susanne doch auch eins: Die Männer sind nackt! Allesamt. Der einzige Angezogene der Steiger. Susanne weiß nicht, wohin mit ihren Augen, mit ihren Büchern, sieht hilfesuchend den Steiger an. Na, denn kehrn mer wieder um!, sagt der. Prost! Prost!, grölen die Männer Susanne hinterher. Susanne stolpert zum Förderkorb, glühend vor Scham. Der männliche Teil der Arbeiterklasse hat seinen Spaß gehabt. Der weibliche Teil kriegt seinen Zorn.
Nachdem die Männer nachmittags von der Schicht gekommen sind, stürmen die Frauen die Bibliothek. Was erlaubn Se sich, Frolln Purgert!, rufen die entrüsteten Frauen. Wo Se doch wussten, was die mit Ihn vorham. Das konntn Se sich doch denkn. So ne Schweinerei! So ne Sauerei! Das sin alles verheiratete Männer, Frolleinchen! Die Frauen schreien, außer sich, als hätte Susanne ihrer Ehe die Unschuld geraubt. Susanne glüht erneut und lernt: Die Arbeiterklasse ist wie die Menschenklasse sonst, auf Vergnügen aus, auf Späße, eifersüchtig und auch etwas prüde. Denn hat Susanne nur einem der verheirateten Männer etwas weggeguckt, als man sie in die Falle lockte, so dass er nun zu Mannestaten nicht mehr fähig ist?
Eine Kundgebung findet statt. Der Erste Mai ist es nicht, der Kampftag der Arbeiterklasse, die machtvolle Demonstration, zu der mit Losungen, groß gemalte Buchstaben an Häuserwänden, gerufen wird. Als Susanne einmal an der Mauer des Berliner Untersuchungsgefängnisses Rummelsburg vorbeifährt, sieht sie den Spruch: Heraus zum Ersten Mai! Selbst Friedhofsmauern ziert dieser Spruch. Das Volk lacht. Losungen, sinnige, aberwitzige, wenig materialaufwändig, ein bisschen Kreidefarbe braucht man nur, sie beleben das Bild der Städte und Gemeinden Ostdeutschlands, vormals Mitteldeutschland genannt. Wenig dankt die Bevölkerung, der Coca-Cola-Werbung lieber wäre, selbst wenn man die Coca-Cola nicht zu kaufen kriegte. Eine Kundgebung also, aber nicht zum Ersten Mai, zum internationalen Kampftag. Vielleicht zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus. Oder eine Sonderdemonstration aus Protest gegen einen imperialistischen Anschlag. Susanne als Gemeindeangestellte mit dabei. Ein Trüppchen nur, Gemeindeangestellte, Mitglieder von Parteien und Massenorganisationen, ein paar Hausfrauen vom DFD, vom Demokratischen Frauenbund Deutschlands. Beginn der Demonstration am Gemeindeamt in Höhe des Klubhauses. Da ist dann noch der Kindergarten und die Brauerei, weiter ins Tal hinunter zieht das Trüppchen mit Transparenten, wie sich's gehört, macht in der Senke, am Gasthof "Zur Sonne" halt. Dort ein Bächlein, in dem die Elektrische, die elend quietschende Straßenbahn, bei ihrer kurvenreichen Tour von Hohenstein nach Oelsnitz mal landete. Das Trüppchen kehrt wieder um, zieht den Berg hinauf, seinen Willen bekundend. Zieht vorbei am Klubhaus, Gemeindeamt, an der Brauerei bis zum endlichen Ende des Dorfes. Dann dreht man wieder um, zieht bis zum Gemeindeamt hinunter, kommt an der Post vorbei. Ein Postangestellter ruft in das Trüppchen hinein. Frolln Purgert! Frolln Purgert!, ruft er in der typisch sächsischen Verkehrung von harten zu weichen und weichen zu harten Konsonanten. Die Mutter hat angerufen, erfährt die Versammlung örtlicher Vertreter von Parteien, Massenorganisationen und Gemeindeangestellten.
"Ein Brief von meinem geliebten Antonio": schreit Antonios Mutter, eine hässliche Alte, schmalschultrig, breithüftig, schief, auf die Gassen von Cosano hinaus. "... Wie hab ich auf den Briefgewartet. Wie Maria auf den Engel der Verkündigung."
Morchn missn Se zur Offnahmeprüfung nach Babelsberg, sagt der Postangestellte. Was nun wieder eher wie Papelsperk klingt mit einem dunklen a. Susanne hat still geschwiegen über ihre Absicht, sich aus Gersdorf wegzumachen, wo sie's ja gar nicht schlecht hat, wenn der Drang nicht wäre zu Höherem, zur Kunst. Jetzt steht Susanne da, heiß ist ihr, der Kopf feuert, und die um sie herum sind wie mit Wasser begossen und können es nicht fassen, dass das Fräulein Burkard mit ihrem Gersdorf nicht genug hat. Der Postangestellte erklärt den Anwesenden, wie Susannes Mutter zu der Nachricht gelangt sei. Ein Brief an Susanne sei so lange unterwegs gewesen. Gott sei Dank habe die Mutter ihn geöffnet und das Datum gefunden.
Das ist nun auch die Burkard-Gerda, dass sie das Interesse ihrer Tochter befördert, wenn es denn mal offenkundig ist, obwohl es ihrem Interesse ganz entgegenläuft. Sie hätte den Brief nur nicht zu öffnen brauchen oder wenn schon, wenn die Neugier sie schon trieb, dann doch die Nachricht verspätet übermitteln. Die Tochter ist doch alles, was sie hat, und die Angst, sie zu verlieren, besonders groß, weil sie in Susannes Kindheit immer fürchtete, man könne sie ihr wieder wegnehmen, die leibliche Mutter könne Ansprüche stellen. Weihnachten zum Beispiel sitzt die, zunächst noch mit Susannes Großmutter, später allein, immer in der Kirche in der Nähe ihres Kindes und der Geschäftsfrau. Könnte ja sein wegen der Abstammung, dachte Susannes Mutter, dass man die Frau gezwungen hätte, das Kind zur Adoption freizugeben. Die Burkard-Gerda war sich Susannes nie sicher gewesen. Und ihre Angst hat sich noch verstärkt, weil es nicht gut ging zwischen ihr und Susanne. Aber der Tochter den Weg verstellen, das will die Mutter nun auch nicht. So hat sie vom Laden aus auf der Gersdorfer Post angerufen.
Den Mittagszug von Karl-Marx-Stadt schafft Susanne nicht mehr. Der Abendzug fährt gegen 18.00 Uhr. Frolln Purgert, da müssn Se hin, sagt die junge Bürgermeisterin. Auch sie wandeln Gefühle von Besitzanspruch an. Aber manchmal wachsen die Menschen über sich hinaus, gerade, wenn Ereignisse sie überrumpeln, sie keine Zeit zum Überlegen, zum Berechnen haben, überraschen sie mit Großzügigkeit. Se kriegen den Dienstwagen!, sagt die Bürgermeisterin. Packn Se paar Sachn zusammen. Se wern schon irgendwie unterkomm, un wenn's im Wartesaal is! Da müssn Se hin! Susanne stürzt hinauf zu Oberlehrer Schulz. Der alte Oberlehrer ganz aufgeregt, seine liebe Frau ebenfalls ganz aufgeregt, schmiert Bemmen. Hach, wo wern Se bloß übernachtn, Frolln Purgert. Dasse uns bloß gesund wiederkomm! Un passn Se auf durch Westberlin! Verwandte in Westdeutschland haben Oberlehrer Schulzens eine sehr schlechte Meinung von Westberlin beigebracht. Hoch sei die Kriminalität. Und Susanne nachts unterwegs! Susanne fährt großartig mit Dienstwagen nach Karl-Marx-Stadt. Dann steht sie in der Nacht auf dem Berliner Ostbahnhof. Weil sie ein viechellanter Sachse ist, von vigilant im Französischen, weiß sie sich zu helfen, spricht den nächsten Bahner an, der ihr ein Schlafwagenhotel anempfiehlt, Warschauer Straße, über die Gleise, da stehen drei, vier Schlafwagen, Treppchen führen hinauf. Doppelkabine, Einzelkabine? Einzelkabine natürlich!
Susanne kann bezahlen! Na, mer hams doch!, sagt der Sachse. Der Lärm des Güterverkehrs, Susanne schläft spät ein, wacht früh auf, noch bevor man sie weckt.
Zum ersten Mal betritt Susanne den Vorführraum, in dem sie später so viele Filme sehen wird. Papa Rodenberg, Leiter der Fachrichtung Dramaturgie, begrüßt die Prüflinge. Es wird "Stärker als die Nacht" gezeigt, ein antifaschistischer Film. Machen Sie sich Notizen, sagt Papa Rodenberg. In einem anderen Haus schreiben Sie dann über das Thema dieses Films.
Wer weiß nicht, was ein Thema ist? Stille. Doch Susanne will sichergehen, dass sie und die Prüfungskommission dieselbe Vorstellung von dem haben, was ein Thema ist, hebt die Hand.
Daraufhin recken sich noch andere Hände. Aha!, sagt Papa Rodenberg. Schreiben Sie: Was geschieht warum! Die mündliche Prüfung in der berühmten Stalin-Villa. Die Anzahl der Prüflinge schon dezimiert. Einer, die kräuselnden Haare um zwei Zentimeter länger als üblich, und ein Vorderzahn fehlt ihm, kommt eine Stunde zu spät. Einfach so. Das macht Susanne auf ihn aufmerksam. Es ist Golzow. Ein Name, der in Nachwendezeiten gefragt bleibt. Jeweils zu dritt werden die Prüflinge gleichzeitig in den Saal gerufen. Papa Rodenberg attackiert eine Schnittmeisterin, deren Mann Regisseur ist. Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie Dramaturgin werden wollen, sagt er. Um Ihrem Mann zu helfen, brauchen Sie kein Studium an der Filmhochschule! Einem jungen Mann ergeht es ebenfalls nicht gut. Ihm wird unterstellt, er hätte keine richtige Haltung. Man kann auch sagen Einstellung oder Standpunkt. Den Standpunkt der Arbeiterklasse hat man zu vertreten. Der Vorwurf, man täte dies nicht, schwer zu entkräften. An Susanne richtet man nur drei Fragen: Wie mahlt eine Arbeiterfrau den Kaffee? Susanne überlegt kurz. Sie zählt die Bohnen ab! Gut, sehr gut. Susanne scheint mit der Arbeiterklasse vertraut zu sein. Sie ist mit der Armut der Kriegs- und Nachkriegszeit vertraut. Aber die Antwort war auf jeden Fall richtig. Glück hat sie auch bei der zweiten Frage: Welches Buch würden Sie zur Verfilmung vorschlagen? Susanne nennt den Titel eines Buchs von Wolfgang Joho, einem zu jener Zeit anerkannten Autor. Auf dem Karl-Marx-Städter Bahnhof hat sie das Buch gerade gekauft. Noch niemand kennt den Titel. Das bringt ihr Pluspunkte ein. Sie erzählt die Geschichte, vier Menschenschicksale in der Nazizeit und kurz danach. Die Menschen, ihre Schicksale glaubhaft. Was interessiert Sie daran? Susanne pariert. Dann aus dem Hintergrund die Frage, die sie beinahe zu Fall bringt: Und gehen Sie auch mal tanzen? Susanne pariert wieder, wird mit einem Gelächter belohnt und nicht weiter befragt. Die eingereichten Erzählungen geben den Ausschlag, sie für das in diesem einen Jahr eingerichtete Fach Szenaristik, Drehbuchschreiben, anzunehmen. Es wird von ihr die Sage gehen als vom Wunderkind. Jedes neue Studienjahr belebt sich die Sage von einem Wunderkind, von der rührenden Hoffnung der Dozenten und Studenten genährt, ein Genie möchte unter ihnen sein. Der Stern erlischt spätestens, tritt im nächsten Jahr ein neues Wunderkind in Erscheinung. Die drei Prüflinge sind wieder draußen. Die Schnittmeisterin sagt böse zu Susanne: Na, Ihnen kann man ja gratulieren! Susanne fährt nach Gersdorf zurück. Am 17. Mai, das Datum vergisst sie nie, erhält sie ein Telegramm von ihrer Mutter: "Herzlichen Glückwunsch! Bist angenommen!" Oh, dann gehen Sie zum September weg, sagt die Bürgermeisterin traurig. - Ja, dann geh ich weg, sagt Susanne. - Oh, oh! Mehr als ein paar Klagelaute gesteht sich die Bürgermeisterin nicht zu. Denn jeder junge Mensch hat das Recht zu versuchen, alles aus seinem Leben zu machen. Vielleicht hat die Bürgermeisterin selbst noch Träume und ist erst am Anfang einer Karriere. Susanne bekommt im Frühsommer weitere Zulassungen: von der Leipziger Karl-Marx-Universität und der Berliner Humboldt-Universität. Die Entscheidung klar: Filmhochschule!
Zum Abschied sitzt sie bei Oberlehrer Schulzens in der weiß gestrichenen Glasveranda, Korbsessel darin, ein kleiner Tisch. Oberlehrer Schulz todunglücklich, während Susanne noch ein letztes Mal bewirtet wird. Ach, Mutter, Mutter, jammert er. Nun wird sie die letzten Nerven verlieren! Ob Sie das durchhalten!
Die Gersdorfer bereiten ihr einen großartigen Abschied im Klubhaus. Viel Schnaps wird getrunken. Doch Susanne hält sich fern, spielt noch einmal auf: Rosamunde! Einen riesigen Strauß Gladiolen überreicht man ihr. Und man winkt, winkt, als die Straßenbahn nach Hohenstein mit ihr abfährt.
Mario auf der Rückfahrt von den Ölfeldern. Im Siegestaumel des Todes nicht mehr achtend, rast, tanzt er mit seinem LKW die Bergstraßen entlang. Der LKW gerät aus einer Kurve, stürzt in die Tiefe, fängt Feuer. Verletzt der schöne Kopf Montands. Sirenen wie im Krieg. In seinen blutig geschnittenen Händen unversehrt eine gelochte Pariser U-Bahn-Karte. Die Sirenen werden dunkler, flauen ab.
Susanne hat den Fahrschein in ihr Glück und benutzt ihn. Zweimal besucht Susanne Oberlehrer Schulzens noch. Nach dem ersten Studienjahr und nach dem zweiten. Wieder sitzen sie in den Korbmöbeln der weiß gestrichenen Glasveranda. Susanne nun schlank, mehr, als es ihr guttut, die schwarzbraunen Haare modern geschnitten, bleiche Gesichtsfarbe, dicker schwarzer Lidstrich, Lippen geschminkt. Die Wangenknochen treten hervor, die lange, leicht gebogene Nase betont ihre Besonderheit, das Gesicht zum Kinn hin schmal. Susanne ist zufrieden mit ihrer Erscheinung. Oberlehrer Schulzens hingegen nicht: Mutter, hab ich's damals nicht gesagt!, sagt der Mann. Nun hat sie keine Nerven mehr. Und rauchen tut sie noch mehr! Und trinken? Nein, sagt Susanne, überhaupt nicht. Und was ist mit dem Kaffee? Susanne lacht. Da muss der Löffel drin stehen! - Ich hab's doch gesehen, sagt Oberlehrer Schulz. Vorhin der Kaffee, das war Ihnen nicht das Rechte! Oberlehrer Schulz schüttelt sorgenvoll den Kopf und kann sich an Susannes Bericht nicht freuen. Aber junge Menschen sind nicht aufzuhalten. Wie oft wird er das in seinem Leben schon erfahren haben.