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3 Juni 1964
ОглавлениеDie neue Siedlung mit familienfreundlichen Reihenhäusern im Süden Berlins befindet sich kurz von ihrer Fertigstellung. In die Häuser am Stolberger Ring und an seinen Querstraßen, Monschauer Weg und Eupener Weg, sind die ersten Eigentümer eingezogen. Lediglich im Bauabschnitt Dürener Weg sind noch einige Häuserzeilen im Rohbau. Verkauft sind bereits alle Parzellen des etwa zwanzig Hektar großen Viertels – ausschließlich an Ehepaare, die sich schriftlich verpflichtet haben, innerhalb der ersten fünf Jahre nach dem Einzug eine Familie zu gründen, wenn sie noch keine Kinder haben. Gewerkschaftsmitglieder erhielten Vorzugskonditionen, sodass eine bunte Mischung von Bewohnern entstanden ist: Arbeiterfamilien, Akademikerpaare, Selbstständige. Hier ist die breite Berliner Wirtschaftswundergesellschaft vertreten, die sich ihren Traum vom kleinen Eigenheim mit Garten erfüllen will.
Sigrun Lehmann ist gerade sechs Jahre alt, nach dem Sommer wird sie eingeschult werden. Ihre große Schwester Gudrun geht schon in die zweite Klasse der neuen Schule. Sigrun steht an der Hand ihrer Mutter in dem neuen Haus im Monschauer Weg und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie und ihre Schwester werden ein eigenes Zimmer bekommen! Ein ganzes Zimmer für sich alleine. Wie zwei Prinzessinnen! Dabei hatten sie sich zuerst gar nicht über den Umzug gefreut.
Ihre Mutter kniet sich neben sie und legt den Arm um ihre Hüfte. »Na, Spatz, was meinst du, gefällt dir unser neues Zuhause?«
Sigrun kann gar nichts sagen und drückt ihr Gesicht an die Brust ihrer Mutter. Die riecht so wunderbar, nach Marmorkuchen und nach ihrer Seife – einfach nach Mami. Bislang haben Gudrun und sie in einer Nische im Flur ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in Moabit geschlafen.
Gudrun kommt aufgeregt ins Zimmer gerannt. »Siggi, hast du den Garten schon gesehen? Wir haben einen Garten! Los, komm mit, da steht ein Bäumchen!«
Annie Lehmann sieht ihren beiden Mädchen nach. Ihr Lächeln weicht einem besorgten Blick. Wie stellt Ernst sich das nur vor? Wie sollen sie diesen Kredit abbezahlen und dann auch noch ihrem Schwiegervater das Geld für die Anzahlung wiedergeben? Ernst verdient nicht viel, er baut Fernseher für Telefunken im Werk in Moabit. Es reicht gerade so für sie beide, die Mädchen und den kleinen Holger. Trotzdem hat Ernst darauf bestanden, eine Waschmaschine und einen Fernseher für das neue Haus zu kaufen. Dass sie wieder arbeiten geht, kommt für ihn nicht in Frage.
Sie folgt den Kindern in den Garten. Auf der Terrasse schläft Holger friedlich in seinem Kinderwagen. Die beiden Mädchen spielen Fangen, dann knien sie sich vor eine der wenigen Stauden, die Annie in die Beete, die den Rasen umrahmen, gepflanzt hat, und betrachten ein Insekt. Vor dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen einige Bauarbeiter und rauchen, das scheinen sie immer zu tun. Annie ist froh, dass sie keine Arbeiten mehr an ihrem Grundstück ausführen müssen. Die Arbeiter lösen Unbehagen in ihr aus. Manche von ihnen riechen schon am Morgen nach Alkohol. Jetzt sehen sie zu ihr herüber. Einer dreht sich kurz zu seinen Leuten, sagt etwas, und alle grölen. Der Arbeiter schaut wieder in ihre Richtung, hebt seine Bierflasche und prostet ihr laut zu: »Ein schöner Tag heute, junge Frau! Viel Glück im neuen Heim!« Er lacht anzüglich.
Sie sind grob, diese Männer, ungehobelt, und sie gehen derb miteinander um. Annie Lehmann kennt Männer dieses Schlages sehr genau. Sie wendet sich ab und geht zurück in die Küche. Ernst hat seinen Vater eingeladen, sie muss sich bei der Vorbereitung des Abendessens Mühe geben.