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Ausm Leben mittenmang
ОглавлениеI.
Der Bahnsteig menschenleer. Vogellärm aus den großen alten Bäumen des nahen Wäldchens. Ich sehe auf die Lindenalleen zu beiden Seiten der S-Bahn, bin sehr rechtzeitig auf dem Bahnsteig, denn ich muss den Anschluss zu einer Regionalbahn bekommen. Ich bin wieder einmal zur Familie meines Bruders unterwegs. Auf der Bank hinter meinem Rücken ein Pärchen. Sag doch mal was, sagt der junge Mann. Saurer Geruch dringt zu mir. Sag was, irgendwas. – Schweigen. – Sag doch was. Wenn du an mir was auszusetzen hast. Sag was! – Schweigen. Du musst doch was zu sagen haben. – Ich habe nichts zu sagen. – Aber irgendwas denkst du doch. – Nein, eigentlich nicht. – Sag was. Sag doch was. Irgendwas. – Schweigen. – Nun schweigt auch er. Zeit vergeht. Die S-Bahn Richtung Stadt kommt. Ich drehe mich nach den beiden um: Die junge Frau steht auf, geht zum Zug. Der junge Mann bleibt sitzen. So konsequent die junge Frau schwieg, so geht sie auch, sieht sich nicht einmal um. Ich stehe auf, will wissen, warum er nicht ruft, warum er sich das gefallen lässt. Zusammengesunken sitzt er da, ist eingeschlafen. Die S-Bahn fährt an. Vielleicht verwendet sie jetzt noch einen Blick? Nein. Die junge Frau fährt, starr im Profil, an ihm vorbei.
II.
Mit einem Mal schiebt sich ein alter Mann in meine Gedanken und mein Blickfeld. Sein Platz mir gegenüber auf der langen Bank der U-Bahn. Unrasiert der alte Mann, abgewetztes, glänzendes Jackett, abgewetzte Hosen. Angetrunken ist er nicht. Hat nicht das rote Trinker-Gesicht. Ist er ein Penner oder nur einer, um den sich keine Frau kümmert und der das Kümmern um sich selbst nicht gelernt hat? Auf seinem Knie hält er einen geblümten Nylon-Beutel. Weiter hat er nichts bei sich. Sein Blick stechend, dunkel. Gleich wird er den Mund öffnen und jemanden beschimpfen. Wahrscheinlich das junge Mädchen neben sich. Sein Griff löst sich. Der Beutel rutscht auf sein Knie. In einer Papierumhüllung wird eine Hyazinthe sichtbar. Abgeblüht. Die Blätter fleischig geworden. Der alte Mann sitzt, auf seinem Knie umfasst er die abgeblühte Hyazinthe. Wie ich noch immer schaue, sehe ich: Seine rechte Hand regt sich. Mit sachten Fingern geht er über die Blätter. Habe ich recht gesehen? Da sitzt ein alter Mann, vor sich eine abgeblühte Hyazinthe. Ein bisschen irrsinnig das allein schon. Da: Wieder bewegen sich seine Finger, gleiten über die Blätter, sachte, ganz sachte. Mein Blick bändigt das Lachen des jungen Mädchens.
III.
Eine sehr alte Frau legt ihre Handtasche auf den Platz neben mir. Sie geht, sich am Automaten in der Straßenbahn einen Fahrschein zu lösen. Plötzlich neben mir eine andere, auch alte Frau. Aber der Platz war belegt!, sage ich leise. Was?, sagt die alte Frau. So was gibt es nicht. Da hat sie wohl recht, denke ich, schweige. Die sehr alte Frau kommt zurück, sieht, ihr Platz ist besetzt. Das war mein Platz!, sagt die sehr alte Frau. Wo gibt es denn so was, sagt die alte Frau neben mir und hält ihr die Tasche hin, das ihr nicht gehörige Eigentum. – Ich habe meine Tasche auf den Platz gelegt, sagt die sehr alte Frau. Sie haben es doch sehen können, der Platz war besetzt. Ich will aufstehen, um den Streit ein Ende zu machen und ihr meinen Platz in der Straßenbahn anbieten. Doch meine Nachbarin ruckt nicht beiseite. Die sehr alte Frau nimmt ihre Tasche. Ich war zuerst hier. Das haben Sie sehen können. – Ich habe eine Tasche gesehen, ich habe nicht Sie gesehen. Wenn ich Sie gesehen hätte, hätte ich mich nicht hingesetzt. Ich hätte mich Ihnen wohl nicht auf den Schoß gesetzt! So was mache ich nämlich nicht, wie Sie sich vielleicht denken können, sagt meine Nachbarin. – Ich kann mir gar nichts denken, als dass sie eine alte Schachtel sind, die auf meinem Platz sitzt. Ich musste meine Fahrkarte lösen. Ich kann ja wohl nicht gleichzeitig meine Fahrkarte lösen und auf meinem Platz sitzen bleiben. – Sie sind die alte Schachtel!, sagt die alte Frau neben mir. Hören Sie, hören Sie!, mischen sich jetzt Fahrgäste ein. Überall steht man auf, um der sehr alten Frau einen Platz anzubieten. Aber die will ihren Platz und keinen sonst. Sie sind die alte Schachtel und sitzen auf meinem Platz! Gehen Sie da weg. Sehen Sie doch, freundliche Leute bieten Ihnen genug freie Plätze an. – Setzen Sie sich doch. Ich habe meinen Platz!, sagt meine Nachbarin. – Sie haben meinen Platz! Sie blöde alte ... Henne!, sagt die sehr alte Frau, die steht. – Sie sind ja nicht ganz richtig im Kopf. Ich sitze hier. Und setzen Sie sich, wo sie wollen oder setzen Sie sich nicht, sagt meine Nachbarin. – Sie sind nicht ganz richtig im Kopf. Und außerdem bin ich die Ältere, ich habe Anspruch. – Wieso sind Sie die Ältere? Ich bin die Ältere, sagt die alte Frau, meine Nachbarin. – So, wie alt sind Sie denn? sagt die sehr alte Frau, die steht. – Achtundachtzig! schreit meine Nachbarin ihr Alter uns allen in die Ohren. Und ich bin neunundachtzig, schreit triumphierend die alte Frau, die steht. Wollen Sie meinen Personalausweis sehen! Ich, ich bin die Ältere. Die sehr alte Frau will schon ihre Tasche öffnen. Doch meine Nachbarin hat keine Lust auf Beweise. Das ist auch ganz egal! , sagt sie. Das ist überhaupt nicht egal. Überhaupt nicht. Die sehr alte Frau, die steht, schließt ihre Tasche. Schon nimmt sie Schwung, die Tasche saust los, wird von einem aufmerksamen Fahrgast aufgefangen. Setzen Sie sich doch, bitte!, sagt er. Sie will mich schlagen, schreit meine Nachbarin!, nimmt nun ihre Tasche und schleudert sie durch die Luft. Die sehr alte Frau weicht gerade noch aus. Die Straßenbahn hält. Jemand hat den Fahrer benachrichtigt. Die Amtsperson schreitet den Gang entlang auf die beiden Alten zu. Die sind plötzlich still. Wenn Sie nicht Ruhe geben, setze ich Sie an der nächsten Station raus, sagt er. Es war mein Platz!, sagt die Neunundachtzigjährige. Ich war zuerst da. – Plätze besetzen gibt es nicht, sagt die Achtundachtzigjährige. – Meine Damen! Sie können sich von der nächsten Station an draußen weiter unterhalten. Setzen Sie sich!, sagt er zu der, die steht. Die setzt sich auf einen der freien Plätze. Und ich denke: wunderbar, welch eine Energie. Würde ich so alt, dann will ich mich auch um meinen Platz noch schlagen.
IV.
Ein Beerdigungswagen fährt an mir vorbei. Die Straßenbahn ist angefahren. Die Ampel rot. Die Straßenbahn stoppt. Das Leben hält einen Augenblick inne.
V.
Ich habe in der neuen Arztpraxis meiner alten Dr. Schiffner Platz genommen und richte mich sozusagen häuslich ein.
Ja, Mausi! Mach das Mausi. Ach weißt du, das musst du schon selbst entscheiden. Gut, wie du meinst … Frau Fröhlich hat gerade einen Ansturm von Patienten bewältigt und telefoniert. Die Patienten sitzen hinter Glas im kleinen Warteraum. Ich zähle nicht, wie viele es sind. Eineinhalb Stunden Warten habe ich eingerechnet. Noch habe ich Zeit. Frau Doktor nimmt sich erfreulich viel Zeit, also muss man auch selbst welche mitbringen. An das noble Etablissement mit Tresen für Frau Fröhlich habe ich mich gewöhnt. Frau Doktor Schiffner auch. Früher wohnte sie in ihren Dienstzeiten in der Poliklinik in der Christburger, einem riesigen roten Klinkerbau mit breiten Fluren. Sie war die vorletzte Ärztin, die ihren Platz räumte, unfreiwillig. Die ehemalige Mädchenschule wurde an irgendwen „rückübertragen“ oder lief unter „ungeklärte Eigentumsverhältnisse“. Noch heute ist mir ihre neue Bestimmung nicht bekannt. Vorbei also die zentrale Poliklinik Christburger.
Frau Doktor kam gerade noch im Erdgeschoss schräg gegenüber in ein paar kleinen Räumen unter. Dann musste sie auch dort raus. Und nun wohnt sie piekfein, meine Frau Doktor Schiffner, die überhaupt nicht piekfein ist, eine Doktorn für die Armen, und ein Ohr hat sie für sie. Trotz ihres Alters und der angeschlagenen Hüfte steigt sie vier Treppen zu denen, die mit offenen Beinen liegen und nicht mehr runterkönnen. Und die, die hier sitzen, das sind die, die schon immer hier im Stadtbezirk gewohnt haben. Wir können von unserer Doktorn nicht lassen. Manche sind inzwischen vom Prenzlauer Berg weggezogen wie ich. Und ein paar Junge sieht man auch, mit eben diesen Frisuren und zerrissenen Hosen, wie die Jugend sie heute trägt. Aber im Ganzen: Alles wie immer. Wir lassen das Piekfeine nicht so furchtbar dicht an uns heran.
VI.
Ich sitze in der S-Bahn. Blumenduft umweht meine Nase. Ich sehe aus meinem Buch auf und eine junge Frau mir gegenüber, fast naturblond, sehr hübsch. Einen Biedermeier-Blumenstrauß hält sie, aus dem heraus es duftet. Oder die dunkelroten Nelken sind es, die über ihrer Tasche liegen. Oder der andere Strauß neben ihr duftet. Oder alle zusammen. Aber keine Spur einer Freude in ihrem Gesicht. Gar keine. Zu einem Geburtstag passt ein solch ernster Ausdruck nicht. Es sei denn, man ist dreißig geworden, das wäre ein Grund zum Nachdenken. Doch dreißig ist die junge Frau keinesfalls geworden, sechsundzwanzig, vielleicht auch achtundzwanzig. Oder hat man sie entlassen und die Kollegen gaben ihr zum Abschied teilnahmsvoll Blumen mit. Oder sie kommt von einem Trauerfall, bei dem überflüssige Blumen anfielen. Oder dass Trauernde überhaupt Blumen mitbekommen. Wäre ja sinnvoller, als sie alle auf das Grab zu legen. Doch klar die Augen der jungen, ganz gewiss noch nicht dreißigjährigen jungen Frau, kein bisschen gerötet. Was ist mit ihr.
Neulich habe ich mich entschieden, im Fragen mutiger zu werden. Ich bin eine Frau von bald 54, die kann sich was erlauben. Ich forciere meine altersbedingte Schamlosigkeit. Wenn ich mich auch entschieden habe, mir niemals zuzugestehen, meinen Körper zu entblößen und geradezu triumphierend anderen alten Frauen eventuelle Wunden, Narben aufzuzeigen, was manche aus altersbedingter Schamlosigkeit tun. Ein Glas Wein habe ich getrunken, mit meinem Freund gut gegessen. Als er meinen Mantel in der Garderobe holte, konnte ich dem hübschen Kellner Robert sagen: Seien Sie doch nicht mehr bös. Worauf der wirklich nicht mehr bös war und lachte wieder so charmant wie die Male zuvor, als wir in dem Restaurant speisten. Robert mir also wieder gut, obwohl ich seiner mir unverständlichen Werbung eine Abfuhr erteilte. Aber ein Glas Wein hält nicht ewig. Ich werde die S-Bahn nicht mit ungewissen Fragen verlassen! Ihre Blumen duften so, sage ich. War es ein freudiger Anlass? – Ja, sagt sie, ihre Miene hellt sich nicht auf, nicht der Abglanz einer schönen Feier oder so etwas in ihrem Gesicht. – Aber Sie sind so ernst?, sage ich. – Der Tag war lang, antwortet sie. Ich steige aus, gehe hinaus in die Nacht, hinter mir die junge Frau. Der Tag war lang, denke ich. Aha, sie ist einfach nur müde. Ich denke mir Geschichten aus. Aber das Leben ist manchmal noch verblüffender, wie ich finde. Und dann schreibe ich diese Geschichten einfach nach.
Anlass zur Freude habe ich wie kaum ein anderer Mensch. Fast jede Stunde findet sich etwas. Auf jeden Fall die zweite der fünf Lesebrillen, die ich bei Rossmann für zwei Euro fünfzig gekauft habe. Oder das Ledertäschchen für Kleingeld in meiner Schreibtischlade. (Einer allerdings so spät, dass das darin befindliche Geld noch aus der DDR stammte, also nichts mehr wert war, sondern nur seine Hülle. Aber immerhin!) Selten finde ich in der gleichen Stunde meine dicke silberne Kette. Aber drei Stunden oder einen Tag später an dem Ort, an dem ich sie schon drei Mal suchte. Die Dinge verstecken sich vor mir.
Und manchmal, manchmal taucht etwas schmerzlich Vermisstes, Unersetzbares, für immer verloren Geglaubtes wieder auf. Immer habe ich nicht Glück. Ich habe einen kleinen Kobold, der manche Sachen auffrisst, Aber in der Regel macht mir das Leben immer neue Geschenke.
2002