Читать книгу Ausm leben mittenmang - Beate Morgenstern - Страница 3
An einem Tag im Jahr
ОглавлениеDiese kurze breite Straße hätte ihre sein können. Schmiedeeiserne geschwungene Balkone an der hohen Vorderfront einige, selbst jetzt im Herbst noch, in fast südlichem Grün. Hier und da zu Wohnungen ausgebaute Läden mit Fenstern, die fast bis zur Erde reichten. In die Wohnung eines Grafikers konnte man fast Tag und Nacht reinschauen. Jemand hatte einen Hundepflege-Salon eingerichtet. In dem letzten Haus diesseits der Straße ein großes Blumenfenster. Hier wohnten die Leute, die die Hauswartstelle im Haus der Freundin innehatten. Seitdem die Freundin vor neun Jahren Annette mitgenommen hatte, die erste eigene Wohnung anzuschauen, hatte sich nichts verändert. Immer noch sah man, wenn man die Straße entlanglief, breit die Reklame für JASSMANN an einem Haus der Querstraße. Allerdings hatte man inzwischen Bäume gepflanzt. Kirschbäume. Es schien sich jemand um sie zu kümmern, denn der Boden um sie war aufgelockert. Beinahe alle Bäume waren angewachsen und hatten im Sommer Früchte getragen. Kirschen in der Großstadt! Sie hatte es ihrer Freundin erzählen wollen, denn die war zu der Zeit im Krankenhaus gewesen. Aber sie hatte es immer wieder vergessen.
Früher war Annette jeden Sonntagnachmittag zu ihrer Freundin gegangen. Inzwischen verbrachte sie die Wochenenden in einem Vorort, sodass es schwieriger wurde, die Freundin zu treffen. Da hatte es ihr im Sommer zugesagt, in die Stadt zu fahren, die Blumen in der Wohnung der Freundin zu gießen, die Post aus dem Kasten zu nehmen. Vielleicht hing es damit zusammen, dass sie die Wohnung von Anfang an kannte, sie mit in Besitz genommen hatte. Was sich die Freundin auch anschaffte, wo sie renovierte, alles musste sie Annette zeigen. Keiner, so sagte sie, verstand so ihre Mühe und Freude. Aber es war noch etwas anderes, was sie in dieses Viertel zog. Als sie in die Stadt kam, hatte sie ihre erste Wohnung hier gehabt. Nicht am Rande wie die Freundin, sondern mittendrin. Da wo es trostlos wurde, wo die Hinterhöfe der einen Straße sich an die Hinterhöfe der anderen anschlossen. An Bäume war in diesen Höfen nicht zu denken. Schon lange wohnte sie nicht mehr hier. Und als Jana, ihre junge Kollegin, die ihr im Großraum am Schreibtisch gegenübersaß, eine Wohnung in Annettes alter Wohngegend bekam, da hatte sie gedacht, sie möchte noch einmal so anfangen. Obwohl auch im Leben der Freundin schon vieles festgelegt war. Beispielsweise hatte sie schon damals gedacht, dass die Freundin nie eine Familie gründen würde. Sie würde allein leben, irgendwelche Beziehungen haben. Das verband sie auch miteinander. Möglicherweise verglich sie sich nur deshalb mit der Freundin und konnte sich vorstellen, in dieser Straße zu wohnen. Der Hausflur im letzten Haus der Straße noch gekachelt, im Glaseinsatz der Windfangtür einige bleiverglaste stilisierte Blumen. Zwei Reihen Briefkästen, die nach der Windfangtür und vor der Witterung kaum geschützt. Einige Blechdeckel eingedrückt, zwei, drei Briefkästen herausgerissen. Wie hatten sie sich gemüht, in einer Lücke einen neuen Briefkasten anzubringen. Im kleinen Hof ein Müllcontainer, eine Tonne für Küchenabfälle. Zum Seitenflügel hin große Büsche. Zum Zaun hin, der diesen Hof von dem des Nebenhauses abtrennte, wuchs Phlox, Jahr um Jahr blühte er, blass die Blüten, eine Hofpflanze eben. Im Hof nebenan eine dünnstämmige Kastanie.
Das Treppenhaus im Seitenflügel war vor einigen Jahren renoviert worden. Langsam verkam es wieder. Grobe Fett- und Schmutzflecke auf dem nie gewachsten Linoleum. Doch frische Holzeinsätze in den Türen für neue Schlösser. Dass die Schlösser und Türen in Ordnung waren, darauf achtete man. Janas Treppe war gekehrt. Annette hatte sie gedrängt, sie könne sich doch Reinigungsgeld beim Hauswart abholen. Und das tat sie nun auch.
Laute Radiomusik hinter Janas Tür. Sie hatten ein Klingelzeichen verabredet. Während Annette wartete, sah sie auf die beinahe vollständig erhalten gebliebene gelbe Jugendstilfenster einen halben Stock höher. Es hatte keine besonderen Ornamente. Hier und da schwarz-rote Blumeneinsätze, einige geometrische Zeichen und ringsum eine Ornamentkante.
Sie hörte, wie die Zwischentür geöffnet wurde. Dann die langen, schleppenden Schritte der Freundin.
Langsam öffnete Jana die Tür. Annette, du, sagte sie, als hätte sie die Freundin gar nicht erwartet oder würden noch wer weiß wieviel Gäste kommen.
Jana war groß, sehr schlank und sah wieder einmal blendend aus. Sie verwandte viel Zeit auf ihr Äußeres. Das recht volle Haar war halblang und gut geschnitten und hatte Form. Sie sagte, sie habe ein fast erotisches Verhältnis zu ihrem Friseur. Ihr bleiches Gesicht vertrug viel Schminke, und sie hatte schöne Augen, lange Wimpern.
Jana hielt den rechten Ellbogen steif, ließ aber die Hand fallen, als wolle sie eher zum Kuss als zum Gruß anbieten, was etwas Hoheitsvolles und zugleich Lächerliches hatte. Dann schlüpfte Janas Hand immer doch noch in die Hand des anderen. Annette spürte einen leichten Druck. Herzlichen Glückwunsch und dass du alles kriegst, was du brauchst und Gesundheit und so, sagte Annette.
Rosen?, sagte Jana
Mit was anderem kann man Dir ja nicht kommen. Ist jedes Jahr ein Glücksspiel.
Diesmal habe ich schon eine Menge Rosen.
Du erziehst dir deine Leute!
Der Flur war sehr lang. Auf der einen Seite, wo die Plakate hingen, die Wand dunkelrot gestrichen, genau wie Annettes Flur. Den Boden bedeckte ein ebenso gestreifter Kokosläufer, wie ihn Annette sich gekauft hatte. Mit einem etwas helleren Rot hatte Jana ihre hölzerne Garderobe, den Rahmen eines Spiegels und eine kleine alte Kommode auf der gegenüberliegenden Wand versehen. Die war tapeziert und weiß gestrichen. Ein schöner alter Schrank neben dem Spiegel.
Annette hängte ihre Jacke an die Garderobe, besah sich kurz im Spiegel. Sie hatte selbst keinen so großen und nahm so die Gelegenheit wahr, sich im Spiegel der Freundin zu betrachten. Jana schlich vor ihr her, als wäre sie etwas krank. So lief sie immer. Sie vergeudete keine Kraft.
Die Küche war groß und durch die weißen Tapeten und hellen Möbel – ein weiß gestrichener kleiner Glasschrank war dabei - nicht mehr so düster wie bei der ersten Besichtigung damals, auch wohnlich durch etwas Farbe und kleine Dinge, die ebenso zur Benutzung wie zum Schmuck an den Wänden hingen. Eine kleine Tür ging zur Toilette. Das Haus, die Wohnung schon von der besseren Sorte, das ersah man auch daraus, dass es eine Innentoilette gab.
Annette schaute auf die kalten Platten, die Jana auf dem Küchentisch abgestellt hatte. Für wen um Himmels willen soll das alles sein?, fragte sie.
Man weiß ja nie, sagte Jana. Ich hab´s nicht gern, wenn man beim Essen spart.
Aber für drei Personen!
Wenn was übrig bleib, esse ich davon. Und den Rest schmeiß ich weg. Was soll´s? Jana machte eine ihrer großen Wegwerfgesten. Das konnte sie gut mit ihren langen Armen und Händen. Außerdem, wenn´s erstmal da steht, wird´s auch gegessen. Willst du dir ansehen, was ich gekriegt habe?
Ja.
Nach der Küche begann der andere Teil der Wohnung, durch eine Tür abgetrennt. Ein kleiner Flur dahinter, eine Kammer rechts, die Tür geradeaus führte in ein nicht allzu großes, quadratisches, aber helles Zimmer. Eine Vitrine und ein Büfett aus den Fünfzigerjahren, das Furnier gelblich gemasert, stammten von Janas Vater, dem Dirigenten eines bekannten Orchesters. Jana verehrte ihn. Von ihm hatte sie ihrer Aussage nach eine gewisse musikalische Begabung. Auch im Äußeren war sie ihm ähnlich, im Gesichtsschnitt wie in der Figur. Annette hatte den Vater kennengelernt, auch dessen Frau. Sie kannte auch Janas Mutter und deren drei Schwestern. Das hatte sich im Laufe der Jahre so ergeben.
Jana zeigte auf dies und das. Nicht zu übersehen ein Strauß Rosen, den sie von ihren Kollegen bekommen hatte. Helmut hat mir natürlich nichts geschenkt, sagte sie. Wie üblich. Dass er mich heute früh angerufen hat, war schon ein Wunder
Naja, dein Helmut
Nicht mein Helmut.
Also nicht dein Helmut. In den entscheidenden Augenblicken versagt er. Aber das sind wir ja gewohnt. Geburtstag und Weihnachten könnten wir glatt abschaffen. Jetzt sprach sie nicht nur für Jana, sondern auch für sich. Doch Jana, die normalerweise in das Klagelied voll eingestimmt hätte, hörte kaum zu. Sie war unruhig und abgelenkt, wie Annette das von der Freundin nicht kannte.
Ich muss noch in die Küche, sagte sie.
War ich zu früh?
Nein, das nicht. Aber ich bin später gekommen … ER sitzt unten.
Ja, wieso denn das?
Er hat mich vor dem Betrieb abgepasst und ist mit mir bis hierher. Jetzt sitzt er in der Kneipe und lässt sich wahrscheinlich volllaufen. Du weißt ja, er trinkt ganz schön. Er hat gesagt. Er gibt mir ne halbe Stunde, wenn ich nicht runterkomme, dann …
Ja, was dann?
Hat er nicht gesagt. Aber ich weiß, dann ist es aus. Bevor er überhaupt angefangen hat. Jana lachte bitter.
Und dass du mit uns verabredet bist, beeindruckt ihn nicht?
Ich hab ihm hundertmal gesagt, dass ich meine Freundinnen eingeladen habe. Aber er sagt nur, das mache ihm doch nichts aus. Er will euch gern kennenlernen. Meinen Hintergrund sozusagen.
Prachtvoll. Wir als Studienobjekte. Ist der Mensch noch zu retten.
Ich wusste, dass es so kommt, jammerte Jana. Er hat schon immer doof gefragt wegen des Tierkreiszeichens und so. Naja, dann hat er das Datum rausgekriegt. Ich ahnte, dass er was vorhat.
Aber wenn du das wusstest, warum hast du uns eingeladen?
Ja, und dann wäre er doch nicht gekommen. Und ich wäre zu meinem Geburtstag ganz allein gewesen. Verstehst du?
Ja. So etwas verstand Annette immer. Und du hast ihm gesagt, dass du jeden Geburtstag mit uns feierst. Dass das schon eine Tradition ist.
So genau nicht. Und schließlich muss er noch an Helmut glauben. Ich hab doch gesagt, dass ich mit ihm zusammenlebe. Nur eben heute sei er auf Dienstreise. Er soll nicht denken, dass ich auf ihn angewiesen bin. Und alleinstehend. Was macht das für einen Eindruck auf so einen Mann.
Oh Gott, hast du das nötig?
Offensichtlich. Und? Soll ich ihn nun wegschicken?
Natürlich nicht. Liebe geht vor. Das haben wir ja so ausgemacht.
Aber was wird Silvie sagen?
Ich erklär ihr das. Silvie ist ganz bestimmt einverstanden. Schon war Annette bereit, Janas Glück zu verteidigen, war es in ihren Augen auch noch so fragwürdig.
Er ist so empfindlich. Stur und empfindlich. Wenn ich ihn wegschickte, der käme nicht wieder. Garantier ich dir.
Nee, nee. Du hast ja wirklich einen Grund. Ist schon in Ordnung.
Die beiden gingen in die Küche. Du, ich sag dir gleich, schön sieht er nicht aus. Jana, wurde ganz aufgeregt. Er ist auch eher kleiner als ich. Und Bart hat er. Ich weiß nicht, ob du Bart magst.
Hauptsache, du magst Bart.
Ich ja auch nicht. Aber bei ihm ist es was anderes. Er ist ne Ausnahme. Du hast doch selbst gesagt, ich soll nicht nur nach Größe und Aussehen gehen.
Nun war es doch richtig, dass du so viel eingekauft hast!
Ja, das heißt, er isst wenig. Er hat gesagt, er kommt auch nicht wegen des Essens her. Und hör mal, du sagst, du bist verheiratet. Alles muss ganz normal sein. Wenn schon ich nicht verheiratet bin.
Annette lachte. Und habe ich auch Kinder?
Ach, braucht nicht zu sein. Silvie hat ja einen Sohn. Wenigstens ist Silvie verheiratet. Versteh mich nicht falsch. Er beurteilt mich vielleicht auch nach meinen Freundinnen. Da soll er nicht denken, wir haben keinen abbekommen. Und du warst ja auch schon mal verheiratet.
Daran musst du mich ab und zu erinnern. Es war so was von einem Irrtum.
Du wirst ihm gefallen. Jaja, du wirst ihm gefallen, sagte Jana, die sich eine Meinung gebildet hatte, dass Annette so ziemlich allen Männern gefiel. Du bist bestimmt sein Typ. Naturblond, etwas lockig und zierlich und eben … weiblich. Jana war auf eine Art hoffnungslos betrübt, dass es die Freundin rührte. In ihrer Verzweiflung war sie so kindlich.
Silvie, sagte Jana, als es klingelte.
Verlass dich auf mich, ich bringe es ihr bei.
Silvie und Jana unterhielten sich im langen, abgeschlossenen Flur. Dann kamen sie in die Küche. Jana hielt ein großes Alpenveilchen in einem weißen Übertopf in den Armen, Silvies Geschenk.
Tag Silvie
Tag Annette.
Die beiden Freundinnen lächelten sich zu, so herzlich sie nur konnten. Sie sahen sich nur einmal im Jahr. Zu Janas Geburtstag. Jana hatte ein-, zweimal mit den Freundinnen getrennt gefeiert. Dann war sie es leid. Die beiden kannten sich noch dazu vom alten Betrieb. Die Freundschaft zu Silvie war gewachsen, seitdem Annette gekündigt hatte. Seitdem lud sie beide Freundinnen zusammen ein. Selbstverständlich, nachdem sie Annettes Einverständnis eingeholt hatte. Silvie war es wahrscheinlich sowieso recht gewesen. Was Jana auch einfiel, Silvie war alles recht, solange es sich mit der Existenz von Mann und Kind vereinbaren ließ. Als Silvie vor einigen Jahren geheiratet hatte, sehr spät und unverhofft schwanger geworden war, hatte Jana darauf bestanden, dass sie die Freundschaft dennoch nicht vernachlässigte. Inzwischen war es durchaus üblich, dass sich Jana ab und zu bei Silvie und ihrer Familie am Wochenende einlud oder einladen ließ. Annette sah es bei einer geringen Eifersucht doch gern. Obwohl Jana nicht mehr die junge Kollegin von einst war, nur eine jüngere Freundin, fühlte sie sich doch noch für ihr Wohl verantwortlich.
Annette schaute Silvie prüfend an, ob sie sich in dem einen Jahr irgendwie verändert hätte. Silvie war groß, ebenso groß wie Jana, 1.75 vielleicht, ebenso schlank, Da Silvie ihre Größe vielleicht früher geniert hatte oder noch genierte, hatte sie es sich angewöhnt, sich etwas nach vorn zu beugen. Sie bewegte sich verschämt, als wolle sie sagen, ihre Körpergröße sei nur ein Missverständnis, eigentlich sei sie ein kleiner, unbedeutender Mensch. Vielleicht verunsicherte sie auch nur Annettes Gegenwart.
Was du für starke, schöne Haare hast, sagte Annette. Wir Blonden sind meist etwas dürftiger dran. Du solltest sie immer aufgesteckt tragen. Der Zopf sieht fantastisch aus!
Meinst du?, sagte Silvie, und sie hatte das zaghafte Lächeln, das Annette von ihr kannte. Ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den kleinen, schräg liegenden Augen bekam noch mehr einen asiatischen Zug. Ich wollte sie mir schon abschneiden lassen. Der Ärger jeden Morgen. Sie spreizte die gekrümmten Finger ein wenig vor ihrem Gesicht, um auszudrücken, was sie jeden Morgen auszuhalten hatte.
Trotzdem, selbst wenn du für deinen Dieter nicht schön sein willst, dann tu es für dich selbst. Annette wusste, dass Silvie dazu neigte, sich aufzugeben. Wenn Jana schon nicht vor Tatendrang strotzte und Annette mit ihrer Unentschiedenheit manchmal zur Verzweiflung brachte, war sie gegen Silvie noch ein Energiebündel.
Jaja, ihr beiden, sagte Jana mit leichter Ungeduld. Und Annette erklärte Silvie die Lage, umso beredter, weil die Sache ja schon entschieden war. Silvie im Falle einer gegenteiligen Meinung überstimmt. Und Silvie ließ sich sowieso schnell breitschlagen.
Silvie lachte auch nur, was alles bedeuten konnte.
Wer weiß, sagte Jana. Vielleicht wird’s dieses Mal gerade interessant und wir werden uns an diesen Geburtstag erinnern.
Auch Silvie war vielleicht so, dass sie einen weniger denkwürdigen Geburtstag vorziehen werde.
Jana ging, um den Mann zu holen, an den sie nun einmal ihr Herz gehängt hatte.
Silvie lachte hin und wieder und schüttelte den Kopf.
Sie wäre den ganzen Abend unglücklich, sagte Jana. Es hat keinen Sinn. Er hat es verdorben. Also sehen wir, was zu retten ist. Hier die Platten, was das gekostet hat. Was sie sich für eine Mühe gemacht hat. Es ist nicht recht von ihm. Nein, wie kann er bloß! Verstehe ich nicht. Würde ich nie! Macht man einfach nicht. Nein. Man muss doch respektieren. Es ist einfach nicht recht von ihm. Annette hatte ziemlich klare Vorstellungen von dem, wo Grenzen waren. Und hier war eine überschritten.
Tja, sagte Silvie bloß mit ihrer leisen, etwas hohen Stimme und zuckte ein paarmal die Schultern.
Wenigstens lernen wir den Mann ihrer Träume kennen, versuchte Annette zu besänftigen.
Wieder lachte Silvie.
Sie gingen in die Stube, und Annette erklärte Silvie, was sie von wem bekommen hatte. Nicht die geringste Kleinigkeit wurde ausgelassen. Sie machte es genauso, wie es Jana getan hätte. Und Silvie interessierte es auch. Da Jana auf sich warten ließ, holte Silvie die Cognac-Gläser mit dem Cognac aus dem Schrank. Jana mochte es, wenn man sich bei ihr zu Hause fühlte und sich auch mal selbst bediente, und das wussten die Freundinnen. Sie begannen die Geburtstagsfeier wie in jedem Jahr. Indem sie sich einmal zuprosteten.
Obwohl sich die beiden nur einmal im Jahr für ein paar Stunden sahen, gelang es Annette, den Gesprächsfaden zu Silvie aufzunehmen. Dass Silvie kaum etwas sagte, nur ihr kleines, halb verwundertes, halb belustigtes Chinesenlächeln hatte, störte Annette nicht. Seitdem Jana sich entschlossen hatte, mit beiden Freundinnen zu feiern. fühlte sich Annette für die Unterhaltung der Freundinnen zuständig, kam vom Hundertsten ins Tausendste. Weißt du, was mein eigentliches Lebensgefühl ist? Ich bin nur müde. Früh, wenn ich aufstehe, denke ich, es ist mitten in der Nacht. Dann taumle ich in den Vormittag. Mittags halte ich mich kaum aufrecht. Und wenn ich abends nach Hause komme, könnte ich mich gleich hinlegen. Vielleicht bin ich nur eine Stunde am Tag richtig wach. Geht dir das auch so?
Na und ob!, sagte Silvie. Nach der Arbeit bin ich fix und alle. Dabei habe ich´s schon gut. Dieter geht einkaufen. Aber trotzdem der ganze Haushalt. Und wenn ich mal ausschlafen könnte, dann kommt mein kleiner Sohn. Naja, lange schlafen kann ich sowieso nicht.
Nee, ich auch nicht. Wenn man doch mal bis zehn schlafen könnte. Aber das ist das Idiotische, ob ich muss oder nicht, ich wache früh um sechs auf.
Das Einzige ist der Mittagschlaf am Wochenende, sagte Silvie. Aber danach kommt man gar nicht recht in Gang. Ich denke immer, mir ist alles zu viel. Man rennt und tut und macht. Aber mehr wie `ne Maschine. Silvie lachte wieder, legte die Hände ineinander und versteckte hinter ihnen das halbe Gesicht.
Dabei bin ich nicht mal besonders belastet, kein Kind, kein Kacks, wie die Büttner immer sagte. Anders als du. Übrigens, dass du Bescheid weißt: Ich bin verheiratet und arbeite noch bei euch! Jana wird mich nachher als Annette Richter vorstellen.
Silvie lachte, dieses Mal nicht aus Verlegenheit. Jaja, als Richter hast du bei uns angefangen.
Solange arbeitest du schon dort?
Was denkst du, ich war schon da, als du kamst!
Glaub ich nicht.
Ja.
Sie überprüften die Daten, und Silvie hatte recht.
Richter, der Name ging doch.
Aber der Mann nicht. Mann weg. Name weg. Nun bin ich sozusagen wieder jungfräulich geworden. Annette grinste. Als ich nach der Scheidung wieder meinen Mädchennamen angenommen habe, sagte die Büttner, dann aus Daffke, immer Fräulein zu mir. Hat ihr Spaß gemacht. Na, die Büttner eben. War schon `ne Type.
Wir hatten nichts mit ihr zu tun.
Sekretärin des Redaktionssekretärs. Ne Betriebsnudel. Und neugierig. Wenn jemand `ne Abtreibung gemacht hat oder `ne Schönheitsoperation wie die Rothaarige, im Nu war´s rum. Die kannte die Schlüssel bei den Krankenscheinen. Die kamen bei ihr an. Naja, und da gab´s für sie keine Geheimnisse mehr und für den Großraum auch nicht.
Die … wie hieß sie noch, diese Rothaarige, ist übrigens tot, das weißt du.
Von Jana. Nguyen hieß sie. Der häufigste Name bei den Vietnamesen, glaub ich. Sie hatte einen Vietnamesen geheiratet. Dabei war sie so ne große Frau. Immer muss ich dran denken, wie sie gestorben ist. Tage hat sie gelegen ohne Hilfe. Die Tochter kam nicht so oft. Ein hübsches ganz schwarzhaariges Mädchen. Die Rothaarige ja so ein Vamptyp mit großem Busen, kaum Hüften, lange Beine, trug meistens so einem leichten Einteiler, der Stoff der Haut eines Leoparden nachgebildet. Ich glaube, der Betrieb hat dann nachgeforscht. Nun waren sie wieder beim Thema: die alten Zeiten, die sie eigentlich nicht gemeinsam erlebt hatten. Wenn Annette Silvie damals begegnet war, erschien die ihr hochmütig. Sie hatte so einen abweisenden Gesichtsausdruck oder eben gar keinen. Aber sie war ja froh für Jana gewesen, dass sie in Silvie jemanden fand, mit dem sie nach Annettes Weggang zur Betriebskantine außerhalb Essen gehen konnte. Sie beide hatten die Mittagspause häufiger zu einem Ausflug gemacht, waren noch auf den Friedhof gegangen. Da sie zu zweit waren, sagte die Redaktionsleiterin nichts. Inzwischen hatte auch Jana den Betrieb gewechselt. Silvie die einzige Informationsquelle, die sich aber als sehr mager erwies. Nach ihren Aussagen, war alles so geblieben, wie es war.
Und dann stand ER im Zimmer. Er war genauso, wie Jana gesagt hatte. Ein Mann, der keinesfalls sofort auf Frauen Eindruck machte. Sportlich, fast bullig. Etwas Starrsinniges lag in seinem Blick. Falls er getrunken hatte, so war es nicht die Starrsinnigkeit eines Betrunkenen. Er war einer, so vermutete Annette, der immer nur einen einzigen Weg sah, und den ging er auch. Niemand brachte ihn davon ab. Das war seine Verquertheit wie seine Stärke. Er gefiel Annette.
Jana stellte ihre Freundinnen vor. Wie er Annette und Silvie ansah, wusste sie, er wollte alles über sie rauskriegen, dazu war er gekommen. Der Gedanke, dass drei Weiber miteinander feierten, und er konnte dabei sein und sie beobachten, hatte ihn gereizt. Als er davon erfuhr, hatte er es sich erst recht in den Kopf gesetzt, mit Jana mitzugehen.
Annette bekam eine ungeheure Wut. Ich verstehe nicht, sagte sie, dass Sie Janas Wunsch, mit uns zu feiern, nicht akzeptiert haben.
Warum sollen nicht noch andere Gäste kommen, sagte er. Wenn man den Einfall hat, zu jemanden zu gehen, warum soll man das nicht tun. Warum muss alles geplant sein. Ich bin für Spontaneität.
Wie Sie´s verstehen. Aber hier sind sie ein Eindringling. Sie nötigen uns ihre Gesellschaft auf. Vielleicht wollte ich Sie gar nicht kennenlernen. Oder zu einem späteren Zeitpunkt. Noch weiß ich nämlich nicht, ob Sie Jana gut behandeln. Eher sieht es anders aus. Und ich bin eigentlich nicht bereit, jemanden von Janas Bekannten kennenzulernen, der sie schlecht behandelt! Warum bin ich so aggressiv, dachte Annette. Es tat ihr leid, wie hilflos, ja entgeistert Jana sie ansah.
Ich kann ja gehen, sagte er. Ich gehe sofort.
Nun bleiben Sie schon, sagte Annette. Jetzt ist es sinnlos. Sie machen alles noch schlimmer.
Ich kann jederzeit gehen.
Geh nicht, bat Jana.
Ich bitte Sie, dass Sie nicht gehen, sagte Annette. Aber sie hatte sich nicht beruhigt. Als sie zu viert um den Tisch saßen und er sie eindringlich musterte, sagte sie: Sie sind ein Voyeur. Sie wollen zuschauen. Sie denken, lass man die drei Weiber. Sie sitzen vor der Bühne, denken Sie, und nun läuft das Stück ab.
Und wenn es so wäre?
Sie irren sich, Sie sitzen mit auf der Bühne. Sie können gar nicht zuschauen, weil sie mittendrin sind. Und da ist es schon wieder ein anderes Stück.
Das glaube ich nicht.
Annette irritierte nicht einmal, dass er seine Zuschauerrolle zugab. Ich kann es Ihnen versichern. Alles ist anders. Alles verändert sich dadurch, dass Sie kamen. Vielleicht werden auch Sie beobachtet. Annette wurde ruhiger. Sie hatte den Mann mit auf die Bühne gezerrt. Sie agierte zwar selbst, setzte sich aber genau wie er in die Beobachterposition ab.
Ich liebe Frauen wie Sie! Nichts ist langweiliger als eine Frau, die einem immer recht gibt. Jana muss auch immer widersprechen. Er schaute Jana von der Seite an. Es tat ihm offenbar gut, von Jana zu sprechen. Was niemand wissen durfte, diese beiden Frauen wussten es. Er war in Jana verliebt. Er hatte noch nie eine Freundin gehabt und war ungeschickt und über sich selbst verwundert. In dieser Runde konnte er ganz offen sein. So offen, wie es ihm möglich war. Noch zeigte er keinen Besitzerstolz. Er besaß Jana ja noch nicht. Und Jana, diese spröde, zuweilen launische Frau, würde immer schwer zu steuern sein. So sah das Annette jedenfalls. Sie würde ihm zuliebe allerhand machen. Aber nachgiebig war sie nicht, glaubte die Freundin wenigstens. Noch scheute er die Verantwortung. Das war es, weshalb die Geschichte ein viertel Jahr lief, ohne dass etwas entschieden war. Er hatte Angst, hatte Annette der Freundin immer wieder erklärt. Aber wie es Jana zu ihm zog und sie sich augenscheinlich willig und demütig zeigte, so zog es ihn zu Jana. Mit allen Vernunftgründen kam er nicht dagegen an.
Ich muss nicht immer widersprechen, sagte Annette. Aber was mir nicht in den Kopf geht, dass ein Mann wie Sie, wenn er hört, dass eine Verabredung getroffen ist, eine langjährige Verabredung übrigens, dass er dann nicht akzeptiert.
Jana sah Annette nun schon ängstlich an. Sonst friedfertig, war sie nun ein Kampfhahn und konnte nicht aufhören. Annette wusste nicht, fürchtete Jana im Augenblick mehr, ihre langjährige, vielleicht beste Freundin zu verlieren oder diesen Mann.
Silvie schwieg, ließ alles laufen.
Aber es ist doch Janas Geburtstag! dachte Annette. Und ihr war immer daran gelegen, Stimmung zu machen, zu unterhalten. Und nun war sie dabei, alles zu verderben.
Ich geh in `ner Stunde, sagte Gernot. Dann können sie für sich weiter feiern und ich störe nicht mehr.
Das ist glatter Blödsinn.
Kann ich rauchen?
Nein!
Komm mit in die Küche, sagte Jana. Das war das Beste, was sie tun konnte. Sie trennte die Kontrahenten.
Du bist aber, mein Gott, sagte Silvie, als Jana und Gernot gegangen waren.
Ich weiß auch nicht. Ich kenn mich selbst nicht. Seit meiner Studienzeit bin ich nicht mehr so gewesen. Da war ich schon ziemlich frech zu Männern. Vielleicht verzeih ich ihm nicht, dass er uns in diese Lage gebracht hat. Dabei ist er gar nicht übel.
Nee, finde ich ja auch, bestätigte Silvie.
Na, sollen die beiden da draußen. Um neun gehen wir dann. Oder was meinst du?
Ja, neun, halb zehn.
So ist das nun, dachte Annette. Wieder unterhielt sie sich mit Silvie, fragte sie über ihren kleinen Sohn aus. Rajko hieß er. Silvie kam ins Erzählen. Lachte, schüttelte den Kopf über das kleine Wesen, dessen Mutter sie erstaunlicherweise war. Er hat so einen Bock, sagte sie. Trampelt mit den Füßen, schmeißt sich auch mal auf den Boden. Ich steh da und bin machtlos. Dann muss Dieter her. Er hat mehr Geduld. Ich bin immer gleich außer mir und weiß mir gar nicht zu helfen. Den Bock hat er übrigens von mir.
Von dir?
Ja, ich war früher genauso. Es war ganz schlimm, haben meine Eltern gesagt.
Aber jetzt bist du doch überhaupt nicht stur.
Ich weiß ja auch nicht. Silvie zuckte mit den Schultern und lachte.
Annette war froh, dass sie sich Silvie zuwenden konnte. Denn nachher, wenn Gernot käme, würde sie wieder verstummen.
Nach einer ganzen Weile tauchten Jana und Gernot auf. Sie trugen die kalten Platten herein. Jana deckte den Tisch. Sie stießen mit Sekt an. Gernot trank nur wenige Schlucke. Er hielt sich an Bier. Auch aß er kaum etwas. Annette war schon klar, er war beleidigt und blieb nur Janas wegen. Annette hatte sich abgeregt. Friedlich sagte sie zu Gernot: Essen Sie doch, essen sie doch! Sonst bleibt Jana auf allem sitzen! Doch Gernot wollte nicht. Vielleicht hatte er zu viel getrunken. So langte Annette zu und nötigte Jana, die natürlich keinen Appetit hatte, und Silvie, die pflichtgemäß Annettes Aufforderungen nachkam. Silvie und Annette legten nun ihren Ehrgeiz darein, an ihrem guten Appetit Jana ihre Freundschaft zu beweisen.
Wir waren alle in einem Betrieb, sagte Jana, nachdem sie eine Weile schweigend gesessen hatten. Da sie nichts weiter zur Unterhaltung beisteuerte, nahm Annette die Erklärung zum Anlass, von den gemeinsamen Zeiten damals zu erzählen, erwähnte bewusst eine Menge Namen, mit denen Gernot natürlich nichts anfangen konnte, um ihn in die Außenseiterposition zu drängen. Silvie wunderte sich, dass sie sich nach Annettes Angaben beinahe täglich gesehen hatten. Annette musste sie scharf ansehen, damit die sich an ihre Abmachungen erinnerte. Als Annette immer stärker auftrug, begann Silvie zu kichern und Jana sagte: Genug jetzt!
Annette rückte immer mehr aus dem Lichtkegel der tief hängenden Lampe. Auch Jana, die helles Licht schlecht ertrug, und Silvie zogen sich zurück. Nur Gernot blieb unter dem Lichtkegel sitzen und versuchte, obwohl das Licht ihn blendete, die Gesichter der Freundinnen wahrzunehmen. Er hätte ausweichen können. Aber dann hätte er Jana nicht gesehen, die ihm gegenüber saß. So war er es jetzt, der den Blicken der anderen preisgegeben war, wurde beobachtet, und Annette hatte noch dazu die Schadenfreude, dass sie ihn mit einer falschen Identität betrog. Jana nahm es gleichmütig hin. Vielleicht oder sicher sogar hatte sie ein Interesse daran, das Annette Gernot gefiel. Und es hatte womöglich ihren Spaß daran, dass Gernot an der Nase herumgeführt wurde. Einmal verriet sich Annette beinahe. Aber die Fährte war zu schwach. Ach, dieses tumbe Wesen, rutschte ihr heraus.
Tumb, tumb, wiederholte Gernot. Das kommt aus dem Mittelhochdeutschen. Ich hab mich für Literatur aus der Zeit interessiert. Wer solche Worte verwendet.
Wahrscheinlich ist es aus der Oberschulzeit hängengeblieben. Die Frauen lächelten in sich hinein. Annette war nach Jahren in der Presse in einen Verlag gegangen, schrieb auch selbst und hatte erfolgreich ein erstes Erzählbändchen veröffentlicht.
Dass er sich für mitteldeutsche Literatur interessiert, dachte Annette. Ein zerrissener, merkwürdiger Mensch, dieser Gernot. Noch im Krieg geboren. Zehn Jahre älter als Jana. Aber doch eine andere Generation, seine Kindheit war eine Nachkriegskindheit gewesen. In der Schule hatte man noch andere Lehrpläne, die noch mehr am humanistischen Bildungsgut orientiert waren. Annette selbst hatte noch Latein gehabt, was nachher ganz aus den Lehrplänen gestrichen wurde.
Manchmal ging Gernot in die Küche, um zu rauchen. Jana sagte, sie hätte es schwer, ihn zum Bleiben zu überreden. Einmal überraschte sie ihn, wie er einen Zettel an sie schrieb. Es war Annettes Schuld. Aber sie fühlte sich nicht schuldig. Und er kam ja immer wieder. Manchmal ohne Jana. Dass er zu viel Bier getrunken hatte, nahmen die Frauen nicht wahr. Nun wurde seine Blicke zuweilen schwer und konnten sich nicht von Annette lösen.
Eine Vergeudung, sagte er und starrte auf Annettes Pullover.
Ihr war sofort klar, was er meinte. Sie reagierte ruhig. Wieso soll man auf solch einer Feier nichts Festliches tragen?
Aber ausgeschnitten. Und niemand sieht es. Niemand kann es würdigen.
Jaja, jetzt können Sie es würdigen.
Und ein wenig Schmuck trägt sie, sagte er. Es störte ihn nicht, dass Jana wieder im Zimmer war. Ein wenig Gold am Finger. Ein Kettchen um den Hals.
Ist mir gar nicht aufgefallen. Ich trag das immer. Übrigens trägt Jana auch immer Schmuck.
Ja, das trägt sie. Ich bemerkte es schon. Gernot wagte kaum, zu Jana zu sehen. Sein Verlangen war zu groß.
Annette schaute auf die Uhr. Wir werden uns jetzt aufmachen, sagte sie.
So früh? Wegen ihm?
Das macht doch nichts.
Aber er muss sowieso halb elf zu Hause sein, begehrte Jana auf. Zehn, halb elf, hat er seiner Frau gesagt. Wollt ihr mich alle drei hier sitzen lassen? Und aufgegessen habt ihr auch nicht.
Annette zögerte, aber Silvie leuchtete ein, was Jana sagte, und setzte sich wieder. Sie hatte keine Lust, den weiten Weg nach Hause schon jetzt anzutreten. Vielleicht würde ja auch noch etwas geschehen, was sie für den bisher so unglücklich verlaufenden Abend entschädigte.
Das helle Licht stört, sagte Gernot. Kannst du nicht Kerzen anzünden?
Ja, natürlich, sagte Jana.
Annette gefiel der Vorschlag nicht. Sie würde in eine Intimität hineingezogen. Aber was sollte sie widersprechen.
Wie sie eine Weile zu viert im Kerzenschein saßen, freundlich und ruhig die drei Frauen, sagte Gernot: Darf ich einen Wunsch äußern?
Äußern schon, sagte Annette scharf und wusste, dass er die Gelegenheit beim Schopf packen würde, welcher Mann würde es nicht tun. Und damit wäre seine Rechnung aufgegangen.
Aber erst müsst ihr mir versprechen, dass ihr einverstanden seid.
Auf keinen Fall, sagte Annette.
Also, was ist?, fragte Jana.
Kann ich mit euch tanzen? Erst mit … Er deutete auf Silvie, dann mit ..., er zeigte auf Annette. Und dann mit Jana.
Nein, sagte Annette.
Ja, sagte Jana.
Ja, sagte Silvie.
Was ist mit Jana los?, dachte Annette. Warum ist sie so weich, so gefügig.
Silvie tanzte mit Gernot. Beide hatten die Schuhe ausgezogen, das war Gernots Bedingung. So hatten sie eine Größe. Sie tanzten eng umschlungen. Silvie anlehnungsbedürftig, gedankenlos. Jana hatte Annette von ihren gemeinsamen Unternehmungen in der Zeit vor ihrer Ehe erzählt, wie sie sich geärgert hatte, dass Silvie so gar keine Bedenken kannte. Silvie hatte wohl einen großen Hunger nach Zärtlichkeit. Dass sie sich nur über ihr Alleinsein hinwegtröstete und nicht zu ständigem Wechsel neigte, zeigte sich, als sie Dieter kennenlernte. Der war, eben geschieden, genauso entschlossen zu heiraten wie Silvie und hatte, wie viele Männer nach der Scheidung, panische Angst vor dem Alleinsein.
Jana schaute unbeteiligt zu. Vielleicht war ihr es recht, dass ihre Freundinnen mit Gernot tanzten. Vielleicht war ihr der ganze Abend ihr ganz genau auf diese Weise recht. Vielleicht wollte sie etwas über Annette erfahren. Fast schien es ihr so. Sie waren nie gemeinsam tanzen gewesen, sodass Jana vielleicht glaubte, jetzt etwas über das Geheimnis ihrer Freundin zu erfahren. Sie hat es provoziert, dachte Annette. Sie will nicht nur wissen, wie Gernot auf mich, sie will auch wissen, wie ich auf Gernot reagiere. Doch sie wird nichts über mich erfahren. Und auch Gernot nicht.
Der verbeugte sich formvollendet vor Silvie. Sie tanzen sehr gut. Sehr anschmiegsam.
Annette weigerte sich, als er sie aufforderte. Gleich Jana, sagte sie. Aber nicht nur Gernot, sondern auch Silvie und Jana bestanden darauf, dass Annette das von den Freundinnen gegebene Versprechen einlöste. Ehe es dumm und peinlich wurde, stand Annette auf. Mir wird schon was einfallen, dachte sie.
Gernot bekam Annette gerade bei den Händen zu fassen, bei den schnellen Titeln und auch bei den langsamen auch. Gernot und Annette gerieten außer Atem.
Sehr temperamentvoll, sagte Gernot.
Annette lachte und genierte sich. Sie hatte wider Willen doch eine Vorstellung für die Freundinnen abgegeben und Gernot einen Eindruck von sich. Aber temperamentvoll war sie nicht gewesen, da irrte Gernot, eher kühl. Sie hatte Gernot nicht einmal angesehen.
Wie vorher Jana und Silvie, so schauten jetzt Silvie und Annette Jana und Gernot beim Tanzen zu. Vielleicht ist er ein ganz klein wenig größer, dachte Jana. Sicher wollte Jana ein Urteil darüber. Sie würde sich über die Mitteilung freuen. Frauen wollten, dass Männer größer als sie waren. Jana und Gernot tanzten langsame Titel, wie sich das für ein Liebespaar gehörte. Aber dann blieb Jana stehen und schimpfte. So doch nicht, sagte sie. Hörst du denn nicht. Zu ihrer musikalischen Veranlagung hatte sie sicher auch eine für Rhythmus, obwohl Jana nicht bemerkt hatte, dass Gernot aus dem Takt gekommen war. Immer wieder unterbrach Jana den Tanz und herrschte Gernot an.
Sie bleibt sich gleich, dachte Annette.
Schließlich beendete Jana den Tanz. Gernot setzte sich zu Silvie und Annette an den Tisch, als wäre nichts gewesen. Wieder beachtete er Jana kaum, unterhielt sich mit Annette. Silvie hatte gänzlich aufgehört, für ihn zu existieren, und sie litt. Aber Annette wusste dies nicht zu ändern. Warum hatten Jana und Silvie eingewilligt, mit ihm zu tanzen. Das hatte ihm die Oberhand gegeben. Es nutzte offenbar auch nichts, dass Jana ihn während des Tanzens zurechtgewiesen hatte. Weiberart, dachte er wohl. Lass sie doch. Schließlich wollte nicht nur er etwas von Jana, sondern Jana, das hatte sie ihm zu verstehen gegeben, wollte etwas von ihm.
Singen wir, sagte Gernot.
Das wird was werden, dachte Annette.
Ich bin ganz unmusikalisch, entschuldigte sich Silvie. Sie winkte mit einer kleinen Geste ab, und es fehlte nicht viel, da hätte sie zu heulen begonnen.
Ohja, singen wir, sagte Annette zu Jana. Sie war wohl etwas beschwipst.
Und was, bitte schön?
Im schönsten Wiesengrunde.
Annette und Gernot sangen. Ist das idiotisch, dachte Annette. Ich fasse es nicht. Erst prügele ich mich beinahe mit ihm, und jetzt, wo er sentimental wird, mache ich auch noch mit. Was ist bloß in mich gefahren.
Annette übertrieb, karikierte, denn sie wollte sich nicht anmerken lassen, dass sie gern sang und Volkslieder mochte. Vielleicht sangen Jana und Silvie auch eine Strophe mit, ehe sie vor Gernots Sangeslust kapitulierten. Was Gernots und Annettes Gesang erst möglich machte: Gernot sang begeistert daneben. Annette suchte ihn, auf dem rechten Pfad zu halten. Jana, die sonst keinen falschen Ton ertrug und auch Annette für unmusikalisch erklärt hatte, weil sie einmal zu einer Melodie versucht hatte, einen falschen Text zu singen, saß still da. Ihr silbern anmutender Pullover schimmerte im Kerzenlicht, auch in ihren Augen ein leichter Glanz. Und ihr Gesicht war jung wie immer, nicht das einer Vierunddreißigjährigen. In ihrem Gesicht zeigten die Jahre einfach keine Spuren.
Manchmal schlug Gernot ein Lied vor, manchmal Annette. Aber nun kamen beide nicht mehr über die erste Strophe hinaus. Warum könnt ihr keine Lieder?, war sie im Ausland gefragt worden. Es war ganz einfach: Man schämte sich der deutschen Volkslieder, weil sie sich in ihren Ohren zu Marschliedern verwandelten. Obwohl sie erst nach dem Krieg geboren wurden, hatten sie durch Filme einen Eindruck, der ihnen das Singen dieser Lieder verleidet. Ihre Grundschullehrerin allerdings hatte keine Bedenken gekannt und mit ihnen in den ersten vier Klassen viel gesungen.
Ännchen von Tharau, sagte Gernot.
Ännchen von Tharau, ein Lieblingslied, sagte Annette. Sie verstellte sich nicht mehr. Sie sang, es war ihr gleichgültig, dass Jana und Silvie zuhörten. Doch sie kannten nicht einmal die erste Strophe richtig und suchten verzweifelt nach dem Text. Und weil sie sich von dem Lied nicht trennen konnten, sangen sie die erste Strophe dann gleich dreimal hintereinander.
Warum singst du nicht?, fragte Gernot Jana.
Ich singe eben nicht, sagte Jana ungerührt.
So ist Jana, sagte Gernot. Sie hat kein Gefühl, sie ist kein bisschen romantisch.
Stimmt, sagte Annette.
Es war das erste Mal, dass sie sich genau verstanden. Jana hatte ihr von Gernots Vorwürfen erzählt, sie erkalte schnell, war schroff und verletzte. Annette hatte lachen müssen, so recht hatte Gernot. Nicht ganz recht natürlich. Das war, was zunächst an ihr auffiel. Herz und Gemüt hatte Jana auch, und manchmal konnte man es merken.
Gernot nötigte Annette noch ein Lied auf und noch eines und noch eines. Darüber wurden Jana und Silvie schwermütig. Die Stube verraucht. Schon lange ging Gernot nicht mehr in die Küche.
Genug, genug, sagte Jana.
Noch eins, bat Gernot. Noch ein einziges. Der Mond ist aufgegangen.
Das eine noch, sagte Annette. Und dieses eine Mal kannte sie den Text.
Dreißig oder fünfzig Jahre haben wir noch, um uns zu entscheiden, sagen die Wissenschaftler, teilte Annette Gernot mit. Einzelinteressen dürfen nicht mehr gelten. Es geht um die Gattung.
Ja, ich habe davon gehört. Gernot nickte bedächtig.
In welcher Zeit wir leben!
Musst du jetzt so was sagen! An diesem Abend? Jana war ungehalten.
Endzeit hat man das in der Bibel genannt.
Oder totaler Neubeginn.
Redet nicht von so was, sagte Jana wieder.
Es ist herrlich, bei euch zu sitzen, sagte Gernot. Auf diesem Stuhl. Ich werde es nicht vergessen.
Die Stühle sind schön, nicht wahr, sagte Annette. Die lederbezogenen mit dicken Ziernägeln versehenen Stühle, die Jana mit dem runden Tisch einer alten Frau billig abgekauft hatte. lobte Annette oft. Schätze sie, sagte sie zu Jana. Und die sagte: Ja, ich schätze sie. Und wenn ich einmal sterbe, vermache ich sie dir. Aber davon wollte Annette nichts wissen.
Jana wird diesen Mann bekommen, dachte Annette. Und mit ihrem leicht alkoholisch vernebelten Gehirn begriff Annette Gernot mit einem Mal. Seine Verwunderung, seine Angst. Und seine Sehnsucht, mit Jana noch einmal eine Liebe zu erleben. Seine Sehnsucht wäre vielleicht stärker als seine Angst, seine Familie zu verlieren. Er war in dem Alter, wo Männer noch einmal einen Neuanfang wagten. Aber seine Kraft lag auch in seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst. Er rauchte, trank und arbeitete bis tief in die Nacht. Ein Mensch ohne Zukunft, dachte Annette. Ein Mensch, der sich zugrunde richtet. Ich würde so einen Mann nicht haben wollen. Ich würde mich fürchten, wenn er mich haben wollte.
Ich sitze hier auch gern, sagte Annette und dachte: Wenn er von Jana Besitz ergreift, werde ich kaum noch hierher kommen.
Sie hatte Gernot immer wieder gedrängt, von sich zu erzählen. Es war Interesse, aber auch Taktik gewesen, Teil der offensiven Verteidigung. Als sie ihn jetzt dazu bat, war er bereit.
Ja, er hatte mit dreizehn Jahren Gedichte geschrieben. Ja, er stammte aus dem Norden. War mitten im Krieg in Stettin geboren, woran er natürlich keine Erinnerung mehr hatte. Nach der achten Klasse ging er wegen seiner jüngeren Brüder in die Fabrik. Dann Qualifizierungen. Fachschulstudium. Hochschulstudium. Hatte Leistungssport getrieben. Nun war er hier.
Lesen Sie?
Wenig.
Schreiben Sie noch?
Lass das, verhöre ihn nicht, sagte Jana.
Silvie hing auf ihrem Stuhl. Annette nickte ihr zu. Zeit zu gehen, sagte sie.
Ja. antwortete Silvie müde.
Gernot bestand darauf, Janas Freundinnen zur Tür zu begleiten. Er schwankte nicht. Und noch immer gab es für seinen schwer angetrunkenen Zustand kein Zeichen. Seine dichten, eher blondrötlich gelockten Haare an der Stirn etwas verklebt. Und er fuhr sich ständig durch den Backenbart. Jetzt sah sie auch, die Nase hatte eine kleine Delle. Hatte er geboxt?
Herzlichen Dank, sagte Jana und schaute auf Gernot, damit die Freundinnen mitbekamen, wofür sie sich bedankte.
Auf Wiedersehen, sagte Gernot und hing auf einmal an Annettes Hals und konnte sich nicht trennen.
Die drei Frauen lachten. Wieder wunderte sich Annette, wie geduldig Jana diese Entgleisung hinnahm. Sie war vielleicht noch ein ganz anderer Mensch als der, den sie kannte.
Bis zur S-Bahn hatten Silvie und Annette einen gemeinsamen Weg. Sicher wird er nun dableiben, sagte Silvie.
Ja. An morgen möchte ich lieber nicht denken.
Nee. Sie wussten beide, was sie meinten. Wenn man morgens mit schwerem Kopf und einem fremden Mann neben sich im Bett aufwachte. Man kann nur hoffen, dass sie´s gut übersteht.
Ja, kann man nur hoffen, sagte Annette.
Sie sagten nichts über Gernots Frau, die diese Nacht umsonst warten würde. Aber vielleicht blieb er bei gelegentlichen Sauftouren auch irgendwo lange hängen und die Frau war das gewöhnt. Sie sagten auch nichts über Helmut, mit dem Silvie früher gegangen war. Das belastete die Beziehung immer noch. Obwohl Silvie ja froh sein konnte, dass sie nicht mehr in einer Beziehung mit einem verheirateten Mann steckte.
Vor dem alten S-Bahngebäude verabschiedeten sie sich.
Ja dann, sagte Silvie und hatte wieder ihr kleines unsicheres Lächeln, mit dem sie stets „Ich weiß ja auch nicht!“ zu sagen schien. Auch sie hielt den Arm fest am Körper und streckte nur die Hand aus.
Bis nächstes Jahr!, sagte Annette und lachte. Diesmal war´s eben … anders.
Kann man wohl sagen! Auch Silvie lachte, aber es klang bekümmert.
Annette ging über die Straße und dann eine Straße längs zur Allee hinauf. Sie hatte es nicht weit zur Wohnung einer Freundin. Ich habe Jana nichts vorzuwerfen, sagte sie sich immer wieder und versuchte, sich dies einzuprägen. Sie dachte daran, dass sie alle drei ausgekostet hatten, wie es war, allein zu leben. Und wie sie bereit waren, einen hohen Preis dafür zu bezahlen, nicht mehr ganz allein zu sein. Silvie war in ihrer Ehe nun augenscheinlich zufrieden und wunderte sich immer wieder über ihren kleinen Sohn. Jana nahm es hin, dass Gernot zu viel getrunken hatte. Und Annette? Manchmal sagte Jana zu ihr: So wie du zu leben, das hielte ich nie aus. Immer auf Ihn zu warten, nie was im Voraus zu wissen …
Am Montag rief Jana an. Sie war ausgelassen, glücklich. Ich hab von Silvie gehört, ihr habt euch Sorgen gemacht. Wieso bloß?
Ach. Manchmal mache ich mir eben Sorgen.
Anette traf Silvie nie wieder. Vorbei waren die alljährlichen Treffen zu dritt.
Jana hatte den Mann fürs Leben gefunden. Fortan musste sie nicht mehr auf Jana wie auf eine Schwester achten.
1986