Читать книгу Windmar - Ben Jansen - Страница 10
Оглавление3 Die Kinder
Die Kinder waren eigentlich keine Kinder mehr; zumindest betrachteten sie sich selbst nicht als solche. Sie sahen nicht aus wie Geschwister, und nach allem, was sie wussten, waren sie das auch nicht. Dennoch hatten sie die meiste Zeit ihres Lebens zusammen verbracht, und wenig Erinnerung an das Vorher. Alex sah manchmal noch den langen, dunklen Gang in dem Waisenhaus vor sich, und Sophie erinnerte sich an das schlechte Essen an dem großen Tisch mit anderen Mädchen. Das alles aber war lange her, und oft schien es, als ob sie schon immer mit Margaret gelebt hätten.
Alexander war vierzehneinhalb; groß und kräftig für sein Alter, mit braunen Augen und kurz geschnittenen Haaren von undefinierbarer Farbe – irgendwo zwischen blond, braun und grau, je nach Tageslicht. Er las viele Bücher, und es machte keinen Unterschied für ihn, von was sie handelten. In dem neuen Haus würde er vielleicht sogar lesen können, nachdem Margaret schon Licht aus befohlen hatte – weil sie ihr Schlafzimmer im Erdgeschoß hatte, würde sie die Taschenlampe unter seiner Decke hoffentlich nicht bemerken. Handwerklich geschickt war es normalerweise er, der Reparaturen und die anstrengenden Arbeiten in Haus und Garten ausführen musste. Das war oft schwer, aber es gefiel ihm, dass er dabei ernst genommen wurde. Er wusste, dass Sophie ihn darum beneidete, wenn Margaret ihn die Arbeit so machen ließ, wie er es für richtig hielt.
Sophie war kleiner, ein zartes Mädchen von fast vierzehn Jahren mit schmalen, fast schwarzen Augen. Die langen, dunklen Haare hatte sie immer zu einem dicken Pferdeschwanz zusammengebunden, weil Margaret es so wollte. Am liebsten trug sie kurze Hosen wie Alex, aber das war ihr nicht oft erlaubt. In der Schule musste sie die Uniform tragen, und zuhause gab es einfache Kleider, kurz im Sommer und lang im Winter, mit einer Strickjacke, wenn es kalt war. Sophie mochte Tiere, und alle Tiere mochten Sophie. Gerne hätte sie eine eigene Katze gehabt; oder vielleicht einen kleinen Hund, den sie morgens und abends ausführen konnte. Bisher aber hatte Margaret dies nie erlaubt. Auch sonst fühlte sich Sophie manchmal schlechter behandelt als Alex, denn sie musste Margaret beim Kochen, Waschen und den anderen Haushaltsarbeiten helfen – und niemals schien es gut genug, was sie tat.
Zwischen Alexander und Sophie gab es keine Geheimnisse. Sie standen sich so nahe, wie es eigentlich nur richtige Geschwister können, und beide wussten immer genau, wie sich der andere Teil fühlte. Sie teilten alles, und halfen einander, wo sie konnten. Oft genügte nur ein Blick zwischen ihnen, um Alexander von einer Widerrede abzubringen oder Sophie aufzumuntern.
Mit anderen Kindern aber redeten beide nicht viel. In den letzten Jahren waren sie jeweils auf getrennte Schulen gegangen; Sophie nur mit Mädchen, und Alex auf eine reine Jungenschule. Beide waren mit sich und auch ohne viele Freunde zufrieden. Jedes Jahr zogen sie an einen anderen Ort, und so war ohnehin zu wenig Zeit, um lange Freundschaften aufzubauen. Beide waren Außenseiter, die sich in den Schulpausen abseits hielten. Weil sie aber überlegt und selbstbewusst sprachen, waren sie respektiert genug, um von den jeweiligen Mitschülern akzeptiert und in Ruhe gelassen zu werden. Sophie hatte ihre letzte Schule gemocht, und wenn sie auch nicht viel an den jeweiligen Moden und Gesprächen und kleinen Intrigen teilnahm, so genoss sie, mit anderen Mädchen zusammen zu sein und diese zu beobachten. Die meisten Jungen in seiner Klasse bewunderten Alexander, weil er nicht viel redete, selbst dann beherrscht blieb, wenn andere Streit suchten oder ein Lehrer ihn härter anfasste, und weil er im Sport ausdauernd und kräftig war.
Margaret war nicht mehr viel größer als Alexander, weil er so schnell gewachsen war. Es war schwer zu schätzen, aber sie konnte nicht viel älter sein als vielleicht dreißig Jahre. Anders als für die Kinder wurde ihr Geburtstag nie gefeiert. Sie war schlank und sah sportlich aus, mit offenen braunen Haaren, die nie länger wurden als bis zu ihrem Kinn. Sie war sehr schön. Aber sie schminkte sich nie, war einfach gekleidet und verhielt sich auch sonst ganz anders als andere Frauen, die sie kannten. Und natürlich – so hatten die Kinder schnell herausgefunden, schon vor langer Zeit, als sie noch jünger waren – hatte Margaret auch Augen auf der Hinterseite des Kopfes. Niemals entging ihr auch nur die kleinste Kleinigkeit, die um sie herum passierte. Oftmals wusste sie sogar, was in anderen Zimmern des Hauses vor sich ging, ohne auch nur aufzusehen. Überhaupt war es schwer, irgendetwas vor ihr zu verheimlichen.
Margaret hatte eine Vorliebe für feste, flache Schuhe, die sie bei jedem Wetter trug. Sie lachte selten und war sehr streng. Wer aus der Reihe tanzte, hatte bei Margaret nichts zu lachen – und es war egal, ob das die Kinder waren, Nachbarn oder ein unfreundlicher Ladenbesitzer. Wenn Alexander und Sophie auch meist keine wirkliche Angst vor ihr hatten, so wussten sie es besser, als ihr zu widersprechen oder nicht zu gehorchen.
Gleichzeitig aber sorgte Margaret gut für sie. Zwar lebten sie relativ einfach, aber sie hatten immer neue, gute Kleidung, reichlich Essen und alle Bücher, die sie haben wollten. Wenn die Kinder krank waren, wurde nicht an Medikamenten gespart, und wenn nötig, kam der Arzt sogar direkt ins Haus. Margaret versorgte sie dann mit Tee, und kochte den beiden ihre Lieblingsessen.
Überall, wo sie lebten, meldete Margaret sie bei guten Schulen an – selbst, wenn sie dahin täglich weite Strecken mit dem Bus fahren mussten. Günstig konnten die Schulen nicht sein. Und Margaret ermunterte sie, ihr alles zu erzählen, was sie dort erlebten. Sie nahm Teil am Leben der Kinder. Die anderen Kinder auf diesen Schulen kamen normalerweise aus wohlhabenden Familien; von Gesprächen wussten die Kinder, dass die Eltern Anwälte oder Geschäftsführer waren, auf jeden Fall aber einen angesehenen Beruf hatten.
Bei ihnen wurde niemals über Geld gesprochen. Die Kinder wussten nicht, ob überhaupt und was Margaret arbeitete. Meist war sie jedenfalls den ganzen Tag zuhause. Hin und wieder schrieb sie Briefe in ihrem Zimmer, und abgesehen von der wöchentlichen Fahrt in die Stadt verließ sie das neue Haus eigentlich nur, um diese in den Briefkasten im Dorf zu werfen. Dabei bekam sie selbst nur selten Post, und normalerweise waren es Rechnungen.
Ganz am Anfang hatten sie in einer Wohnung in einer großen Stadt gelebt. Einige Treppen hoch, nur mit zwei Zimmern und einem kleinen Bad; die Küche hatten sie mit einer anderen Familie geteilt. Alex und Sophie erinnerten sich an den schmutzigen Hof, in dem immer Wäsche hing, und die anderen Kinder, mit denen sie nicht spielen durften. Margaret war selbst sehr jung gewesen, und die Nachbarn hatten sie nicht gut behandelt. Bald aber waren sie in das erste Haus in einem Dorf gezogen, und seitdem hatten sie fast immer auf dem Land gewohnt.
Nur einmal wohnten sie zwischendurch für fast ein Jahr in einem Reihenhaus in einer kleinen Stadt. Die Gegend war ärmlich und heruntergekommen. An den Häusern war der Putz abgebröckelt, und manchmal regnete es durch das Dach. Alex hatte sich dort mit zwei Brüdern aus der gleichen Straße angefreundet, die etwas älter waren. Dauernd hatte er mit denen auf einem leeren, dreckigen Grundstück Fußball gespielt, und Sophie war allein geblieben.
Das war kein schönes Jahr gewesen, weil sie sich oft gestritten hatten. Auch Alex wurde mit seinen Kameraden nie wirklich glücklich, und manchmal hatte er sich mit den Brüdern geprügelt. Irgendwann aber war die Familie mit den beiden Jungen wohl in Schwierigkeiten geraten. Eines Morgens hatte die Polizei den Vater abgeholt, und die Mutter zog mit ihren Söhnen woanders hin, ohne dass die Alex auch nur auf Wiedersehen gesagt hätten. Sehr bald darauf waren sie auch selbst wieder umgezogen.
Für kurze Zeit lebten sie sogar in einer kleinen, windschiefen Kate unmittelbar an der Steilküste, ganz im Süden. Die Fenster gingen direkt zur See hinaus, und immer wehte ein starker Wind, der nach Meer und Salz roch. Das waren aufregende Wochen gewesen. In dem alten Haus gab es noch nicht einmal elektrisches Licht! Eine enge Holztreppe ging an der Klippe entlang nach unten bis an einen schmalen Kieselstrand, und es war dort, wo die beiden zu guten Schwimmern geworden waren. Nicht einmal in eine Schule mussten sie gehen, und Sophie durfte sich um eine Ziege im Garten kümmern. Margaret hatte die Kinder oft abends allein gelassen, weil sie in einer nahegelegenen Stadt zu tun hatte. Alex hatte stundenlang vor dem Kamin gelesen, und einmal war er dabei sogar auf dem Sofa eingeschlafen. Was hatte das für einen Ärger gegeben, als Margaret im frühen Morgengrauen nach Hause kam! Er erinnerte sich nicht gerne daran.
Das letzte Dorf, in dem sie gelebt hatten, lag ganz oben im Norden. Dort gab es niedrige, graue Häuser, und die kargen Wiesen waren von alten, verwitterten Steinmauern umgeben. Auf den Wiesen standen kleine Rinder mit ganz langen, braunen Haaren. Der Winter war kalt, und es gab viel Schnee. Die Menschen sprachen einen harten und oftmals schwer verständlichen Dialekt. Wie hier hatten sie im Garten einen kleinen Schuppen gehabt, in dem manchmal eine alte dicke Katze schlief.
Ansonsten aber war das neue Zuhause in Windmar ganz anders. Hier sahen die Häuser freundlicher aus, die Sonne stand höher und es war viel wärmer. Die Landschaft bestand aus sanft geschwungenen Hügeln und kleinen Wäldern. Es gab blühende Obstbäume, und die Wiesen hatten eine satte, dunkelgrüne Farbe. Selbst die Rinder waren größer, und hatten ein kurzes schwarzes Fell.
Im Norden hatten sie ganzes Schuljahr gewohnt, und Margaret hatte angefangen, sehr viel Wert auf gute Noten zu legen. Laufend ließ sie sich die Hausaufgaben zeigen und verlangte, dass die Kinder zu den jeweils besten in ihrer Klasse gehörten – selbst wenn das lange Abende mit den Schulbüchern am Küchentisch bedeutete. Einmal hatte sie sogar die Schule von Sophie besucht, weil sie fand, dass das Mädchen eine ungerechte Note für die Hausarbeit erhalten hatte. Die Kinder hatten nie herausgefunden, was Margaret der Lehrerin gesagt hatte. Die aber hatte die Bewertung geändert, und war für den Rest des Schuljahres besonders nachsichtig mit Sophie gewesen.