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Großer Aquamarin

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Sie kam mit dem Zug aus Berlin eine halbe Stunde früher an als die Cousine, die eine Regionalbahn zu ihrem Arbeitsort außerhalb von Münster benutzte. Es war wohl eine ganz Strecke, sodass die ihr Auto lieber auf dem kleinen bewachten Parkplatz hinter dem Bahnhof stehen ließ und die Bahn nahm. Wie manch andere Münsteraner auch. Während der Zugfahrt konnte sich die Cousine vielleicht noch ein wenig ausruhen vor ihrem anstrengenden Arbeitstag. Als Treffpunkt ausgemacht war der Parkplatz. Aber sie würde die Cousine wie letztens direkt im Bahnhof abholen, als sei nicht sie der Gast, sondern eine von hier. Es war so eine kleine Freude dabei.

Sie schlenderte durch den Bahnhof, ging auch in ein Buchgeschäft, was sie sonst auf Bahnhöfen immer vermieden hatte. Die Luft stand, die Hitze, die vielen Menschen bedrängten sie und das für Bahnhöfe übliche Angebot an Büchern. Ihr wurde heiß. Sie verließ das Geschäft schnell wieder. Die Ladenstraße hatte sie noch in Erinnerung. Sie setzte sich auf einen der Plastikstühle vor einem Café im Bahnhof, schaute alle zwei Minuten auf die Uhr. Als Ingas Zug eintraf, stand sie pünktlich unten am Bahnsteig.

Inga eine der Ersten, die die Treppe herunterkamen. Sie trug eine sehr dunkle Brille. Erst ihr Lächeln machte Annette ganz sicher, die Cousine war es. Ihr strenges, figurbetontes Kleid ging bis eine Handbreit über die Knie, sodass man auf Ingas Beine schauen musste, das einzige, was sie trotz ihrer strengen, stets engen klassischen Röcke, Kleider - von Designern entworfen - von sich preisgab. Die Beine ohne Fehl und Tadel wie die Figur, es war fast zu selbst-verständlich. Fleischfarben glänzend die Strümpfe. Ich werde mir auch solche Strümpfe kaufen, dachte Annette. Je länger die Cousine lächelte, umso weniger fiel die Brille ins Gewicht. Jünger als im Oktober vergangenen Jahres sah die Cousine aus, frischer. Damals hatte Inga sie ein wenig müde, fast unwillig angeschaut, als Annette sie am Abgang des Bahnsteigs erwartete. Annette hatte damals die Cousine mit ihrem früheren Auftauchen im Bahnhof überraschen wollen, es der Cousine aber nicht übel genommen, dass sie sich kein Lächeln abzwingen konnte. Sie hatte an ihre Schwester gedacht, die wegen ihrer spröden Art oft mit Inga verglichen wurde. Auch Annettes Schwester konnte sich nur langsam auf Besuche einstellen. Zudem war Annette die Fahrt damals bezahlt worden, da sie eine Tagung in der Nähe hatte, sodass es ihr nicht so viel ausgemacht hätte, falls sie Inga doch nicht willkommen gewesen wäre.

Hallo! sagte Inga, reichte Annette die Hand.

Hast du mich gleich gesehen?, fragte Annette.

Ich wusste, dass du hier wartest, sagte Inga gleichmütig. Du kanntest dich ja vom letzten Mal aus. Wir gehen in die Stadt! Sie schaute auf Annettes Tasche, entschied, dass sie die zunächst zum Auto auf dem Parkplatz bringen würden. Sie gingen den langen Tunnel bis zu Ende. Inga lief schnell. Man hörte das Hallen ihrer Absatzschuhe. Annette lief schnell, wenn auch lautlos, da sie Sandalen trug. Fühlte sie sich gut, musste sie schnell laufen, dieselben harten, schnellen Schritte wie Inga. Auch sonst gab es einige Ähnlichkeit. Beide blond. Inga trug halblanges, ein wenig gewelltes Haar, hatte helle Strähnen zwischen dunkleren. Annettes Haare lockten sich von selbst etwas. Sie war um weniges kleiner als die Cousine, nicht so drahtig. Beide helle Augen, die von Inga gingen vom Grün ins Gelb. Ingas Vater und Annettes Mutter Bruder und Schwester. Die beiden Geschwister waren von lächerlicher Ähnlichkeit. Ein Weniges an äußeren Besonderheiten war noch in der nächsten Generation zu erkennen.

Inga schloss den Kofferraum ihres blauschwarzen Mercedes auf, die Farbe ihres Wagens fast identisch mit der ihres Kleides. Annette legte ihre Tasche ab und ihre Jacke. In Berlin war es kühl gewesen, fast schon kalt, und es hatte geregnet. Nach der Wettervorhersage gab es eine Trennung zwischen dem Nordosten und dem übrigen Teil des Landes. An den Anblick der vergrößerten Landkarte hatte sich Annette mittlerweile gewöhnt. Die Voraussage schien zu stimmen. Während der Fahrt hatte sich der Himmel immer mehr aufgehellt. Als sie jetzt aus dem Bahnhofsgebäude traten, schien die Sonne.

Wir kaufen ein, sagte Inga, und dann gehen wir zum Drostenhof und trinken einen Eiskaffee. Kennst du den Drostenhof?

Bei ihrem ersten Besuch, es war vielleicht ein reichliches Jahr nach dem Fall der Mauer gewesen, hatten Inga und ihr Mann Annette die Umgebung gezeigt, hatten mehrere Wasserschlösser gesehen, von denen es unzählige geben sollte in diesem fruchtbaren, flachen Land. Vielleicht hatte Annette bei einer Fahrt in die Stadt auch den Drostenhof gesehen.

Ein Schlaun-Bau, sagte Inga. Das heißt, ich bin mir nicht sicher. Ist für Schlaun vielleicht zu verspielt. Sie erklärte, dass der Architekt Schlaun alle Barock-Bauten in Münster errichtet hätte. Er ist für Münster der Architekt wie für euch Schinkel, sagte sie. Aber der war wohl dann später.

Ja, sagte Annette.

Klassizismus?

Ja. Annette fielen verschiedenartige Bauten ein. Historismus wohl auch.

Inga kaufte in einem Geschäft Laugenbrötchen.

Brot!, erinnerte Annette, da Inga vorher davon gesprochen hatte.

Ja richtig, sagte Inga, wollte ein bestimmtes unter den über Dutzend Brotsorten, das es nicht gab, nahm ein helleres. Der Preis für das halbe Brot und die Brötchen hoch. Wieder einmal erschrak Annette, obwohl sie ja inzwischen wusste, dass man in Münster - und in diesen Läden besonders - solche Preise nahm. Auf der anderen Seite des Geschäfts Wurstwaren. Du kannst auswählen!, sagte Inga.

Annette aß kaum noch Wurst, seitdem sie die ersten Westprodukte, in Folie eingeschweißt, nach der Wende in Kaufhallen angeboten wurden, hauchdünn geschnitten, salzig, geschmacklos, gegessen hatte. Sie sagte immer noch Kaufhalle. Überlegte, wie man jetzt dazu sagte. Supermarkt, fiel ihr schließlich ein. Sülze schien ihr ein Ausweg. Dann sah sie eine französische Pastete. Eine paté also!, sagte Inga, der eine Lamm-Salami ins Auge stach. Annette stimmte zu, fühlte sich in Zeiten zurückversetzt, als sie noch die Cousine aus dem Osten war. Aus Ostberlin. Jetzt wurde Berlin schon mehr als eine Stadt gesehen. Da hatte sie bei Einkäufen auch staunend und ängstlich über Angebot und Preise neben Inga gestanden. Annette kam wohl mit ihrem Geld aus. Aber nur deshalb, weil sie in den Supermarkt ging. Alles andere schien ihr in ihrer Lage nicht recht. Lieber kaufte sie sich Kleidung mittlerer Preislage. Neben Inga allerdings fand sie sich ungeschickt angezogen.

Nicht sehr weit, und sie waren am Drostenhof. Annette konnte nun mit Bestimmtheit sagen, dass sie ihn noch nie gesehen hatte. Sie suchten nach erklärenden Tafeln und fanden dann auch eine. Von Schlaun! Ich hatte recht!, sagte Inga befriedigt, die die Leidenschaft ihres Vaters für Architektur übernommen hatte. Der Vater allerdings war der Architektur wahrscheinlich mehr aus Anhänglichkeit an seinen zehn Jahre älteren im Krieg gefallenen Bruder zugetan. Der Bruder hatte dem Kleinen erklärt, und der Kleine hatte es als Gunst und Liebesbeweis genommen. Ingas Vater war so einer, sehr treu, sehr anhänglich. Der Drostenhof ein Barockbau, gemäßigt in der Ausführung mit einem großen Innenhof. Eine Mauer grenzte ihn von der Gasse ab. Auf der Gasse ein Café. Sie wählten sich Plätze an der Mauer. Sie hatten die stechende Sonne in ihrem Rücken, sahen auf das die Gasse auf und ab flanierende Volk. Ein Eiskaffee, sagte Inga zur Bedienung.

Ein Eiskaffee, sage Annette nach einigem Zögern, hätte lieber ein Eis gegessen.

Inga knickte den Halm an vorgesehener Stelle, schlürfte ein wenig vom Kaffee. Übrigens, Wolle und ich haben uns getrennt, sagte sie übergangslos.

Jetzt also doch!, dachte Annette. Sie hatten nie über Ingas Ehe gesprochen. Durch deren Vater wusste sie von Problemen. Wenn wir nach Hause kommen, wird Wolle nicht da sein, fiel ihr als nächstes ein. Sie war noch nie mit Inga allein gewesen. Annette erzählte, was ihr gerade in den Sinn kam. Sie musste die Nachricht erst verarbeiten. Auch war es Inga wohl lieber, wenn sie sich nicht äußerte. Annette berichtete davon, dass sich die Beziehung zu einer Freundin gehalten habe, obwohl die der Arbeit wegen nach Westdeutschland gezogen sei. Darüber bin ich so froh, sagte sie. Es braucht Jahre, ehe ich zu einer Frau Zutrauen fasse.

Ich kann gerade mit Frauen!, sagte Inga. Ich habe eher Schwierigkeiten mit Männern. Warum kannst du mit Frauen nicht.

Annette sprach von ihrer Mutter, der Schwester von Ingas Vater und bald davon, wie sie im Vorschulalter in ein Kinderheim gegeben worden sei, das von einer gemeinsamen Tante geführt worden war.

Komisch. Wir haben uns bei Tante Ines zu den Ferien immer sehr wohl gefühlt!, sagte Inga mit ihrer hellen, festlichen Stimme, in der ein klein wenig Schwäbisch mitklang.

Ja, zu den Ferien! Aber ich war eineinhalb Jahre dort. Und nie bekam ich Besuch wie die anderen Kinder. Annette erinnerte an die vier Wochen, die sie zu Tante Ines Entlastung zu Ingas Familie geschickt worden war. Wir sind zusammen in den Kindergarten gegangen, sagte sie. Wir mussten mittags die Köpfe auf die Schulbänke legen und so tun als ob wir schlafen. Eine Tante ging mit einer Rute herum.

Das weiß ich nicht mehr, sagte Inga. Sie hatten sich alle Geschichten schon erzählt. Aber manches hatte die Cousine vergessen, und wenn nicht, hörte sie die offenbar trotzdem gern.

Und bei dir zu Hause gab es Limonade. Deine Großeltern, Onkel Rudi, deine Mutter arbeiteten auf dem Feld. Wenn man trinken wollte, gab es Limonade.

Ach ja. Inga lächelte. Die Limonade! Wenn wir später zu Besuch bei Oma Nägele waren, hat immer ein Kasten Limonade für uns Kinder dagestanden. Wir tranken sie so gern.

Ich hab Limonade nicht gemocht, dachte Annette. Dass wir Kinder keine Rolle spielten, sah ich daran, dass jeder aß, wann er wollte, und man Limonade aus dem Kasten trank. Selbst wenn zwei dasselbe erleben, erleben sie es anders.

Inga hatte den Platz im Schatten der Mauer gut gewählt. Die Luft war feucht und inzwischen sehr warm, in der Sonne sicher kaum noch erträglich. Die Menschen nutzten den ersten Sommertag seit langem und den freien Sonnabendvormittag, indem sie sich heftig durch die Stadt und diese Gasse mit ihren Lädchen und Cafés bewegten.

Annette nahm den Gesprächsfaden wieder auf, berichtete davon, wie die Mutter nichts mehr habe mit ihr anfangen können, als sie ihre Tochter endlich zurück in den Osten geholt hatte, damit sie dort zur Schule ginge. Die Mutter hatte davon gesprochen, wie sie ein ganz anderes, fremdes Kind vorgefunden habe. Gewachsen war Annette natürlich, sei der Mutter aber leicht verwahrlost vorgekommen. Geschwäbelt habe sie, und selbstverständlich konnte von den tadellosen Tischmanieren nicht mehr die Rede sein, die sie vorher gehabt hätte. Es hat sich dann auch keine Beziehung mehr aufgebaut, sagte Annette. Es waren ja jüngere Kinder da, um die sie sich ihrer Meinung nach mehr kümmern musste. Und sie hat mir mit allen Mitteln einen gewissen Eigensinn austreiben wollen, der ihr weder verständlich noch wünschenswert erschien. Meine Eltern hatten ja die Vorstellung, ein Kind müsse aufs Wort gehorchen.

Das kam von Omi, sagte Inga. Mein Vater erzählt fürchterliche Dinge über ihre Konsequenz. Als Gymnasiast habe er zum Beispiel wegen einer Kleinigkeit einen ganzen Sommer Badeverbot bekommen.

Bis dahin hab ich meine Mutter angebetet. Aber als sie nur noch an mir auszusetzen hatte, ich ständig verfügungsbereit sein musste, änderte sich das. Ich hatte wahrhaftig genügend Pflichten, aber nie gab es für sie ein Genug. Ich bekam Angst vor ihr, ihren Launen. Nie wusste man, wie sie gerade aufgelegt war. Ich brauche Berechenbarkeit. Männer sind berechenbar. In der Regel. Annette war an dem Punkt angelangt, auf den sie hinaus gewollt hatte.

Natürlich war sie mit den vielen Kindern überfordert, versuchte sie zu entschuldigen. Aber sie hat sie ja gewollt. Nicht mein Vater. Sie! Allerdings kann ich mir eine Kindheit ohne meine Geschwister nicht vorstellen. Ich lebte gern in einer großen Familie und sehne mich im Grunde noch heute danach.

Deine Mutter! Inga schüttelte den Kopf. Sie musste immer geschont werden. Als sie Omi vierzehn Tage pflegen sollte, hat sie es glatt abgelehnt, sie fühle sich dazu nicht imstande. Aber warum bist du zu Tante Ines gekommen?

Annette erklärte, dass sich der Vater in einer Ausbildung befunden hätte. Die Mutter hatte arbeiten gehen müssen. Omi hatte für uns drei Mädchen zu sorgen, sagte sie. Omi und meine Mutter sollten entlastet werden. Die Idee stammte übrigens von deinem Vater. Der hat allerdings nur an einen kurzen Aufenthalt bei Tante Ines gedacht und sich gewundert, wie viel Monate daraus wurden. Aber wer dem Teufel den kleinen Finger gibt, dem nimmt er die ganze Hand. Sie lachte. So war meine Mutter. Ich habe auch immer gedacht, meine Mutter würde mich gleich wieder abholen. Schließlich fing das mit meinen Bauschmerzen an. Die ganze Kindheit über hatte ich Bauchschmerzen.

Es war wohl in unserer Familie üblich, dass man Kinder weggab, sagte Inga nachdenklich, erzählte von ihrem Vater, der sich gerade in letzter Zeit wieder beklagte, dass seine Mutter - Annettes und Ingas Großmutter - ihn lange Zeit bei ihrer Schwägerin untergebracht hätte, wo er zwischen Cousinen - eine davon Tante Ines - aufwuchs in dem Haus, in dem nachher Annette mit fünf, sechs Jahren gelebt hatte. Er kann es Omi nicht verzeihen, sagte Inga. Er ist über siebzig und kann es ihr nicht verzeihen. Das ist schon komisch, oder vielmehr albern. Aber irgendwie auch bemerkenswert, findest du nicht?

Annette nickte.

Übrigens sind deine Mutter und mein Vater sich nicht nur äußerlich ähnlich. Sie sind beide Egozentriker. Aber weißt du, was mich bei meinem Vater in den letzten Jahren am meisten aufregt? Er hat immer recht. Selbst bei Dingen, wovon ich wirklich mehr verstehe.

Annette war Ingas Klage bekannt. Sie dagegen belustigten eher die kleinen Streitereien zwischen ihren Eltern, die daher kamen, dass ihre Mutter darauf beharrte, recht zu haben.

Doch jetzt hat sich unsere Beziehung sehr zum Positiven verändert, sagte Inga. Als sie hörten, dass ich mich von Wolle trenne, haben sich meine Mutter, aber auch mein Vater sehr gut verhalten. Letztens habe ich meinem Vater übrigens mit einer Bemerkung eine große Freude gemacht. Ich hab gesagt: Ihr führt ein offenes Haus. Es war immer meines Vaters Wunsch gewesen, ein offenes Haus zu führen. Er hat selbst gar nicht so wahrgenommen, dass es ihm auch gelungen ist.

Ich habe heute auch ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern, sagte Annette. Besonders zu meiner Mutter. Ich denke, man muss die Menschen nehmen, wie sie sind.

Wenn du alles tolerierst, nimmst du sie nicht mehr ernst, widersprach Inga.

Warum streiten, wenn du siehst, du kannst nichts mehr ändern?

Genau das meine ich doch. Du nimmst die Menschen als Partner nicht mehr ernst, wenn du ihnen alles durchgehen lässt.

Ich nehme sie an, dachte Annette, sagte es nicht. Hatte Inga eine Meinung, war sie schwer davon abzubringen. So tat Annette genau das, was die Cousine schon so oft an ihr kritisiert hatte.

Du gehst so auf mich zu, sagte Inga. Du bist so offen zu mir. Deswegen habe ich mir fest vorgenommen, ich spreche dieses Mal an, was mich an dir stört.

Annette stieg Röte ins Gesicht. Eine Unterhaltung sollte sich in ungefährem Rahmen bewegen und nicht direkt auf sie zu. Wenn tatsächlich etwas zu sagen war, tat man das leichthin und nebenbei. Welchen Anlass hatte sie Inga gegeben, dass sie eine Aussprache für notwendig befand?

Wie ich zu dir bin, bin ich nämlich eigentlich nicht, sagte Inga. Hinterher ärgere ich mich, dass ich so gereizt war. Wollen wir wirklich eine tiefere Beziehung, muss das mal zur Sprache kommen.

Ich kenne dich so lange. Annette machte den Versuch zu begütigen. Weißt du noch, wie ich dich zwei Tage mit zum Unterricht auf die Oberschule genommen haben? In Halle in die Franckeschen Stiftungen? Ich hab den Lehrern gesagt, du interessierst dich, wie das bei uns in der DDR ist. Keiner nahm Anstoß. Das Fach Kunsterziehung hat dir sehr gefallen. Ihr hattet dieses Fach wohl nicht.

Natürlich erinnere ich mich. Und wie mich deine zweite Schwester bei unserer Omi verpetzt hat. Das war ganz übel. Ich hätte mich unmöglich benommen, hat deine Schwester geschrieben. Und meine Mutter hat's gelesen. Sie las alle Briefe an Omi. Es gab einen Riesenkrach zu Hause. Auch diese Erzählung Inga war nicht neu, ebenso wie Ingas Verärgerung über den missglückten Besuch im Osten, obwohl Annette alles getan hatte, um der zwei Jahre jüngeren Cousine zu gefallen, sie auch heftig bewundert hatte wegen ihres selbst gestrickten roten Pullovers, ihrer selbst geschneiderten weißen Bluse mit Rüschen. Inga hatte so großes Geschick.

Wir mussten helfen, dachte Annette. Das kannte Inga nicht, jedenfalls nicht so, wie das unsere Mutter von uns verlangte. Ingas Mutter tat lieber alles selbst. Dass die Cousine sich für den häuslichen Ablauf nicht interessierte, nie eine Hand gerührt, nie eine Hilfe angeboten, das hat unsere Mutter geärgert. Ihr fiel eine Bemerkung ein, die Inga bei ihrem Aufenthalt damals gemacht hatte. Sie lachte. Etwas hat meine Mutter wirklich gekränkt, sagte sie. Ich fand, du kannst nichts dafür. Aber sie hat es dir übel genommen.

Ach, und was?

Du hast gesagt: Bei uns in Deutschland!

Ja, was war daran falsch?

Na, als ob wir im Osten nicht in Deutschland wohnten.

Es war halt der Osten, die Ostzone.

Wieder schwieg Annette, um weiteren Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Und dann haben wir uns einige Male in Berlin gesehen, sagte Annette. Ich kenne dich so lange, du bist meine Cousine. Mein Bäsle. Deswegen hast du was bei mir gut.

Ich hab einen Bonus bei dir.

Kann man auch so sagen. Und was ärgert dich an mir?

Dein Verhältnis zu deinem Freund. Jedes Mal tust du so, als ob er gleich stirbt. Wollen wir uns verabreden, musst du erst mit ihm sprechen. Dabei seid ihr kein Liebespaar und lebt getrennt. Das finde ich so was von unmöglich, meine Liebe. Ingas Stimme jetzt noch höher als sonst, fast wie ein Trompetenstoß.

Es ist doch meine Sache und nicht ihre, dachte Annette. Dann erinnerte sie sich, wie oft sich Inga über ihre eigene Mutter ereifert hatte, weil die sich - Ingas Meinung nach - zu sehr dem Vater unterordnete. Die Cousine hatte bestimmte Ansichten und ertrug offenbar nicht, wenn Menschen ihrer näheren Umgebung anders lebten, als es ihr richtig erschien. Unwillkürlich lächelte sie. Das Phänomen war ihr zu bekannt: durch ihre Mutter. Die musste auch immer sagen, wenn ihr etwas nicht gefiel, musste bekennen. Und recht haben.

Ohne mich wäre er ganz allein, sagte Annette. Es geht ihm wirklich nicht gut. Umsonst bekommt er nicht seine Rente. Zuhause zu sitzen und niemanden zu haben, mit dem man reden kann, richtig reden, das ist einfach schlimm. Außerdem brauche ich ihn auch. Er ist wie mein Zuhause. Ich hab genauso Angst wie er, ganz allein zu sein.

Hast du dir mal überlegt, warum du dich nur mit verheirateten Männern einlässt? So brauchst du dich nicht zu entscheiden!

Ich lerne keinen kennen, der frei ist, verteidigte sich Annette. Und für einen, den man noch gar nicht kennt, alles aufgeben. Und nach anderthalb Jahren ist alles aus?

Wenn es eine schöne Zeit war, warum nicht?

Sie hat recht, dachte Annette. Wenn ich mich stark verlieben würde, sagte sie, dann müsste ich für ihn eine Lösung finden. Dann hätte ich die Kraft. Ganz verlassen würde ich ihn natürlich nicht.

Du fühlst dich verantwortlich für ihn?

Ja.

Jeder hat ein Recht auf ein eigenes Leben. Du verbaust dir deins, das ist wirklich ärgerlich.

Sicher. Aber sieh mal zu, wie jemand leidet, und du kannst es ändern.

Er wird uns alle überleben, sagte Inga. Ich hab ihn ja mal kennengelernt. Er machte einen sehr robusten Eindruck.

Dich wird er nicht überleben. Annette lachte. Du bist zäh. Wie Omi. Übrigens, hast du inzwischen einen Joggingpartner gefunden? Oder bist du immer noch unglücklich, weil du Runden weiter laufen möchtest, wenn die anderen schon am Ende sind?

Das hast du dir gemerkt? Nein, ich hab noch keinen Joggingpartner gefunden.

Weißt du, dass du genau der Typ Frau bist, vor dem ich mich fürchte, sagte Annette in einem Anfall aggressiver Ehrlichkeit.

Inga bezahlte. Es war eine glatte Summe. Als ihr auffiel, dass sie der Bedienung kein Trinkgeld gegeben hatte und ihr hinterher rief, hörte die nicht mehr. Der Eiskaffee war gut gewesen. Bis dahin hatte Annette nie Eiskaffee getrunken. Nun würde sie es öfter tun.

Das Haus, in dem Inga wohnte, lag außerhalb der Stadt. Ein Bungalowbau ähnlich dem von Ingas Eltern. Ein hoher Zaun umgrenzte das Gartenstück, das allerdings kleiner als bei ihren Eltern. Meine Burg!, sagte Inga.

Festungsartig war der Bau Annette immer vorgekommen. Es gab zwar einen riesigen zentralen Raum in der Mitte, in dem die Seiten zum Garten hin ganz und gar aus Glas bestanden, ausgenommen dort, wo sich der Kamin befand. Doch der Blick wurde von dem hohen Zaun gefangen gehalten. Hier erhole ich mich, sagte Inga aufatmend, wies Annette die Tür gleich neben dem Eingang. Du kennst dich ja aus.

Ich hab mich immer gefragt, wie du es aushältst, wenn du auf Wolle wartest, weil der noch zu tun hat, sagte Annette. So allein im Haus und so weit weg von der Stadt.

Ich bin froh. Den ganzen Tag hab ich Patienten. Immer muss ich mich auf eine völlig andere Situation einstellen, da brauche ich abends meine Ruhe.

Ach ja, du hast den ganzen Tag Menschen um dich. Das ist was anderes, sagte Annette. Sie selbst arbeitete seit Jahren als freie Autorin zu Hause.

Annette stellte ihre Tasche im Gastzimmer ab, legte ihre Kleidung über einen Stuhl. Inga zog die Couch aus, holte Bettzeug. Sie bezogen es gemeinsam.

Schiebetüren in der Art, wie man sie in Japan hatte. Die Holzstreben schwarz gebeizt, statt Papier Milchglas. Fußbodenheizung unter den Marmorplatten. Die Einrichtung modern, karg, einige Kunstgegenstände, wovon Annette eine gebrannte rote Plastik besonders gefiel, ein weiblicher Akt, verschwenderisch die Formen, die dem Schönheitsideal der Cousine völlig zuwiderliefen, ein Hochzeitsgeschenk von Ingas Eltern. Steinplatten zwischen der Außenseite des Flachbaus und dem eigentlichen Garten. Eine Markise zum Herausziehen sorgte dafür, dass sie im Schatten saßen. Überall im Garten blühte etwas, der Zaun überdeckt von Blumen, Gewächsen, Stauden. Rosen rankten sich an einem Strauch hoch hinauf. Rosafarbene Rosen bildeten an einem seitlichen Holzgestell ein Gehänge. Inga machte auf orangefarbene Lilien im Vordergrund aufmerksam, sagte die Namen der und jeder Blume, deren Zeit schon vorüber war und derer, die noch kommen würden. Einzelne Bäumchen. Der Garten ist gerade groß genug, sagte sie. Größer dürfte er nicht sein, das würde ich nicht schaffen. Das ganze Jahr über blüht etwas.

Wie ein Sommerzimmer, sagte Annette. Wie noch ein großes Zimmer draußen. Jetzt versteh ich, warum du gesagt hast, ich soll einmal im Sommer kommen. Ich hab's versprochen, und ich bin gekommen.

Um deinetwillen solltest du im Sommer kommen, nicht um meinetwillen!

Allerdings traue ich mir im Sommer eine Fahrt über die Mitfahrgelegenheits-Zentrale nicht zu. Wenn es so heiß ist und Stau auf der Autobahn, da habe ich den Mut nicht.

Und wie viel kostet's mit der Bahn?

Den Sparpreis eben. Annette sagte die Summe.

Das ist teuer.

Für mich schon, dachte Annette.

Vor zwei Jahren wärst du im Sommer mit der MfG gekommen, wenn du nicht deinen Fahrer verfehlt hättest! Wir hatten alles vorbereitet. Das war schon schade.

Inga hatte sie damals auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, sich an einer Autofahrt finanziell zu beteiligen und war sicher verärgert, dass Annette ihr Geld verschwendete und mit dem Zug fuhr. Im Herbst oder Frühjahr, da kann ich's ja über dieses ... MfG probieren, sagte Annette schuldbewusst.

Annette fragte nach Ingas Schwestern, den Eltern. Deinen Vater hab ich zum Geburtstag anzurufen versucht. Auch am Abend darauf habe ich ihn nicht erreicht. Er ist ja mein Patenonkel.

Und deine Mutter meine Patentante, ergänzte Inga.

Übrigens, im April sind die Eltern noch in Spanien.

So lange?

Ja, das ganze Winterhalbjahr.

Ist das nicht etwas eng in so einem Wohnmobil?

Was denkst du. Das ganze Leben spielt sich doch draußen ab.

Das Telefon klingelte. Inga ging ins Zimmer. Das Klingeln brach ab. Inga schien zurückzurufen.

Sie setzte sich wieder unter die Markise. Meine Eltern, sagte sie. Einen schönen Gruß. Sie wussten, dass du kommst.

Ich hab schon gedacht, dass sie es sind. Aber ich war mir nicht sicher. Ich hätte sie gern gegrüßt.

Meine Mutter wollte wissen, ob du einen Brief geschrieben hast, dass du sie besuchen willst. Sie finden ihn nicht.

Nein, ich hab keinen Brief geschrieben. Ich hab leider keine Tagung, nichts, weshalb ich nach Süddeutschland fahren könnte. Und einfach so zu reisen. Die Zeit und die teure Fahrt.

Meiner Mutter geht's nicht gut, sagte Inga bedrückt. Nachdem sie lange Jahre Ruhe gehabt hat, sind ihre Werte plötzlich wieder so schlecht.

Das tut mir leid. Wenn Annette an Ingas Mutter dachte, sah sie die immer lächelnd. Sie war eine jener schlanken, großen, dunkelhaarigen Schönheiten, wie man sie in Süddeutschland hatte.

Das Gespräch wollte nicht wieder in Gang kommen. Erst die Erinnerung an die gemeinsame Großmutter ließ Inga wieder lebhaft werden. Die Großmutter hatte in Annettes früher Kindheit in ihrer Familie gelebt, anschließend in der ihres Sohnes in Süddeutschland, hatte sich aber jedes Jahr die erlaubten vier Wochen im Osten aufgehalten, sodass die Großmutter sich auch Annettes jüngeren Geschwistern einprägte. Viele Briefe waren hin- und hergegangen. Pakete. Sie war eine Frau mit Eigenarten, Besonderheiten gewesen. Omi wurde sie zu ihrem Leidwesen genannt, obwohl sie die Anrede Großmutter lieber gehabt hätte. Man konnte sich gegenseitig erzählen. Indem man das tat, stand die Frau, die sechsundneunzig Jahre und ein halbes alt geworden war, wieder vor ihren Kindern, Enkelkindern, und stärkte - lange Zeit über ihren Tod hinaus - das Bewusstsein von Zusammengehörigkeit.

Weißt du, Omi hatte immer so einen eigenartigen Geruch, sagte Inga.

In Annette stieg die Erinnerung an einen Geruch nach Kräutern, frischer Luft auf.

Sie wusch sich jeden Tag von Kopf bis Fuß, sagte Inga. Sie hielt sich tadellos in Ordnung.

Sie machte jeden Morgen vor dem offenen Fenster ihre Gymnastik, sagte Annette, aß Schnittlauch die Menge, Heilerde innerlich und Leinsamen.

Ja, sie war sehr um ihre Gesundheit besorgt. Übrigens ist mein Vater eines Morgens aus Versehen in ihr Zimmer gegangen und sah sie nackt von hinten. Er sagt, er hätte zum ersten Mal seinen Vater verstanden. In hohem Alter noch hatte sie einen muskulösen Rücken. Der Po straff, nicht wie sonst bei alten Leuten.

Annette dachte daran, wie ihr Vater über seine Schwiegermutter ihrer hageren, angeblich unweiblichen Gestalt wegen gespottet hatte. Offenbar hatte ihr Sohn sie ebenfalls nicht als Frau gelten lassen, obwohl sie vier Kinder großgezogen hatte. Die zwei ältesten Söhne waren im Krieg umgekommen. Für ihn, den jüngsten, hätte es ihr an Kraft gefehlt, hatte die Großmutter Annette erklärt. Er sei nicht zu bändigen gewesen. Deshalb habe sie ihn zu ihrer Schwägerin und Jugendfreundin gegeben. Und weil mein Mann, so sprach die Großmutter wie vor einer Fremden, die Stille gebraucht hätte. Er war depressiv und lärmempfindlich. Lag stundenlang in seinem Zimmer. Seine Arbeit als Beamter erlaubte das. Wenn ich geahnt hätte, wie schlecht die Ehe meiner Schwägerin war!, hatte sich die Großmutter entschuldigt.

Wir haben gedacht, wir tun dir das Beste. Tante Ines war eine geschulte Kraft. Und dann die herrliche Umgebung im Schwarzwald! So hatte die Mutter über Annettes Aufenthalt im selben Haus gesagt. Sowohl die Mutter wie die Großmutter hatten großes Vertrauen zu angeblichen Spezialisten gehabt. Die Meinung, andere seien geschickter und klüger, war nicht nur belastend, sondern zuweilen auch bequem.

Sie hatte hübsche Beine, das weiß ich noch, sagte Annette.

Ach ja? Da hab ich sie vielleicht von ihr, sagte Inga, als kämen hübsche Beine sonst in der Familie nicht vor.

Annette lachte in sich hinein und sagte: Wahrscheinlich hatte Omi eine hübsche Figur, aber sie trug immer zu weite Kleider, in denen man das nicht sah, sagte sie. Und das passte ja zur Meinung, sie sei ein Blaustrumpf. Wie man die emanzipierten Frauen nannte. Dabei wäre sie nur gern emanzipiert gewesen. Unabhängig. Aber sie hat halt Ehefrau sein müssen. Lehrerin zu werden, haben ihr die Eltern verboten.

Das weiß ich nicht. Und ihre Leib- und Seel-Hosen quetschten ihren Busen ab.

Ihre Leib- und Seel-Hosen? Annette erinnerte sich an die Hemdhosen, die sie offenbar nicht nur in der Nachkriegszeit getragen hatte. Annette lachte.

Jetzt ist es wieder, sagte Inga.

Was?

Dass du wie sie lachst. Erst zögernd, und dann überkommt es dich. Du öffnest den Mund, dass man die Zähne bis ganz hinten sieht. Bei dem Lächeln wird mir ganz heiß.

Wie gut sie beschreiben kann, dachte Annette. Das Lächeln der Großmutter hatten sie und ihre Geschwister nicht zu entbehren. Sie beobachteten es an der Mutter, die im Alter in Mimik und Gestik manches bekam, was an die Großmutter erinnerte.

Omi hat gedacht, wenn sie sich jeden Tag gründlich wäscht, reicht das, sagte Inga. Ihre Leib- und Seel-Hosen hat sie nicht gewaschen. Bis meine Mutter ihr eines Tages darauf gekommen ist. Deshalb der Geruch.

Annette überlegte. Ihr kam wieder nur der Geruch von Kräutern und frischer Luft ins Gedächtnis, der schon wenige Tage nach Ankunft der Großmutter in das Gastzimmer einzog. In der Kindheit mochte vielleicht etwas Süßliches dabei gewesen sein. Jedenfalls hatte sie den Geruch gemocht. Und sie hatte hübsche Haare, sagte Annette. Früher trug sie die Haare fest zusammengeknotet. Aber seitdem ihr eine Friseuse riet, kam ihr volles Haar zur Geltung.

Und sie wechselte nachmittags immer ihr Kleid. Zum Tee trug sie ein besonderes, sagte Inga.

Das ist mir nicht aufgefallen. Aber sie besaß später schöne Kleider, festliche in Pastellfarben, das weiß ich noch. Natürlich geerbt von verstorbenen Freundinnen. Sie selbst leistete sich ja nichts.

Und sie aß gern und mit großem Appetit.

Annette lachte. Auch das passte nicht zu ihrem spartanischen Wesen.

Ihre Religiosität nahm allerdings groteske Züge an, sagte Inga. In der Zeit, in der sie in einer Pension in lebte, besuchte sie zuerst wildfremde Leute, die nahe am Bahnhof wohnten. Und dann uns. Es waren Christen, die standen ihrem Herzen offenbar näher als wir.

Dein Vater hat davon erzählt.

Aber da ist sie einer Täuschung erlegen. Denkst du, diese Leute haben sie ein einziges Mal besucht, als sie krank war? Übrigens wir Kinder bekamen nicht das kleinste Geschenk, damit euch im Osten nichts abgeht. Unser Geschenk war, dass wir die Bücher, die an Euch geschickt wurden, vorher lesen durften.

Ja, wir im Osten waren ihre Aufgabe. Sie musste immer nützlich sein. Sie war in allem schrecklich konsequent.

Inga reihte eine Besonderheit, typische Begebenheit an die andere, erzählte die Geschichten ihres Vaters aus dessen Kindheit, Jugend. Kaum etwas war Annette neu. Doch sie hörte gern zu, steuerte selbst Geschichten bei, die sie in ihrer Familie gehört hatte.

Eigentlich hat mein Vater Omi nicht gemocht, schloss Inga.

Glaube ich nicht, erwiderte Annette. Schon dein Name.

Das war in seiner Jugend. Er konnte weder seine Mutter noch seine Schwester leiden.

Ich kenne es anders. Meine Mutter sagte, in seiner Jugend habe er Omi abgöttisch geliebt. Auch zu meiner Mutter habe er ein beinahe zärtliches Verhältnis gehabt. Ich denke, er hat sehr um Omis Anerkennung gerungen und sie dann auch bekommen. Er behauptet sogar noch heute, dass er meine Mutter liebe, was auch immer er damit meint.

Eine Hassliebe wird es gewesen sein, schloss Inga. Aber einem Kind so einen Namen zu geben! Ingelotte! Als ich zwölf Jahre war, habe ich mich umgetauft. Hat es mit deinem Namen etwas auf sich?

Von Annette von Droste-Hülshoff.

Ahja! Die wurden hier in der Nähe geboren, auf dem Schloss Hülshoff. Am Ende ihres Lebens war sie bei der Schwester in Meersburg am Bodensee. Das weißt du?

Nein. Ich hab nur von ihr gelesen. Es passte sehr zu meiner melancholischen Stimmung in meiner Jugend.

Wenn ich an Omi denke, sagte Inga zum Abschluss, dann zuerst, wie sie mir in Bonndorf vorgelesen hat. Wir sind eine Waldhöhe hinaufspaziert, nur wir zwei, und sie hat mir "Oliver Twist" vorgelesen. "David Copperfield". Da war ich acht. Das macht alles wett.

Mit acht Jahren hast du "David Copperfield" gehört?

Anspruch fordert, ich hab alles verstanden.

Sie hat uns allen vorgelesen, sagte Annette. Alle erinnern sich. Deine Schwestern, meine Schwestern, meine Brüder. Sie hatte eine regelrecht theatralische Begabung.

Sie konnte auch zuhören, erinnerte sich Annette und nannte das, was ihr an der Großmutter am meisten gefallen hatte. Sie nahm dich ernst, wie jung du auch warst. Diese Offenheit, dieses Interesse für die Jugend hat sie sich bis ins hohe Alter bewahrt. Omi war über viele Jahre meine einzige Freundin. Ich hab ihr Briefe geschrieben, sogar Gedichte geschickt, die sonst niemand zu sehen bekam.

Existieren die Gedichte noch?

Annette lachte auf. Nein.

Sie war klar bis fast zuletzt, sagte Inga.

Das letzte halbe Jahr nach dem Schlaganfall, meinst du.

Ja. Bis dahin.

Die Cousinen lächelten, in gemeinsamer und verschiedener Erinnerung versunken. Annette sah Inga an. In ihre gelbgrünen Augen war etwas von Sonnenwärme gekommen, da sich das Lächeln bis in die Augenwinkel fortsetzte, in denen sich ein kleiner Strahlenkranz bildete. Das Gesicht schmal, ein Einschnitt in Höhe der Nasenwurzel, die Nase ebenfalls schmal, etwas gebogen, das Kinn ausgeprägt. Ein schwäbisches Gesicht, ein schönes Kaschperl-Gesicht.

Um das Gefühl von Nähe, Gemeinsamkeit noch zu verstärken, erzählte Inga von der ersten Begegnung zwischen ihrer nächst jüngeren Schwester und Annettes jüngstem Bruder. Sie sollen sich angeschaut haben, als sähe jeder im anderen sein Spiegelbild.

Diese Erzählung war Annette nicht neu. Kann ich nicht finden, sagte sie. Conny sieht aus wie du. Alle sehen aus wie du. Im Grunde seht ihr wohl alle aus wie eure Mutter, nur dass ihr - bis auf Nanne - blond und helläugig seid. Bylle kenne ich allerdings nicht.

Bylle kommt extrem nach mir. Letztens hat ihre Tochter zu mir gesagt: Du siehschst aus wie die Mama, nur hasch längre Hoar.

Ist schade, dass du kein Schwäbisch mehr sprichst.

Das kann ich mir hier oben als Ärztin nicht leisten.

Inga stand auf, um im Haus einiges zu erledigen. Annette wollte nicht als unhöflich gelten, stand ebenfalls auf. Eine große Verlegenheit befiel sie, und sie wusste nicht wohin mit sich. Wenn Wolle hier wäre, würde ich mich nicht so fühlen, dachte sie.

Inga fuhr mit Annette in ein Lokal am Rande eines Moors, erklärte, sie sei auch mit Wolle oft dorthin gegangen. Annettes Portion war so reichlich, dass sie ein Stück des Schnitzels liegen lassen musste, obwohl sie immer guten Appetit hatte. Doch wenn sie mit Inga zusammen war, reichte er nie aus. Du musst dir noch einen westlichen Magen zulegen, hatte Inga bei einer ähnlichen Gelegenheit gemeint. Der braucht lange nichts und kann auf einmal eine große Menge essen. Annette sah bedauernd auf das schöne Stück Fleisch. Inga hatte sich etwas Vegetarisches bestellt.

Es schmeckt wirklich gut, sagte Annette.

Mit einem Mal spießte Inga Fleisch auf dem Teller ihrer Cousine auf ihre Gabel.

Aus einem Spaziergang am Rande des Moors wurde nichts. Die Mücken wurden von Inga weißer Jacke angezogen, jagten sie. So fuhren sie zurück. Inga zog die Markise herunter, erklärte, dass die Wärme, die die Steine abstrahlten, sich unter der Markise besser hielte. Sie schenkte einen leichten Weißwein ein.

Wie ist es eigentlich nun mit dem Haus?, fragte Annette.

Das gehört nun mir.

Du hast die Abzahlungen ganz allein zu leisten?

Inga erklärte, bis wann sie keine Steuern zu zahlen hätte oder steuerbegünstigt sein würde. Gut wirtschaften hatte Inga schon immer gekonnt. Was macht es, wenn ich mir jetzt kein Haute-Couture-Kleid kaufe, sagte sie. Ich hab so viel, immer der klassische Schnitt. Alles passt mir, weil ich die Figur behalte. Größe 36. Natürlich, ein Haus für mich allein, das ist schon Luxus.

Inga erzählte Annette vom Urlaub. Drei Wochen war sie mit ihrem Auto kreuz und quer durch Deutschland gefahren. Sie kam auf das Reisen im Allgemeinen, zählte auf, wohin man jetzt nicht reisen könne, nannte unter anderem Ägypten, Marokko. Ist das nicht schade?, sagte sie.

Je mehr der Garten im Dunkel verschwand, umso mehr nahm der Himmel zu. Sie schauten, bis die Kühle sie ins Haus trieb.

Am Morgen zwang sich Annette, liegen zu bleiben, schlief noch einmal ein. Als sie Inga in der Küche hörte, ging sie sich im Eingangstrakt duschen.

Gut geschlafen?, fragte Inga, als Annette die Tür aufschob.

Ja, erstaunlicherweise. Wo duschst du dich eigentlich?

Hast du das noch nicht gesehen? Inga öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Daneben der Raum für ihre Kleider. Daneben das Bad, die Wanne in den Boden eingelassen. Drei Bäder haben wir im Haus, wusstest du das nicht? Inga rechnete die Souterrain-Wohnung mit, die sie normalerweise der Steuer wegen vermietete. Jetzt stand sie wegen eines Wasserschadens durch Rohre der Fußbodenheizung leer. Die Wohnung kannte Annette nicht.

Wir frühstücken im Garten.

Ist es nicht zu frisch?

Du wirst schon sehen, sagte Inga.

Der Tisch stand windgeschützt zwischen Hecken in einer Ecke, in der der Garten über die Länge des Hauses hinausging. Hier sah man auf hohe Bäume wie auf einen Waldrand. Die Sonne schien auf diese Ecke im Garten. Bald wurde es sehr warm. Annette aß mehr, als sie Appetit hatte. Sie wusste, erst am frühen Abend gäbe es eine nächste Mahlzeit.

Sie fuhren in die Stadt. In der Lebensmittelabteilung eines Kaufhauses suchte Inga das zusammen, was sie für die Abendmahlzeit und für den nächsten Tag brauchten, stellte sich da und dort am Stand an, kaufte von dem und jenem. Wie eine Zeremonie schien Annette dieses Einkaufen, dieses Aussuchen aus verwirrend großem Angebot. Annette bat, ob sie etwas tragen könne. Das ist gut, dass ich diesmal jemanden dabei hab, sagte Inga.

Früher haben Wolle und sie zusammen eingekauft, dachte Annette.

Inga wollte Annette schicken, noch etwas Vergessenes zu holen. Ich bleib lieber beim Wagen, sagte die. Sie wusste, sie würde sich nie zurückfinden. So gingen sie gemeinsam in die Abteilung für alkoholische Getränke. Nach kurzem Ausblicken steuerte Inga auf einen jungen, gut aussehenden Mann zu. Sekt brut führen Sie wohl nicht, sagte sie, offenbar geniert, dass sie etwas so billiges haben wollte. Aber sicher, sagte der junge Mann, brachte ihnen aus einem der Regale die gewünschte Flasche. Zuletzt sah Inga noch in verglasten Kühlfächern nach, fand aber nicht das, was sie suchte. Vielleicht auf dem Markt!, sagte sie.

Der Einkauf auf dem Markt war Annette schon vorher als das Ereignis des Vormittags angekündigt worden. Annette erinnerte sich, wie sie in Stuttgart mit der Schwester von Tante Ines, über den Markt gegangen war. Zwischen historischer Kulisse agierten die Bauern, Händler. Die Tante nahm sich Zeit, zu wählen und alle angebotene Ware und Preise zu begutachten. Fuhr man zum Einkaufen in die Stadt, was auch nur zwei Stationen mit der Stadtbahn bedeuten konnte, handelte es sich nicht mehr um das Besorgen von Nahrungsmitteln, sondern um mehr. Es war fast ein religiöser Akt. Diesen Eindruck hatte Annette damals gewonnen. Inga schritt die Gänge des Marktes ab. Ein Gedränge, dass sich beide immer wieder vergewissern mussten, ob sie noch beieinander waren.

Es dauerte, ehe sie frischen Spinat entdeckten. Inga kaufte eine große Menge. Der geht so zusammen, sagte sie. Die Cousinen hatten beide auf dem Weg zum Parkplatz gut zu tragen.

Zu Hause hielt Annette Mittagsruhe. Inga hatte durchgeschlafen, brauchte am Tag keinen Schlaf. Ich hasse es, wie mein Vater die Hälfte seines Lebens verschläft, sagte sie.

Inga hatte vor, das Haus zu reinigen. Schon um fit zu bleiben, halte ich mir keine Reinigungskraft mehr, sagte sie.

Nach dem Tee ging Inga in die Küche, um das Essen für diesen und den anderen Tag vorzubereiten.

Kann ich dir helfen?, fragte Annette, die nicht noch einmal in die Situation wie am Abend zuvor kommen wollte, in der sie sich mit einem Mal ganz überflüssig gefühlt hatte.

Gern.

Dann hantierten die Cousinen in der Küche, wie es im Oktober des vergangenen Jahres noch Inga und Wolle getan hatten. Annette hatte vom Hauptraum durch die Glaswand wie einem Schauspiel zugesehen. Inga hatte ihr damals kaum erklären müssen, wie wichtig ihr dieses gemeinsame Kochen mit Wolle am Wochenende sei, dass es reine Erholung bedeute. Wolle hatte so gut gekocht, dass sich Inga darüber wunderte, wieso ihm im Restaurant überhaupt noch ein Essen schmeckte. Jetzt ging nun Annette Inga zur Hand. Noch einmal kam Inga auf ihren Vorbehalt Annette gegenüber zu sprechen. Du regst in mir den animus an, sagte sie, und nicht die anima.

Annette verstand nur ungefähr.

Nach Jung.

Jung war Annette ein Begriff.

Der animus der männliche, aktive, durchsetzende Teil in dir, die anima der weibliche Teil, sagte Inga.

Annette verstand, Inga fühlte sich von ihr angegriffen. Früher mochte der Altersunterschied von zwei Jahren eine Rolle gespielt haben. Wodurch sie sich jetzt herausgefordert fühlte, konnte Annette nur vermuten. Vielleicht, weil sie sich Tag um Tag mit Literatur beschäftigte. Möglicherweise glaubte Inga, Annette lebe in einer Welt des Geistes, abgehoben von der, in der Leistung nach dem beurteilt wurde, was man an Geld verdiente. Warum kommt sie gerade jetzt damit? dachte Annette, sagte sich dann, dass Inga vielleicht den Augenblick, in dem sie sich nicht angegriffen fühlte, als gerade günstig ansah, um über ihre Schwierigkeiten mit Annette zu sprechen. Jetzt, als sie es nebenbei sagte und es nicht wie am Vortag als Unternehmen anging, fand Annette es gut und normal, dass Inga über ihre Animosität sprach. In ihren Familien war es üblich, sich offen die Meinung zu sagen, nicht um zu verletzen, sondern um Aggressionen abzubauen.

Annette sortierte Erdbeeren aus, schnitt schlechte Stellen weg, befreite Spinat von harmlosem Unkraut, schnitt zu starke Stängel ab.

Inga kochte. Italienische Nudeln, Reis, schlug Mayonnaise, bereitete eine Sauce Hollandaise. Wir essen ein Menü, sagte sie, und es war ihr anzumerken, sie war stolz darauf.

Annette dachte an Ingas Eltern. Höhepunkt des Besuchs war ein Diner, eine fortlaufende Folge von Speisen und Weinen, die man im Laufe eines langen Abends einnahm, verschiedene Bestecks und Gläser standen bereit. Nur besonderen Gästen wurde diese Ehre zuteil. Nach dem Rang, dem Inga dem Menü gab, war es dem Diner ebenbürtig. Eine Vorspeise, ein Hauptgericht, eine Nachspeise, alles aufeinander abgestimmt.

Ich treibe genau den Aufwand wie zu Wolles Zeiten, sagte Inga. Ich koche für mich allein, wie wir es vorher zusammen getan haben. Ich will mich auf keinen Fall vernachlässigen. Ich will mir allein genauso viel wert sein. Jeden Abend mache ich mir meine Salate, Gemüse.

Ganz im Gegensatz zu mir, dachte Annette. Ich mache mir keine Mühe mit mir. Sie bewunderte die Cousine.

Ich lasse mich nicht hängen, sagte Inga. Aber glaube nicht, dass ich deshalb weniger leide. Er ruft jeden Abend an. Ich nehme nicht mehr ab, weil ich genau weiß, er ist es. Aber ich will keine der guten Traditionen, die wir in unserer Ehe gemeinsam erarbeitet haben, fallen lassen. Und dazu gehört das gute Essen. Du weißt ja, welch guter Koch Wolle ist. Das ist das Positive daran, dass er genießen kann. Er isst gern, kocht ausgezeichnet und ist auch im Geld großzügig, wie du das bei anderen Männern kaum findest. Vielleicht laden Wolle und ich uns später gegenseitig zu Menüs ein, wenn wir genügend Abstand voneinander haben. Damit diese Tradition bleibt.

Sie hält sich großartig, dachte Annette. Die Cousine war immer diszipliniert gewesen, hatte auf wirtschaftliche Unabhängigkeit gegenüber Wolle geachtet. Aber im Falle einer Trennung bedeutete die Unabhängigkeit gar nichts. Seit der Schulzeit waren die beiden zusammen gewesen. Eine so frühe Bindung ließ sich schwer lösen. Unwillkürlich verglich Annette die Cousine mit ihrer beider Großmutter. Die hatte der frühe Tod ihres Mannes, der Verlust ihrer beiden ältesten und am meisten geliebten Söhne nicht aus der Bahn zu werfen vermocht. Sie hatte noch viele Jahrzehnte so gelebt, wie sie es für richtig erachtete, zwar der Familie zugewandt, doch auch unabhängig.

Inga schaltete die Uhr ein, gab die ersten zwei Stücke Lachs auf den Grill. Fünf Minuten später hob sie den Lachs von der Platte, bat Annette, ihr beim Wenden zu helfen. Diese letzte gemeinsame Tätigkeit der Mahlzeit geriet zu einem feierlichen Akt. Noch einmal dachte Annette an Wolle und wie Inga ihren Mann in entscheidenden Augenblicken der Zubereitung geholfen hatte.

Als Vorspeise gab es Mozzarella, den Annette nun schon kannte. Gegenüber dem Schopska-Salat, Tomate und Gurke, geriebener Schafskäse darüber - eine aus dem bulgarischen Bruderland übernommene Spezialität - war Annette der Mozzarella bisher fad vorgekommen. Nun aber schmeckte er ihr. Inga erklärte, das große grüne Blatt, das auf dem Käse liege, sei frisches Basilikum, wovon sie auch auf ihrem Kräuterbeet habe, allerdings nicht so groß gewachsen. Annette solle immer darauf achten, etwas vom Basilikum mit im Mund zu haben. Auch Basilikum kannte Annette, doch nur als Pulver in der Küche ihrer Mutter. Und dann nehme ich kalt gepresstes Olivenöl und Balsamico, einen italienischen Essig, sagte Inga. Basilikum ist wichtig. Dann brauchst du nicht zu salzen.

Annette versuchte, sich alles zu merken. Mozzarella auf Tomate schien in westlichen Breiten der Schopska-Salat vergangener östlicher Zeiten.

Das Hauptgericht - zwei dicke Scheiben Lachs für jeden, Reis, eine Sauce Hollandaise und sehr viel Spinat, als Blatt belassen - war kaum zu bewältigen.

Den ganzen Tag haben wir damit zugebracht, nur für uns zwei das Essen einzukaufen und zuzubereiten, dachte Annette. Zunächst schien es ihr eine Vergeudung an Zeit, wenn auch eine köstliche. Annette saß jeden Tag - ob in der Woche oder am Wochenende zwei bis drei Stunden am Schreibtisch. Wenn man wusste, warum, war es vielleicht richtig, auch auf diese Art seine Zeit zu benutzen.

So erholen wir uns am besten, hatte Inga im letzten Oktober die langen Einkäufe, die ausführliche Zubereitung der Essen erklärt. Annette hatte es damals akzeptiert. Waren sie weniger wert, weil es nun Wolle nicht mehr gab? Wir haben uns heute selbst wichtig genommen, ja richtiggehend gefeiert, dachte Annette.

Sie eilten, um zu einem Orgelkonzert in die Stadt zu kommen. Zum ersten Mal sah Annette Schmuck an der Cousine. Sie holte ihn aus dem Safe. Schon das war Annette aufregend. Die Cousine besaß und benutzte einen Safe! Ein Collier mit einem Aquamarin und einen Ring, dessen asymmetrisch geschnittener Stein, ebenfalls ein Aquamarin, über die Glieder mehrerer Finger reichte. Der hellblaue Stein wies weiße Schlieren auf. Das Gold der Fassung stumpf. Eine moderne, auffällige Arbeit, doch nicht überladen. Das helle Blau sah auf Ingas gebräuntem Hals und Händen und zu dem Beige der Bluse, des kurzen Rocks und der langen Strickweste sehr gut aus. Überhaupt sah Inga wieder sehr gut aus. Atemberaubend gut. Was Annette schon immer so gefallen hatte.

Nach einem mäßigen Orgelkonzert schlenderten sie durch die Gassen der Stadt.

Zuhause erwartete sie der Abschluss des Menüs, eine mit Sekt geschlagene Creme. Den Rest des Sekts tranken sie, kamen auch damit nicht zu Ende, obwohl sie lange und ununterbrochen redeten und etwas hektisch, von Ingas Ehe, sodass Annette in dieser Nacht wenig und schlecht schlief.

Erinnerte sich Annette später an den Besuch, sah sie Inga vor sich in ihrem blühenden Garten, der wie ein Zimmer war, in beigen kurzem Rock und der langen beigen Weste, am gebräunten Hals in der Mitte eines Goldcolliers ein Aquamarin. Und dann sah sie den Ring. Der Aquamarin leuchte wie ein großes, sehr waches, helles Auge an der Hand, die etwas brauner war, die Finger um weniges länger als die von Annette. Sie wussten es, denn sie hatten ihre Hände verglichen, bevor Inga Annette den Ring aufsetzte. Er würde dir auch stehen, hatte die Cousine nach einem prüfenden Blick gesagt.

1992


Ausm leben mittenmang

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