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5 Juni 1964

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Annie Lehmann zieht ihren Lippenstift nach und richtet die Naht ihrer Nylonstrümpfe aus. Sie streicht ihren Rock glatt und betrachtet sich kurz im Spiegel. Ihre Kleidung ist alt, aber sauber und gebügelt. Annie hat sich angewöhnt, vormittags eine weiße Schürze zu tragen, die sie gegen Schmutz schützt, falls sich einer der Arbeiter verletzt.

Der Polier hatte ihr Angebot, als Krankenschwester vor Ort zur Verfügung zu stehen, dankend angenommen. Für jede Verletzung, die sie sich ansieht und versorgt, erhält sie einen kleinen Obolus. Und die Baufirma bezahlt ihr Mullbinden, Tupfer, Pflaster, Jod und alles, was sie sonst noch benötigt. Sie hat den Baustellenleiter um Diskretion gebeten, denn sie möchte nicht, dass Ernst früher als nötig von ihrem Zubrot erfährt. Sie fürchtet, dass dem diese Tätigkeit ein Dorn im Auge ist. Dem Polier ist es einerlei, er ist froh, eine Erste Hilfe vor Ort zu haben. Meist wird Annie zu einem Bauabschnitt gerufen, um dort kleinere Schnitte oder Verstauchungen zu behandeln, manchmal kommen die Arbeiter auch bei ihr zu Hause vorbei. Bislang musste noch kein Krankenwagen gerufen werden. Bald wird sie genug Geld zusammenhaben, um mit den Kindern fortzugehen, und es ist eine gute Arbeit. Sie wünscht sich sehr, wieder in ihren Beruf zurückzukehren, doch Ernst will davon in seinem falschen Stolz nichts wissen.

Was hatte Ernst sich nur bei dem Kauf dieses Hauses gedacht? Sie gehören nicht hierher. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, gehört sie nicht zu Ernst. Sie hätte sich nie auf ihn einlassen dürfen. Doch sie hat sich ihr Bett gemacht, und nun muss sie darin liegen.

Am vergangenen Freitag ist er wieder betrunken heimgekommen, dabei haben sie kaum genug Geld, um den Kühlschrank zu füllen und den Kindern ordentliche Kleidung zu kaufen. Gudrun braucht schon wieder ein Paar neue Schuhe, und Sigruns Mantel, den bereits ihre Schwester trug, ist für den Herbst nicht mehr zu flicken. Annie Lehmann ist sich der abschätzigen Blicke der Nachbarn wohl bewusst. Die anderen Kinder halten sich fern von ihren beiden Mädchen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihnen das auffällt. Was soll sie ihnen dann sagen? Holger gluckst in seinem Laufstall fröhlich vor sich hin. Sie betrachtet ihr drittes Kind, das seinem Vater so ähnlich sieht und das sie erst nicht haben wollte. Er darf auf keinen Fall werden wie Ernst: verschlossen, aufbrausend und ein Säufer. Auch wenn sie versteht, dass ihr Schwiegervater dafür verantwortlich ist, stößt es sie immer mehr von ihrem Mann ab. Das Trinken macht ihn bösartig. Sie sieht es kommen: Bald wird auch er ihr wehtun.

Annie Lehmann hat keinen ordentlichen Schulabschluss, die Möglichkeit dazu hatte sich für sie nicht ergeben. Ihr Vater war im Krieg geblieben, und ihre Mutter war kurz nach ihrer Geburt gestorben. Annie ist in einem Heim aufgewachsen, das sie früh verlassen musste. Niemand hatte ihre weitere Schulbildung finanziert, deshalb nahm sie eine Arbeit im Krankenhaus an und machte dank der Unterstützung der ihr wohlgesonnenen Oberschwester eine Schwesternausbildung.

Im Krankenhaus lernte sie dann auch Ernst kennen. Er kam mit einer Schnittverletzung aus der Fabrik, und sie kümmerte sich um seinen Verband, nachdem er mit zwanzig Stichen genäht worden war. Er konnte die Augen nicht von ihr lassen und stand zwei Tage später mit Blumen vor dem Krankenhaus. Er schaute sie an, wie sie noch keiner zuvor angeschaut hatte. Bei ihrer ersten Verabredung roch er nach Alkohol, doch sie ignorierte ihre Bedenken. Wer würde sie denn sonst wollen? Sie heirateten, als Gudrun drei Monate später unterwegs war. Ihr Schwiegervater war außer sich, trieb aber die Hochzeit voran – kein Enkel von ihm sollte als Bastard zur Welt kommen. Ein Mann musste zu seinen Fehlern stehen und die Konsequenzen tragen. Die Verwandtschaft dachte sich ihren Teil, als sieben Monate später das erste Kind geboren wurde. Es lief von Anfang an nicht gut. Ernst steht unter der Fuchtel seines Vaters, und der regiert seine Familie mit reichlich Peitsche und ganz ohne Zuckerbrot. Den Druck kann Ernst nur ertragen, indem er trinkt.

Es klingelt an ihrer Haustür. Als Annie öffnet, steht ein ihr unbekannter Mann vor ihr. Er hat schwarzes volles Haar, eine Locke fällt ihm in die Stirn. Seine Augen sind strahlend blau. Annie ist sofort fasziniert von diesem Gegensatz. Der Mann blutet aus einer Wunde über dem linken Auge. Er sieht sie entschuldigend an.

»Verzeihung – Signora Lehmann? Können Sie mir helfen? Ich bin gefallen. Man sagte mir, Sie seien Krankenschwester.«

Er hat einen Akzent, der sie an den Sommerwind erinnert, der leicht durch die Baumwipfel streicht. Vermutlich ist der Herr einer der italienischen Gastarbeiter auf der letzten Baustelle im Dürener Weg. Wenn er tatsächlich gestürzt ist, denkt Annie, ist Ernst der Regierende Bürgermeister. Nichtsdestotrotz muss seine blutende Wunde versorgt werden, das erkennt sie sofort. Sie bittet ihn herein. »Kommen Sie mit in die Küche! Ich hole kurz mein Verbandszeug und etwas, um die Wunde zu desinfizieren.« Sie drückt ihm eines ihrer Taschentücher in die Hand, die sie immer in ihrer Schürze bei sich trägt. »Hier, halten Sie das unter die Wunde, damit Sie keine Flecke machen!«

Ein paar Minuten später sitzt der Fremde auf ihrem Küchenhocker. Während sie seine Wunde abtupft, zuckt er leicht zusammen. »Ich bin gleich fertig, es ist nicht ganz so schlimm. Wollen Sie mir sagen, was passiert ist? Wie heißen Sie denn?«

»Vieri, Gennaro Vieri. Ich bin gefallen. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe.«

»Herr Vieri, Ihr Auge schwillt an. Das wird ein ganz schönes Veilchen, aber die Wunde muss nicht genäht werden. Ich nehme an, Ihr Kollege hält gerade seine Hand unter kaltes Wasser. Gab es Streit?«

»Ich bin gefallen.« Vieri seufzt. »Es gibt immer Streit. Sie mögen uns nicht.« Er zögert und sieht zu ihr auf, er hat lange dunkle Wimpern. »Obwohl sie uns gar nicht kennen.«

Annie Lehmann hat es oft genug gehört. Ihr Schwiegervater nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Gastarbeiter geht, die seit einigen Jahren nach Deutschland kommen. Sie nähmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg, und keine deutsche Frau sei sicher vor ihnen – das sind seine ewigen Tiraden. Er nennt sie die Itacker und die Kanaken, das Kroppzeug. Laut seien sie alle, sie stänken nach Knoblauch, und Manieren habe keiner von denen. Annie denkt nicht oft über die Situation der Gastarbeiter nach, aber sie hat stets den Eindruck, dass sie genau diejenigen Tätigkeiten ausüben, die die meisten deutschen Arbeiter gar nicht machen wollen. Hatte nicht auch der Kanzler erklärt, dass das Land dringend Arbeitskräfte aus dem Ausland brauche? In Westdeutschland arbeiten sie im Bergbau, und hier in Berlin sind sie in den Fabriken von Siemens, Telefunken oder AEG am Fließband tätig, bei der Müllabfuhr oder auf dem Bau beschäftigt, wie dieser Mann vor ihr. Allerdings wirkt Gennaro Vieri nicht so ungebildet wie die Mehrzahl der Arbeiter, die in der Siedlung eingesetzt werden.

»Woher kommen Sie denn?«, fragt sie ihn, als sie Jod auf die Wunde tupft und ein Pflaster darüber klebt.

»Aus Neapel. Das liegt direkt am Mittelmeer.«

»Und woher können Sie so gut Deutsch?«

Er lächelt sie an und verneigt sich leicht. »Ma grazie, Signora Lehmann, vielen Dank. Ich habe es in Neapel gelernt. Die Arbeit ist knapp in meinem Land, hier gibt es viel zu tun. Als die neuen Verträge zwischen unseren Ländern geschlossen wurden, hielt ich es für eine gute Idee, Ihre Sprache zu lernen und hierherzukommen, um zu arbeiten.« Er schüttelt den Kopf. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie uns so ablehnen.«

Annie ist unsicher, was sie dazu sagen soll. Es geht sie ja auch gar nichts an. »Man muss sich eben anpassen …«

Vieri sieht sie voller Empörung an. Annie wird rot.

»Meinen Sie das wirklich? Und wie, denken Sie, muss ich das tun? Ich spreche Ihre Sprache, ich arbeite jeden Tag zehn Stunden, ich bin pünktlich, ich mache meine Arbeit, ich trinke nicht. Es reicht trotzdem nicht aus. Es wird nie ausreichen.« Er blickt zu Boden.

»Herr Vieri, es tut mir sehr leid, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Jeder hat doch Sorgen.«

Vieri erhebt sich. »Ja, Sie haben recht, Signora Lehmann. Bitte verzeihen Sie. Es ist nicht Ihr Problem. Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Nichts, Herr Vieri. Es ist schon gut. Wir sind nicht alle so, wie Sie denken.«

Wieder bohrt sich sein Blick direkt in ihr Innerstes, so fühlt es sich zumindest an. Seine Stimme ist warm und weich, sie lässt Annie an Olivenhaine und Lavendelfelder denken, an das blaue Meer, das sie nur aus Magazinen kennt. Sie möchte, dass er weiterspricht. Doch er nickt ihr nur noch kurz zu und geht hinaus. Annie Lehmann tritt ans Küchenfenster und sieht ihm nach. Er ist mittelgroß und kräftig und läuft aufrecht und zügig. Sie ist beunruhigt und weiß nicht genau, warum. Annie Lehmann räumt das Desinfektionsfläschchen und die verbrauchten Tupfer weg und macht sich daran, das Mittagessen für ihre Kinder vorzubereiten.

Was den Raben gehört

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