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4 Advent 2012

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Natürlich war Glander bei Wittstock / Dosse wieder einmal abgelichtet worden. Sicher hatte er auch dieses Mal kein gewinnendes Lächeln aufgesetzt. Aus keinem ersichtlichen Grund wurde die Geschwindigkeit dort auf achtzig Stundenkilometer begrenzt, und keine zweihundert Meter dahinter stand der Blitzer. Glanders Ärger legte sich erst, als er im Norden Berlins auf den Stadtring fuhr. Auf Höhe des Kaiserdamms hatte die Vorfreude auf sein Wiedersehen mit Lea dem Ärger über den bevorstehenden Bußgeldbescheid um Längen den Rang abgelaufen. Bei der Ausfahrt Steglitz war er aufgeregt wie ein Teenager vor seinem ersten Date, als sein Handy die Titelmelodie der alten Fernsehserie Die Profis spielte. Die beiden MI5-Agenten waren die Helden seiner Jugend und sicherlich prägend für seinen Berufsweg gewesen. Glander schaute kurz auf den angezeigten Teilnehmer und nahm das Gespräch über die Freisprechanlage entgegen. »Lutz! Was macht das Formaldehyd?«

Ganz seiner Art entsprechend kam Harnack ohne Umschweife zur Sache. »Martin, ich fürchte, was ich hier habe, wird dir gar nicht gefallen. Ich sitze bei Lea im Wohnzimmer, zusammen mit ihren beiden Nachbarinnen, den Damen Lehmann. Im Keller der Nummer 56, also im Nachbarhaus der Lehmanns, wurden die skelettierten Überreste zweier Toter entdeckt, die eines Mannes und einer Frau. Ich fand bei dem weiblichen Skelett einen Ring, und die Lehmann-Schwestern sind überzeugt davon, dass er ihrer Mutter gehört habe, die Mitte der Sechzigerjahre spurlos verschwand. Ein in den Ring eingraviertes Datum scheint das zu belegen, es ist das Hochzeitsdatum des Ehepaars Lehmann. Ich schätze, ein Gebissvergleich des weiblichen Leichnams wird abschließend bestätigen, dass es sich bei der Toten um Annie Lehmann handelt. Den gehen wir direkt am Montag an.«

Glander schüttelte den Kopf. In dem kleinen Viertel am Stadtrand gab es nicht wenig Klatsch und Tratsch, aber vom Verschwinden Annie Lehmanns hatte er noch nichts gehört. Dabei wurden ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit potenziell verwerfliche Handlungen von Nachbarn angetragen. Das fand er nach wie vor kurios. Viele der älteren Anwohner hielten ihn offenbar für eine Art richterliche Instanz. Und Glander hatte in den letzten Wochen seit seinem Einzug bei Lea mehrfach klarstellen müssen, dass er kein Kripobeamter mehr war. Einige Nachbarn hatte er aber nicht davon überzeugen können. Kurz bevor Glander nach Dänisch-Nienhof aufgebrochen war, hatte ihn Hartmut Michalke, ein Anwohner des Dürener Wegs, mit seinen Schwadronaden über Handfeuerwaffen genervt, und Glander hatte sich beim besten Willen und der Anwendung aller ihm bekannten Gesprächstaktiken nicht aus der Situation herauswinden können.

Die Michalkes waren aktive Schützen. Das Ehepaar hatte einen Waffenschrank im Keller, beide hatten entsprechende Lizenzen und wähnten nun, in Glander endlich einen ebenbürtigen Gesprächspartner in der Nachbarschaft gefunden zu haben. Glander war immer wieder baff über diese sehr speziellen West-Berliner Charaktere, die ohne Unterlass redeten. Antworten waren dabei gar nicht vonnöten, Hauptsache, sie erzählten. Zu dieser Sorte Mensch gehörten auch die Lehmann-Schwestern. Glander hatte für seine Verhältnisse zu oft Ausreden erfinden müssen, warum er keine Zeit hatte, um mit ihnen über die neuesten Entwicklungen des ehemaligen Parks-Range-Geländes zu reden. Dieses Areal hatte eine sehr umstrittene Baugenehmigungshistorie, bei der sich der Berliner Senat einmal mehr von seiner inkompetenten Seite gezeigt hatte. Das Verschwinden der eigenen Mutter mochte allerdings die Verschrobenheit der beiden Lehmann-Schwestern erklären. Die waren, objektiv betrachtet, keine unangenehmen Nachbarinnen. Das lag auch daran, dass sie nur selten daheim waren. Gudrun und Sigrun Lehmann besaßen je ein eigenes Pferd, das in einem Reitstall in Brandenburg untergebracht war. Ihr sehr spezieller Kleidungsstil sorgte regelmäßig für ein Schmunzeln bei den Nachbarn. Besondere Favoriten aus den Kleiderschränken der Schwestern waren die wattierten Morgenmäntel, die ihren Farbkonzepten entsprachen und ein breites Grinsen auf den Gesichtern der Nachbarn hervorriefen. Gudrun, die ältere der beiden Schwestern, bevorzugte ein kräftiges Rosaviolett, Sigrun ein leuchtendes Blaugrün. Glander zog eindeutig Leas Stil vor, der sich durch viele gedeckte Farbtöne auszeichnete.

Bevor seine Gedanken in Leas Richtung abdriften konnten, fragte Glander Harnack: »Wer ermittelt denn? So ein alter Fall ist vermutlich eine ziemlich harte Nuss.«

»Und auch das wird dir nicht gefallen: Prinz hat sich den Fall an Land gezogen. Und er zeigt sich so motiviert wie eh und je.«

Glander fuhr sich durchs straßenköterblonde Haar. Lea hatte ihm einmal eine perfekt passende englische Beschreibung für seinen ehemaligen Kollegen geliefert: Rolf Prinz sei nicht in der Lage, seinen Weg aus einer Papiertüte heraus zu ermitteln, strotzte aber vor Selbstbewusstsein. Niemand konnte sich erklären, wie er seinen Posten so lange hatte halten können. Sicherlich spielten dabei die hervorragenden Assistenten, die er sich stets auszusuchen pflegte, eine bedeutende Rolle. Nicht umsonst hatte Glander sich gemeinsam mit Merve Celik selbstständig gemacht, Prinz’ letzter Assistentin. Sie war eine ausgezeichnete Kripobeamtin gewesen und hatte eine hohe Aufklärungsrate vorzuweisen, auch wenn Prinz sich mit diesen Erfolgen geschmückt hatte. Man munkelte, dass er beste Verbindungen in die oberste Führungsebene hatte. Glander vermutete, dass er das Glück gehabt hatte, vor vielen Jahren bei irgendeiner Schmutzwäsche das Waschbrett gehalten zu haben, und nun davon zehrte.

»Na, da erwartet hoffentlich niemand unmittelbare Erkenntnisse«, konstatierte Glander trocken.

Aufgeregt warf Harnack ein: »Eben! Und deshalb möchten die Damen Lehmann, dass du dich des Falles annimmst. Warte mal, ich gebe dir Lea, die hat die beiden gerade mit Hochprozentigem versorgt. Hier ist sie.«

»Hallo, Martin! Bist du noch weit weg? Die beiden sind völlig durch den Wind. Es gibt da auch noch einen kleinen Bruder, Holger, zu dem sie aber schon jahrzehntelang keinen Kontakt mehr haben. Was ich bislang aus ihnen herausbekommen habe, ist nur, dass die Familie all die Jahre dachte, die Mutter habe sich aus dem Staub gemacht und die Familie sitzenlassen. Schon das wäre ja hart genug …«

Glander konnte sich eines leichten Anflugs von Stolz nicht erwehren. Lea war offiziell keine Mitarbeiterin seiner Agentur, dennoch hatten die Ereignisse im September ihr Interesse für seine Arbeit geweckt. Das war nicht von der Hand zu weisen. Lea hatte in Schottland Anglistik, Germanistik und im Nebenfach Psychologie studiert. Nach der Krebsdiagnose ihres Mannes hatte sie ihre langjährige Tätigkeit als Simultandolmetscherin aufgegeben und bisher noch nicht wieder aufgenommen. Sie hatte erst einmal wieder Boden unter den Füßen gewinnen müssen, wie sie es formulierte. Trotz einiger sehr guter Angebote schien sie nicht in ihren alten Beruf zurückkehren zu wollen. Der Fall im September hatte zudem etwas ganz anderes bei ihr in Bewegung gesetzt: Lea hatte ein paar alte Kontakte spielen lassen und sich eine Gasthörerschaft für Forensische Psychiatrie an der Freien Universität Berlin verschafft.

Erst jetzt bemerkte Glander, wie erkältet Lea klang. »Lea, mach langsam, ich bin in zehn Minuten bei euch. Ist deine Erkältung nicht besser geworden?«

»Nein, im Gegenteil, ich bin ziemlich erschöpft, aber ich kann die beiden jetzt auch nicht heimschicken. Ich meine, stell dir vor, du hast beinahe fünfzig Jahre in dem Glauben gelebt, deine Mutter habe dich und die Familie im Stich gelassen, und dann findest du heraus, dass sie ermordet wurde!«

»Ich weiß. Das muss sehr schlimm für die beiden sein. Wie gesagt, ich bin gleich da, und dann rede ich mit ihnen. Ich bin schon am Hindenburgdamm.«

Sie verabschiedeten sich, und Glander rief Merve an.

*

Merve Celik, Exkommissarin des LKA 1 und Glanders Partnerin in der Ermittlungsagentur Celik & Glander, legte die Farbrolle in den Tiegel und wischte sich mit dem Handrücken eine Strähne ihrer schwarzen Lockenpracht aus dem Gesicht, die voller apfelgrüner Farbsprenkel war. Günay hatte auf der Farbe bestanden, und Merve wusste, dass es sinnlos war, mit ihrer fünfjährigen Nichte zu diskutieren, wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Merve hatte auch gar nicht vor zu diskutieren. Günay und ihre zwei Jahre ältere Schwester Gülsen hatten genug durchgemacht. Merves Schwester Sevgi hatte ihren Mann nach acht Jahren Ehe verlassen. Acht Jahre, in denen er sie regelmäßig geschlagen und erniedrigt hatte. Merve hatte davon erst erfahren, als ihre Schwester mit den Kindern eines Tages vor ihrer Wohnungstür gestanden hatte, weil er sich auch an ihnen hatte vergreifen wollen. Kadir, Merves Schwager, tobte vor Wut über den angeblichen Hochverrat seiner Frau und lauerte ihr ein paar Tage später vor der Kita auf. Acht Wochen lang hatte Sevgi anschließend im Krankenhaus gelegen. Sie würde für immer entstellt bleiben, aber wenigstens lebte sie.

Ein Blick aus dem Fenster ließ Merve über das nasskalte Wetter fluchen. Die Farbe würde eine ganze Zeit lang zum Trocknen brauchen, und Günay würde noch ein paar Tage auf ihr Zimmer warten müssen. Merve stieg die Treppe hinab und ging ins Wohnzimmer. Sevgi saß auf dem Sofa und nähte einen Vorhang. Als sie Merve bemerkte, blickte sie von ihrer Arbeit auf und lächelte. Zwei wulstige Narben, Folgen der tiefen Schnitte, die ihr Mann ihr zugefügt hatte, durchzogen ihr Gesicht und verzerrten ihr Lächeln. Sevgi hatte drei Bauchoperationen durchstehen müssen, aber die Ärzte hatten gesagt, alles sei gut verheilt und sie habe großes Glück im Unglück gehabt. Wie jedes Mal, wenn sie ihre Schwester ansah, musste Merve an den Anruf ihres Kollegen denken, der ihr von dem Angriff auf ihre Schwester berichtet hatte. Gewaltige Wut durchströmte sie, und ihre Hände begannen zu zittern.

Sevgi legte ihr Nähzeug beiseite und zeigte neben sich auf das Sofa. »Komm, mach eine Pause, der Tee ist noch warm. Oder willst du lieber ein Bier? Das ist im Kühlschrank.«

Kadirs Prozess würde im März beginnen, bis dahin saß er in U-Haft. Die Mädchen waren in therapeutischer Behandlung und schienen gute Fortschritte zu machen. Endlich wieder ein eigenes Zuhause zu haben tat ihnen gut. Merve war sehr gerührt davon, wie schnell Lea ihrer Schwester und den Kindern dieses Haus im Dürener Weg vermittelt hatte. Es hatte seit dem Sommer leer gestanden, da der Besitzer ums Leben gekommen war, ein im Ausland lebender entfernter Verwandter kein Interesse daran hatte und auch der Makler es nicht losgeworden war. Lea hatte damals die Leiche des Hausbesitzers gefunden und Glander bei den Ermittlungen kennengelernt. Später hatte sie einen lächerlich geringen Kaufpreis mit dem Makler verhandelt, und jetzt gehörte dieses kleine Reihenhaus Merve. Die hatte es mit dem großzügigen Honorar für ihre letzten Fälle anzahlen können und finanzierte den Rest und die Renovierung durch einen günstigen Kredit. Die sanitären Einbauten und das Verlegen der elektrischen Leitungen hatte sie von Fachleuten machen lassen, den Rest erledigte sie selbst mit der Hilfe der Nachbarsfamilie, den Saberskys.

Merve nahm neben ihrer Schwester Platz und legte den Arm um sie. Sie würde ihren Schwager mit keinem milden Urteil davonkommen lassen, das hatte sie sich an Sevgis Krankenbett geschworen. Und er täte gut daran, auch nach seiner Gefängnishaft nie mehr bei ihnen aufzutauchen. Bei dem Anblick ihrer Schwester durchflutete Merve erneut eine Welle des Hasses und der Ohnmacht. Während ihrer gesamten Kripolaufbahn hatte sie stets eine emotionale Distanz zu ihren Fällen und den Opfern bewahren können. Das hatte auch maßgeblich zu ihrer hohen Aufklärungsrate beigetragen. Im Falle ihrer Schwester wollte ihr das einfach nicht gelingen, sosehr sie sich auch bemühte. Sevgis Schicksal ging ihr direkt unter die Haut, sie wollte Rache. Ihr Schwager sollte genau die gleichen Schmerzen erfahren, die ihre Schwester erleiden musste. Sie würde für Gerechtigkeit sorgen. Gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft würde sie alles dafür tun, dass die Beweislage wasserdicht war und er das höchstmögliche Strafmaß erhielt. Wofür arbeitete sie sonst auf der Seite von Recht und Gesetz? Ihr Handy riss sie aus ihren trüben Gedanken.

»Celik!«, meldete sie sich.

»Merve, ich bin’s. Hast du mitbekommen, was bei euch in der Straße los ist?«

Merve erhob sich vom Sofa. »Hallo, Glander! Nein, ich stand bis eben in einem Traum aus Apfelgrün. Ich bin am Malern. Was ist denn passiert?«

»Die neuen Nachbarn in Leas Zeile haben zwei Skelette in ihrem Keller gefunden. Alles deutet darauf hin, dass es sich bei dem einen Leichnam um die Mutter der Runen handelt. Die ist Mitte der Sechziger spurlos verschwunden. Lutz rief mich gerade von Lea aus an, er sitzt mit den beiden bei ihr im Wohnzimmer.«

Die Lehmann-Schwestern trugen ihren Spitznamen »die Runen« nicht grundlos. Das Klischee der konventionellen, nüchternen und leicht versnobten Pferdefreundinnen in Barbourjacke und Cavallo Reitstiefeln traf ganz und gar nicht auf sie zu, denn die zwei hatten einen für diese Kreise eher ungewöhnlichen ausgeprägten Hang zur Esoterik. Sie ließen sich regelmäßig ihre Horoskope erstellen und sich vor wichtigen Entscheidungen von ihrer Seherin Tarotkarten legen. Vor diesem Hintergrund und in Anlehnung an ihre Vornamen hatte irgendein Nachbar ihnen vor Jahren diesen humorigen Spitznamen gegeben. Auf Merve wirkten die beiden Schwestern so humorig wie jüngere Versionen der schrulligen Brewster-Schwestern in Arsen und Spitzenhäubchen – also auch ein bisschen unheimlich.

Sie pfiff leise durch die Zähne. »Das ist krass. Hat Lutz gesagt, wer für den Fall zuständig ist?«

»Unser alter Freund und Kupferstecher: Prinz. Deshalb möchten die beiden auch, dass wir uns der Sache annehmen.«

Merve zögerte keinen Augenblick. »Ich bin in einer halben Stunde bei Lea. Bis gleich!« Dann erklärte sie Sevgi: »Ich muss duschen und dann rüber zu Lea. Wir haben einen neuen Fall. Ich erzähl dir mehr, wenn ich etwas weiß, ja? Das Zimmer ist fast fertig, die letzte Wand mache ich morgen. Kommst du alleine klar?«

Sevgi lächelte und nickte. »Ja, geh nur. Wenn etwas sein sollte, schicke ich eines der Mädchen zu euch.«

Merve drückte die Schulter ihrer Schwester und ging ins Bad im Obergeschoss.

*

Glander grüßte den Kollegen der Schutzpolizei, der an der geöffneten Tür des Hauses mit der Nummer 56 stand. Drinnen war einiges los: Das sechsköpfige Team der Tatortermittler war angerückt, ebenso drei Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens, das die Leichentransporte bei Hinweisen auf Gewaltverbrechen übernahm. Während die Überreste des ersten Opfers aus dem Haus getragen wurden, hielt Glander für einen Moment inne und senkte den Kopf. Jedem Toten und dessen Schicksal gebührte Respekt. Wenn es sich bei dem einen Leichnam tatsächlich um die Mutter der beiden Lehmann-Schwestern handelte, hatte das Kismet es wahrlich nicht gut mit ihnen gemeint.

Nachdem die Bestatter an ihm vorbeigegangen waren, begrüßte Glander Polizeimeisterin Griese, die sich vor Leas Tür die Beine in den Bauch stehen durfte. Karla Griese und Glander duzten sich seit ein paar Wochen zwar privat, offiziell waren sie aber beim Sie geblieben. Die Dinge waren kompliziert zwischen Schupo und Kripo, und er wollte ihr den Stand nicht erschweren. Karla Griese musste nicht überrascht tun, ihn hier anzutreffen. Der Buschfunk auf dem Revier 4 funktionierte bestens, und jeder, bis hin zur Kantinenkraft, hatte von Glanders Kündigung und seiner neuen Agentur gehört. Ebenso hatte sich seine Liaison mit der gutaussehenden Zeugin vom »Eifelkiller-Fall« im Sommer herumgesprochen.

Karla Griese schüttelte Glanders Hand. »Hauptkommissar Glander, schön, Se wiedazusehen!«

»Nur noch Glander, Frau Griese, der Hauptkommissar ist Geschichte. Wie ist denn die Lage drinnen?«

Karla Griese zog die rechte Augenbraue hoch. »Hauptkommissar Prinz is von nichts hier anjetan. Is ja ooch keen Wunda, so ’n alta Fall hat et in sisch inne Rejel. Fellner is ooch drin, der tut wie imma, watta kann. Dabei wär der viel lieba bei seiner kleenen Familie, der is doch jrade erst aus der Elternzeit zurück. Professor Harnack wollte noch uff Ihr Eintreffen warten, und die beeden Damen Lehmann jeben jrade ihre DNA-Proben ab. Frau Storm hält sisch wacka. Wenn Se mir die Bemerkung erlooben: Se würkt ziemlich krank uff mich, und nu hat se ooch noch den janzen Trubel hier am Hals. Juht, det Se jetzt da sind.« Sie zwinkerte ihn an und öffnete ihm die Tür.

Im Flur wurde Glander von Talisker begrüßt. Selbst wenn der große Hund sich vorsah, war es besser, dessen wackelndem Hinterteil aus dem Weg zu gehen, wenn man nicht ins Straucheln geraten wollte. Glander klopfte dem vierbeinigen Freund sanft auf die Flanken und wuschelte ihm durchs Fell, wobei er sich kaum bücken musste. »Hey, Digger, ganz ordentlich was los hier, was?«

Der Hund schaute missmutig zum Wohnzimmer, und Glander konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Die Lehmann-Schwestern gehörten nicht zu Taliskers Favoriten. Zu stark war ihr blumiges Parfüm, das sie literweise über sich zu versprühen schienen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass selbst das kräftige Veilchenodeur nicht den unter allem schwelenden Pferdegeruch übertünchen konnte, der Taliskers Jagdtrieb weckte. Wenn die beiden Frauen in der Nähe waren, war der Hund erheblich nervöser als üblich. Das hieß, er war ein wenig unruhig im Vergleich zu seinem sonst so stoischen Temperament.

»Ich weiß, T…«, Glander sprach den Buchstaben englisch aus, er hatte sich sehr schnell an Lea und ihren Hund gewöhnt, »… ich weiß. Pferdesalami ist was Gutes, hat meine Oma Ellie auch immer gesagt. Komm, wir gehen zu Lea!«

Bei der Erwähnung des Namens seines Frauchens spitzte Talisker die Ohren und wedelte erneut mit dem Schwanz, dann trottete er gelassen hinter Glander her.

Als Glander das Wohnzimmer betrat, bot sich ihm ein Bild geschäftigen Treibens. Sieben Menschen waren dort versammelt. Mit einer Größe von über ein Meter neunzig stach die massige Erscheinung seines ehemaligen Kollegen Prinz aus der Gruppe heraus wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Aber Glander wusste, dass dieser erste Eindruck leider gewaltig täuschte. Prinz lief vor Leas Esstisch auf und ab und kaute auf dem Nagel seines linken kleinen Fingers herum, während sein Assistent Fellner den beiden Damen Lehmann Fragen stellte. Lutz Harnack, Glanders alter Jugendfreund aus Wannsee-Tagen, saß mit Lea im Wintergarten und schaute besorgt zwischen der Szene am Esstisch und Lea hin und her. Eine seiner Kolleginnen war dabei, den beiden Nachbarinnen Speichelproben für die DNA-Analyse abzunehmen.

Sigrun Lehmann hatte ihren Mund geöffnet, sie wirkte sehr gefasst, wohingegen ihre ältere Schwester Gudrun hemmungslos weinte. Vor der lag schon ein Stapel benutzter Taschentücher, und sie zog gerade ein frisches aus einer Spenderbox. Als sie Glander bemerkte, sprang sie auf und warf sich ihm in die Arme. »Martin, ich bin ja so froh, dass Sie da sind! Stellen Sie sich nur vor: Man hat das Skelett unserer Mutter gefunden! Sie hat uns vor all den Jahren gar nicht verlassen! Man hat sie umgebracht …« Ihre weiteren Ausführungen gingen in einen Weinkrampf über.

Glander war unwohl, hysterisch heulende Frauen hatten immer diesen Effekt auf ihn. Er tätschelte halbherzig ihren Rücken und murmelte etwas Unverständliches über ihren Kopf hinweg, während er sich aus ihrer Umklammerung löste.

Lea kam herüber und versuchte die Nachbarin zu beruhigen. »Komm, Gudrun, ist ja gut. Setz dich wieder.« Sie warf Glander einen Blick über die Schulter zu. Sein Mund formte ein stummes Danke.

Die Mitarbeiterin der Kriminaltechnik trat zu ihnen. »Frau Lehmann, dürfte ich dann auch Ihre Probe abnehmen?«

Gudrun Lehmann atmete tief durch und nickte tapfer. »Aber natürlich, selbstverständlich. Entschuldigen Sie, ich bin etwas aufgewühlt. Was soll ich denn tun?«

Während ihr die kurze Prozedur erklärt wurde, trat Lea zu Glander. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und sagte leise in sein Ohr: »Ich hatte mir unser Wiedersehen eigentlich etwas anders vorgestellt …«

Glander nickte und drückte sie kurz an sich. »Ich mir auch, glaube mir. Wie geht es dir?«

Lea winkte ab. »Grauenvoll. Ich wäre am liebsten oben in meinem Bett, aber es hilft ja nichts. Stell dir vor, letzte Woche meinte Gudrun noch zu mir, dass die neue Nachbarin ihrer Mutter sehr ähnele, zumindest ihrer Erinnerung nach, denn Annie Lehmann habe die Familie verlassen, als sie und ihre Schwester noch sehr klein gewesen seien. Und nun wurden ausgerechnet im Keller der Wallaces die sterblichen Überreste von Gudruns Mutter gefunden, direkt im Nebenhaus! Da hat sich der große Drehbuchautor etwas wirklich Schreckliches ausgedacht. Ich hoffe jedenfalls, der Spuk ist für heute bald vorbei.« Leas Gesicht war gerötet, ihre Augen glänzten fiebrig.

Glander hielt ihr die Hand auf die Stirn und entschied: »Für dich ist jetzt Schluss. Ich kümmere mich um den Rest. Leg du dich mal lieber hin. Du hast Fieber und gehörst ins Bett. Ich drehe nachher noch eine Runde mit Talisker und sehe dann nach dir.«

Lea ließ sich nicht zweimal dazu auffordern. Dankbar seufzend gab sie Glander einen Kuss und stahl sich aus dem Wohnzimmer. In der Küche mixte sie sich einen Hot Toddy im größten Kaffeepott, den sie besaß. Whisky, heißes Wasser und Honig – das uralte Grippeantidot ihrer Familie. Als es an der Haustür klingelte, ließ sie noch kurz Merve ein und zog sich anschließend ins obere Geschoss zurück. Talisker schlich hinter ihr die Treppe hinauf.

Lea entledigte sich ihrer Jeans, schlüpfte in ihren alten grauen Jogginganzug und fiel erschöpft ins Bett. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und schlürfte zügig an ihrem Hausmittelchen gegen Erkältungen.

Der große Hund machte es sich im Eingang zum Schlafzimmer bequem, den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt. Sein Frauchen würde gleich in Ruhe schlafen. An ihm käme niemand vorbei.

*

Merve hatte sich mit den beiden Lehmann-Schwestern in den Wintergarten zurückgezogen, nachdem die Speichelproben genommen waren und die Kollegin von der Kriminaltechnik gegangen war, und schenkte ihnen gerade von dem kräftigen Glayva Liqueur nach, einem schottischen Whiskylikör, den Lea eigens für ihre beiden Nachbarinnen vorrätig hielt. Feine Aromen von spanischen Orangen, brasilianischen Mandeln, Zimt und Honig machten ihr den Mund wässrig, doch jetzt musste sie sich erst einmal um die beiden Frauen kümmern. Auch wenn das momentan nur das Anreichen weiterer Taschentücher und das Murmeln beruhigender Floskeln bedeutete. Glander war offenbar heilfroh, dass sie da war.

Hauptkommissar Rolf Prinz schaute sich diese Szene kurz an und wandte sich dann schroff an seinen ehemaligen Kollegen Glander. »Sie wird man wohl überhaupt nicht los, was? Ich rate Ihnen gleich eines: Halten Sie sich hier raus, das geht Sie nichts mehr an, das ist Angelegenheit der Kripo! Und Sie haben es ja vorgezogen, der nicht mehr anzugehören. Wenn ich mitbekomme, dass Sie mir hier wieder reinpfuschen, sorge ich dafür, dass Sie dieses Mal beide, Sie und die Celik, wegen Behinderung laufender Ermittlungen belangt werden. Und das nicht zu knapp. Da können Sie Gift drauf nehmen!« Großspurig stocherte er mit dem Zeigefinger in der Luft herum.

Glanders Widerwillen diesem ehemaligen Kollegen gegenüber war ihm selbst reichlich unheimlich, so intensiv war die Abneigung, die er empfand. Allein das Erscheinungsbild des Hauptkommissars war eine Zumutung. Glander wollte sich gar nicht ausmalen, wann der Anzug, den Prinz trug, das letzte Mal eine Reinigung gesehen hatte. Prinz war eigentlich in einem Alter, in dem es geboten war, auf Haare zu achten, die niemand sehen wollte, weil sie an unschönen Stellen wuchsen, doch das schien ihn nicht zu stören. Eine chronische Rhinitis ließ ihn unablässig die Nase hochziehen, wenn er sie nicht unter großem Radau putzte. Er bohrte ungeniert in Nase und Ohren, und es verlangte einem an manchen Tagen alles ab, sich länger als ein paar Minuten im selben Raum mit dem Mann aufzuhalten. Und auch das Zähneputzen schien der Kripoklops eher als Kür denn als tägliche Pflicht anzusehen. Sein ungepflegtes Äußeres stand in krassem Gegensatz zu seinem überaus gepflegten Haarschopf, und Glander rätselte einmal mehr, wie dem Kripobeamten dieser Widerspruch nicht beim Blick in den Spiegel auffallen konnte. Glander selbst kam ohne eine Dusche am Morgen gar nicht in die Gänge. Bei Prinz deutete alles auf eine oberflächliche Katzenwäsche und die anschließende Applikation einer üppigen Menge Aftershave hin, das von der ganz süßen und billigen Sorte, da waren sich alle Kollegen einig, wenn sie auch noch nicht herausbekommen hatten, welche Marke er kaufte. Stil verortete Prinz sicherlich am Ende eines Besens, jedenfalls sahen seine Anzüge danach aus: Sie waren alle aus reinem Polyester und entweder eine Kleidergröße zu eng, sodass sie über seiner Wampe spannten, oder erheblich zu groß und zerknittert, wobei keine seiner Hosen über die Knöchel reichte. Der Mann war ein wahres Erscheinungsguernica. Glander selbst trug eher ungern feinen Zwirn, aber für Anlässe, die das erforderten, besaß er durchaus die richtigen Anzüge nebst passenden, dezent gemusterten Seidenkrawatten einer nicht ganz preiswerten britischen Traditionsmarke.

Auch fachlich hatte die Prinzenrolle, wie man den beleibten Kripobeamten hinter vorgehaltener Hand nannte, eher wenig zu bieten. Dennoch war Prinz bei aller Unfähigkeit ein Meister im Taktieren, die Wendung »Teile und herrsche« hätte auch von ihm stammen können, wenn er zu jener Zeit schon gelebt hätte. Er herrschte jeden an, der ihm in die Quere kam, und teilte nach Möglichkeit niemandem etwas mit, zumal er in der Regel auch nichts mitzuteilen hatte. Merve konnte ein Lied davon singen, und auch Fellner, Prinz’ derzeitiger Kollege, hatte bereits den gramgebeugten Blick, der sich nach ein paar Wochen der engen Zusammenarbeit auf den Gesichtern aller Assistenten des Kriminalhauptkommissars zeigte.

Glander verkniff sich die Antwort, die er Prinz am liebsten gegeben hätte, er wollte den Mann möglichst schnell loswerden, um sich um die Damen Lehmann und dann um Lea kümmern zu können. Sachlich entgegnete er: »Herr Prinz, ich kann nun wirklich nichts dafür, dass hier Überreste von Toten gefunden wurden. Es ist das gute Recht der Hinterbliebenen, mir den Auftrag zu erteilen, der Sache nachzugehen, und das ist übrigens mein Beruf, auch wenn Ihnen das nicht passt. Sie können allerdings gewiss sein, dass ich, wenn ich etwas herausfinde, das Sie selbst nicht in der Lage wären herauszufinden, Ihnen dies selbstverständlich mitteilen werde. Und jetzt wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich den weiteren Ermittlungen woanders widmen könnten. Der Hund muss raus.«

Der Hund näherte sich mit seiner Lederleine im Maul und blickte Hauptkommissar Prinz vorwurfsvoll an. Dessen Gesicht nahm das unverwechselbare Rot an, das im gesamten Berliner LKA legendär war. Gleich würde es in ein leuchtendes Purpur übergehen. Er erhob seinen Zeigefinger noch ein letztes Mal, bevor er im Hinausgehen zischte: »Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!«

Fellner folgte ihm auf dem Fuße und drehte sich an der Tür noch einmal grinsend um, bevor er sie leise von außen zuzog.

Glander holte tief Luft und trat dann zu Merve und den beiden Nachbarinnen. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich halte es für das Beste, Sie gehen erst einmal nach Hause und versuchen sich zu beruhigen. Es gibt nichts, das Sie oder wir heute noch tun können.«

Gudrun Lehmann sah ihn traurig an. »Ach, Martin, das ist alles so schrecklich! Werden Sie uns helfen?«

Ihre Schwester Sigrun stimmte ein: »Ja, Martin, Sie müssen uns einfach helfen. Unsere Mutter wurde ermordet, Sie müssen den Mörder finden, bitte, Martin!«

Glander wechselte einen Blick mit seiner Kollegin, die ihm unmerklich zunickte. »Lassen Sie uns eine Nacht darüber schlafen, und wenn Sie möchten, dass wir uns der Sache annehmen, dann werden wir das morgen besprechen, okay? Es gibt, wie gesagt, nichts, das wir heute noch unternehmen können.«

Merve begleitete die beiden Frauen zu deren Haustür und versprach, sich am nächsten Tag bei ihnen zu melden. Anschließend ging Glander mit Merve und Talisker im Schlepptau den Dürener Weg bis zu der Zeile, in der Sevgi wohnte, hinunter und verabschiedete sich von ihr.

»Dann machen wir uns wohl mal Gedanken darüber, wie wir zwei Morde aufklären, die vor beinahe fünfzig Jahren begangen wurden.«

»Geht klar, Partner! Eine Zeitreise in die Sixties, das wird sicherlich interessant. Wir sehen uns morgen. Ruf mich an, wenn ihr so weit seid!« Mit einer militärischen Grußgeste drehte sich Merve um und lief zum Haus ihrer Schwester.

Glander schaute Talisker an. »Das wird alles andere als ein leichter Fall. Hoffentlich lösen wir ihn. Na komm, Digger, jetzt drehen wir erst mal eine Runde, und dann kümmern wir uns um dein Frauchen!«

Was den Raben gehört

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