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1 März 1965

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Im Keller eines noch fertigzustellenden Hauses in einem Neubaugebiet im Süden West-Berlins sitzt ein Mann und rührt Mörtel an im Schein einer Taschenlampe. Er hat die Ziegelsteine, die er benötigen wird, ordentlich neben eine Aussparung unter der Kellertreppe gestapelt. Bei dem Schutt und dem Dreck, den die Bauarbeiter dort liegen gelassen haben, wird niemand die Blutflecke bemerken, die auf dem Boden bereits gefroren sind. Der Mann haucht Wärme in seine Hände und schiebt den Eimer mit dem Mörtel vor die Nische. Während er die erste Reihe Mauerziegel setzt, blickt er auf die beiden Körper, die in der kleinen Erweiterung der Waschküche liegen und zügig ihre Wärme verlieren. Die Eiseskälte um sich herum spürt er nicht, zu heiß kocht die Wut in ihm. Heute hat er den Beweis für ihren Verrat gesehen – und gehandelt. Er greift in seine Jackentasche und knirscht mit den Zähnen, als seine kalte Hand die Medaille an dem feinen Silberkettchen berührt.

Anfang Dezember war ein strenger Winter eingebrochen. Die Kinder aus den bereits fertiggestellten Häusern im Neubauviertel hatten sich über weiße Weihnacht freuen können. Sie waren entzückt gewesen von der Schneedecke, die alles überzogen hatte und erst im Januar wegen hoher Temperaturen kurz einer unangenehmen Schmelze gewichen war. Ende Februar brachte dann ein eindrucksvoller Schneesturm die Stadt zum Stillstand. Am 4. März liegt der Schnee noch immer dreißig Zentimeter hoch. Die Stadt hat zweitausend zusätzliche Helfer eingestellt, die hunderttausend Kubikmeter Schnee räumen. Es ist viel zu kalt, um mit den Bauarbeiten in der Neubausiedlung fortzufahren, und so umgibt eine gespenstische Stille den letzten Bauabschnitt des Eifelviertels.

Die neue Mauer wird den Arbeitern nicht auffallen, da ist der Mann sich sicher. Ihr Schaffen hat sich bislang weder durch große Akribie noch durch gesteigerte Arbeitsmoral ausgezeichnet. Keine Wand innerhalb der quaderförmigen Häuser, die nach der Mittagspause errichtet wurde, haben sie gerade gezogen. Fliesen und Innenausstattungen einiger geplanter Küchen und Bäder sind auf wundersame Weise aus den ihnen bestimmten Häusern in andere gelangt, deren Eigentümer über gute Verbindungen zur Baufirma und deren Subunternehmen verfügen. Vermutlich werden die Arbeiter annehmen, dass ein anderer Trupp bereits tätig geworden ist, und im Nebenhaus weitermachen.

Er benötigt etwas über eine Stunde, um die rund sechzig Ziegelsteine in der Eiseskälte zu setzen. Mehrfach muss er das Wasser, das er braucht, um den Mörtel anzurühren, auf einem kleinen Gasbrenner erwärmen. Konzentriert setzt er Stein um Stein. Als die Mauer fertiggestellt ist, schiebt er den Mörteleimer in die Ecke zurück, aus der er ihn geholt hat. Er wirft einen letzten Blick auf die neue Wand. Dann nimmt er das kleine Kind an die Hand, das seiner Arbeit regungslos beigewohnt hat, steigt mit ihm die Kellertreppe hinauf und verlässt das Haus am Ende der Straße. Er zieht das Kind auf einem Schlitten hinter sich her, den Dürener Weg hinunter, und summt dabei leise den neuen Hit dieser Band aus Liverpool. Seine Stiefel knirschen im Schnee.

Was den Raben gehört

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