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Die merkwürdigen Experimente des Herrn Lautental

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Warum haben Menschen eigentlich keinen Schwanz?

Dieser schwierigen Frage ging Herbert Lautental an diesem Sonntagmorgen mit einiger Konzentration nach. Er saß in seinem gemütlichen Sessel am Fenster, die Pfeife im Mund, die Finger der rechten Hand stützend gegen die Stirn gepresst. Er hatte Aussicht auf eine grüne Landschaft, die den Frühling in all seiner Schönheit präsentierte. Doch bemerkte er diese Schönheit gar nicht. Seine Gedanken waren viel zu sehr mit dieser einen Frage beschäftigt: Wieso, zum Teufel nochmal, haben die Menschen keinen Schwanz?

Erstmals war ihm dieser nagende Gedanke vorige Woche in den Kopf geschossen, als er zum Abendmahl bei Baron Bockschuss eingeladen war. Die Villa Bockschuss lag abseits des Dorfes auf einem kleinen Hügel, und von Lautentals bescheidenem Haus aus musste man quer durch das Dorf wandern. Er war kein Mensch, der große Gesellschaft bevorzugte, und dadurch kam es erstaunlich selten vor, dass er überhaupt einen Schritt in die Zivilisation tat, wenn es nicht unbedingt nötig war. Seine Speisen besorgte ihm ein dummer Bauerntölpel namens Fritz, dessen einzige Bezahlung aus einer blinkenden Münze bestand. Häufig gab Lautental ihm nicht mal das, sondern einen funkelnden Stein, den er als seltenen Schatz bezeichnete. Der dumme Bauerntölpel gab sich grinsend damit zufrieden. Wahrscheinlich hatte der junge Mann (er war vielleicht sechzehn oder siebzehn) bereits eine Kiste mit diesen seltenen Steinen gefüllt, die Lautental an langweiligen Tagen am Flussufer sammelte.

Wie dem auch sei, bei dieser Begehung des Dorfes fielen Lautental einige Personen auf. Er wusste nicht, ob er sie als krank oder einfach nur dumm abstempeln sollte – sie alle gingen krumm. Bei manchen war es wohl nur eine leicht schiefe Ausprägung der Rückenmuskulatur, bedingt durch das schwere Arbeiten am Hof oder im Steinbruch. Doch andere, gerade die alten Leute, schienen wahrhaftig Bälle unter ihrer Kleidung zu tragen. Sie schlurften mit dem Gesicht beinahe am Boden, und es schien ein Argument gegen die Erdanziehungskraft zu sein, dass sie nicht einfach vornüber kippten. Lautental, der Zeit seines Lebens auf eine grade, gesunde Körperhaltung achtete, missfiel diese Gangart der Dorfbewohner. Es war eine Beleidigung für das Auge, so fand er.

Als er dann in der Villa Bockschuss am Esstisch saß, neben sich dicke, kichernde Frauen, blickte er beinahe die ganze Zeit überlegend auf seinen Teller und aß sehr wenig. Die Gattin von Baron Bockschuss, eine nicht minder füllige Frau mit Doppelkinn, erkundigte sich nach seinem Wohlbefinden, und Lautental erwiderte, dass alles in Ordnung sei. Es wäre unhöflich gewesen, hätte er am vollen Esstisch (es waren mindestens zehn Personen zugegen) seine unruhige Frage kundgetan – es hätte sowieso niemand antworten können. Sicher, Baron Bockschuss hätte ihm lachend auf die Schulter geklopft und ihn als Tölpel dargestellt, aber darauf konnte Lautental auch gut verzichten.

Fortan quälten merkwürdige Bilder seinen Kopf; Bilder von aufrecht gehenden Menschen, die ihre Haltung allein einem buschigen Schwanz am Hinterleib zu verdanken hatten. Er wusste nicht, ob er diese Bilder als widerliche Fantasien oder lebensrettende Skizzen einer neuen Rückentherapie ansehen sollte. Der Gedanke an ersteres verschaffte Lautental eine Erregung perverser Herkunft, doch bei der zweiten Möglichkeit musste er mit der Zunge schnalzen. Er, Lautental, vielleicht der Wegbegründer einer neuen Art von Medizin? Doch wie sollte er das anstellen? Wie sollte gewährleistet werden, dass einem normalen Menschen ein Schwanz wuchs? Es war letztlich diese Frage, die ihn beinahe zum Wahnsinn führte, doch sein bald überspanntes Hirn gab nicht auf und lieferte einen ersten Lösungsweg: sein tölpelhafter Diener schoss ihm in den Kopf.

Fritz, der Tölpel, verbrachte die meiste Zeit damit, quer durch die Täler zu rennen, wobei er wild mit den Armen ruderte und undefinierbare Laute ausstieß. Vielleicht war es dieses Hobby, das ihm im Dorf den Ruf des Trottels einbrachte. Der Knabe war sicherlich nicht die hellste Lampe, erledigte aber praktische Aufgaben ohne Wenn und Aber. Diese Haltung gefiel Lautental, und so kam es, dass er Fritz bei seinem nächsten Besuch um etwas mehr als üblich bat. Fritz hörte zu. Fritz nickte. Fritz verstand herzlich wenig.

„Verstehst du denn nicht?“, fragte Lautental ungeduldig, während er heftig mit den Händen gestikulierte. „Du könntest der Assistent bei einem Experiment sein, dass die Anschauung der Rückenmedizin komplett ändern könnte! Was sagst du dazu?“

Fritz überlegte. „Und warum wollen Sie mir einen Besen an den Rücken kleben?“

„Doch nicht kleben! Festbinden! Nur zu Forschungszwecken! Wir binden dir einen hübschen Besen an das Rückgrat und sehen dann, wie du dich damit fortbewegen kannst!“

„Das verstehe ich nicht!“

Lautental schnaufte entnervt und verschwand in seiner kleinen Kammer. Er kam mit einem Besen zurück, dessen Borsten von Spinnenweben und Staub verziert waren. Fritz begutachtete dieses Objekt wie ein Höhlenmensch sein erstes Feuer.

„Komm her!“, rief Lautental. „Ich werde den Besen nun an dir befestigen!“

Die Prozedur dauerte wenige Minuten, und alsbald sah Fritz aus wie eine menschliche Rakete. Lautental hatte den Besen so angebracht, dass das Endstück bei aufrechter Haltung wenige Zentimeter vom Boden entfernt war. Ihm war schnell klar, dass dies ein sehr grober erster Versuch sein würde, doch seine Vorstellungen brauchten zunächst ein Grundgerüst.

„Geh mal ein wenig“, sagte Lautental.

„Wohin?“, erkundigte sich Fritz.

Eine weitere ungeduldige Handbewegung. „Einmal auf und ab im Zimmer!“

Fritz tat wie ihm geheißen. Einen großen Unterschied gab es nicht, auch wenn er deutlich vorsichtiger lief. Am Ende des Wohnzimmers knallte das Oberstück des Besens an einen Balken an der Decke, und der arme Junge wäre beinahe umgefallen.

„Aua!“, rief Fritz erschrocken.

„Sei nicht albern!“, sagte Lautental. „Lass dich jetzt mal richtig nach hinten fallen!“

„Was?“

„Du sollst dich fallen lassen, Herrgott nochmal!“

Fritz sah ihn unbeholfen an, dann erschlaffte sich seine Körperhaltung und er ließ seinen Körper nach hinten fallen. Das buschige Ende des Besens berührte den Boden, und für die Winzigkeit einer Sekunde hatte Fritz die Füße in der Luft und schien einzig von diesem langen, braunen Stock getragen zu werden. Dann rutschte der Besen ab, und Fritz fiel krachend zu Boden. Diesmal gab er einen lauteren Schmerzenslaut von sich.

Stunde um Stunde verging, und Lautental wusste bald selbst nicht mehr, was genau er eigentlich tat. Er suchte verschiedene Methoden, wie man einen tierischen Schwanz durch ein alltägliches Objekt ersetzen konnte. Der Besen entpuppte sich als ausgesprochen unzugänglich im Verüben häuslicher Routine, nicht besser sah es mit einem wilden Ast aus, den Lautental in Windeseile von einem Baum im Garten abgerissen hatte. Fritz beklagte sich außerdem über Kratzer und Schrammen. Besser dagegen war das Experiment mit einem Seil, doch war dieses zu leicht und schlaff, um irgendeine Verbesserung an der Rückenhaltung zu gewährleisten. Nachdem die Abenddämmerung einer finsteren Nacht gewichen war, schickte Lautental seinen dummen Diener nach Hause. Er musste keine Strafe von Fritz‘ Eltern befürchten; sein Vater war ein mürrischer Klotz, der seine Nächte in diversen Schenken verbrachte, und die Mutter schlief um diese Uhrzeit wahrscheinlich schon. Selbst wenn nicht, Fritz würde kein Wort bezüglich Lautentals Versuche aussprechen. Dieses Versprechen hatte sich Lautental mit einem weiteren funkelnden Stein gesichert.

„Es muss doch aber einen Weg geben!“, sagte er sich, während er mit müden, aber immer noch angespannten Augen im Sessel saß und ein Glas Wein hin und her schwenkte.

So saß er eine gewisse Zeit da, als ein Tier direkt vor dem Fenster vorbeihuschte. Lautental richtete sich sofort kerzengerade im Sessel auf und inspizierte die Dunkelheit vor dem Fenster. Er vernahm ein leuchtendes Paar Augen. Er kniff die seinen zusammen und erkannte einen Fuchs. Die beiden starrten sich an. Beute und Opfer.

Lautental wagte eine Probe. Er erhob sich bedächtig und öffnete das Fenster. Es quietschte ein wenig, doch der wachsame Fuchs regte sich kein bisschen. Kalte Abendluft strömte gegen Lautentals Gesicht, nächtliche Ruhe umgarnte ihn.

„Hallo, Herr Fuchs!“, sagte er und lehnte sich ein wenig aus dem Fenster. Das Tier unternahm weiterhin keine Anstalten, sich in irgendeiner Form zu bewegen. Lautental grinste, dann griff er blind neben sich. Auf dem kleinen Tischen, dass für gewöhnlich neben seinem gemütlichen Sessel stand, befand sich noch ein Teller mit kaltem, aber noch essbarem Fleisch. Er griff sich jenes und wedelte damit vor den hungrigen Augen des Fuchses herum. Die Lichtkreise in der Dunkelheit folgten der Handbewegung Lautentals.

„Willst du das?“, fragte er. „Dann musst du es dir holen, Füchschen!“

Lautental hätte es nicht erwartet, doch der Fuchs kam langsam näher; gierig nach dem Stück Fleisch. Hörte Lautental auf zu wedeln, blieb der Fuchs sofort stehen. Er verstärkte es daher, und irgendwann war der Punkt erreicht, als sich der Fuchs erstaunlich nah am Fenster befand. Lautental schwenkte das Stück nach links, damit sich der Fuchs parallel zum Fenster aufstellte. Nun war das Tier tatsächlich in Griffweite. Lautental beugte sich langsam hinunter, versuchte dabei, seine Hand mit dem Fleisch ruhig zu halten… und packte mit der Rechten zu.

Es war ein Versuch, doch letztlich war Herr Fuchs im Vorteil. Das Tier stieß einen kläffenden Laut aus. Lautental spürte kurz das warme Fell der Rute, dann verschwand dieses Gefühl. Der Fuchs war so schnell fort wie ein Schatten.

Lautental war wütend, lachte aber gleichzeitig. „Gut Ding will Weile haben!“, sagte er.

Zwei Tage später bestellte er Fritz wieder in sein Anwesen. Der Junge humpelte ein wenig, zweifelsohne eine Verletzung, die er sich bei Lautentals absurden Experimenten zugezogen hatte. Die willenlose Unterwürfigkeit hatte der Bengel aber beibehalten.

„Hör mir zu“, sagte Lautental. Sie standen hinter dem Haus, umgeben von Unkraut und Sträuchern. Die untergehende Sonne warf letzte, lange Schatten der beiden Gestalten. „Du gehst jetzt in den Wald und schießt mir ein Tier!“

„Was soll ich?“, fragte Fritz.

Lautental schnaubte, ging zur Häuserwand hinüber und nahm den Gegenstand, der dort lehnte: eine Flinte. Sie hing seit Jahren über Lautentals Kamin, doch hatte er sie nie ausprobiert. Er schreckte vor Waffengewalt zurück, akzeptierte es aber, wenn andere, wie zum Beispiel Fritz, diese schmutzige Arbeit für ihn verrichteten. Nun drückte er sie dem jungen Mann in die dreckigen Hände. „Hier, nimm!“

Fritz handhabte die Waffe unsicher und hätte sie beinahe fallen gelassen. Er schaute sie sich argwöhnisch an und steckte sogar ein Auge in den Lauf. Lautental reagierte zornig und schlug Fritz auf den Hinterkopf. „Bist du des Wahnsinns? Willst du sterben?“

Fritz schüttelte hastig den Kopf.

„Dann sei jetzt ein Mann und schieß mir ein Tier. Aber eine Bedingung habe ich! Es muss einen langen Schwanz haben! Vielleicht ein Wiesel oder…“ Er dachte an die vorgestrige Nacht. „Oder einen Fuchs!“

„Aber warum denn?“

„Weil ich es dir sage! Und jetzt los!“

Mit diesen abschließenden Worten wedelte Lautental mit den Händen, als ob Fritz eine Taube wäre, die weggescheucht werden musste. Zuerst blieb der braunhaarige Knabe stehen, betrachtete abwechselnd die Flinte und den Waldrand, der schätzungsweise fünfhundert Meter vom Anwesen entfernt war. Schließlich trampelte er bedächtig los, zu Lautentals grimmiger Befriedigung. Der verkannte Wissenschaftler ging derweil ins Haus und nahm ein paar Bücher durch, in denen es durchweg um die Anatomie bei Menschen ging; teilweise auch um die von Tieren.

Es war schon seit einigen Stunden stockdunkel, als Lautental einen schlurfenden Gang vernahm und mit einem Blick durch das Fenster feststellte, dass Fritz wieder zugegen war. Zu seinem gröbsten Unverständnis hatte der Junge nur die Flinte in der Hand, sonst nichts.

Lautental hastete zur Tür und kam Fritz entgegen. Statt einer herzlichen Begrüßung raufte sich Lautental die Haare. „Wo ist das Tier? Du solltest doch eines schießen, verdammt!“

Fritz zuckte die Schultern. „Da waren viele Tiere, aber ich hab immer nur die Bäume getroffen. Tut mir Leid.“

Gerade, als Lautental zu einem entwürdigenden Schlag ansetzen wollte, bellte ein Hund. Beide zuckten zusammen, Lautentals Kopf verschwand buchstäblich zwischen seinen beiden Schultern. Dann kam auch schon der Urheber des Bellens angelaufen – eine Promenadenmischung, die wild hechelte und mit dem Schwanz wedelte. Das Tier machte eine Art Verbeugung vor den beiden Männern, doch Lautental hatte nur Augen für die wedelnde Rute. Schlagartig schien sein gesamter Frust wie weggeblasen.

„Wen haben wir denn da?“, sagte der alte Mann und setzte ein falsches Grinsen auf.

Fritz lachte auf. „Das ist Felix, Herr Lautental! Ich spiele vormittags immer mit ihm!“

„Ist dem so?“, erwiderte Lautental, ohne von dem Hund wegzusehen. Seine Augen waren glänzende Kristalle, die im scharfen Kontrast zum würdelos abstehenden Haar standen. Nachdem er genug gesehen hatte, hob er den Hund mit beiden Händen hoch und schaute ihm in die treuen Augen. Der Hund gähnte und hechelte energisch weiter.

„Geben sie ihm was zu fressen?“, fragte Fritz.

„Süßer Hund“, murmelte Lautental abwesend. „Was für ein süßer Hund du bist!“

Mit diesen Worten verschwand der alte Mann wieder in seinem Anwesen und ließ Fritz draußen stehen. Der dumme Diener beobachtete das Innere des Wohnzimmers noch eine Weile durch das Fenster, sah aber weder Lautental noch Felix. Nach einer geschlagenen halben Stunde steckte Fritz die Hände in die Hosentaschen und ging pfeifend von dannen.

Am frühen Morgen, als die Sonne noch lustlos über dem Himmelsrand vorschaute und das ganze Dorf schlief, rannte ein Hund schrill bellend über die unbefestigte Straße. Das Tier, dass auf den Namen Felix hörte, hatte keinen Schwanz mehr.

Bei Fritz‘ nächstem pflichtbewussten Besuch wurde er von Herbert Lautental mit einer ungewöhnlichen Frage konfrontiert: „Kennst du einen Buckligen?“

„Einen Buckligen?“ Der Junge sprach das Wort wie Buhklign aus.

Lautental rollte mit den Augen und stellte schauspielerisch einen Buckligen dar, indem er ein paar Schritte gebückt und mit hängenden Armen ging. Selten gab sich der alte Mann so offen; er war wohl bester Laune und aufgeregt.

„Achso!“, platzte es aus Fritz heraus. „Onkel Bertram geht so!“

Und wieder blitzte es in den Augen von Lautental. Abrupt beende er seine Darstellung und packte Fritz an den Schultern. „Kannst du ihn herbringen? Jetzt?“

„Ich weiß nicht. Onkel Bertram ist zur Mittagszeit immer auf den Feldern.“

Doch Lautental hörte ihm schon gar nicht mehr zu. „Bring ihn her!“, sagte er, ließ Fritz los und rannte aufgeregt vom Wohnzimmer aus zur Diele, wo er wiederum die Tür zum Keller öffnete. Diese fiel scheppernd zu, und Lautental war aus jedem Wahrnehmungsfeld verschwunden. Fritz, der den Verstand einer Walnuss hatte, tat wie ihm geheißen.

„Was soll denn das, Fritz?“

„Herr Lautental will das so!“

„Dieser verrückte alte Mann?“

„Was ist ‚verrückt‘?“

„Ach, halt einfach die Klappe!“

Das Gespann aus Onkel und Neffe ging den Weg zu Lautentals Anwesen entlang, Onkel Bertram eher widerwillig. Er wurde von Fritz gedrängt und wäre ab und an fast gestolpert. Tatsächlich hatte der ältere Herr einen ansehnlichen Buckel. Er ging zwar nicht so bizarr, wie Lautental einen Buckligen dargestellt hatte, aber Fritz glaubte, dass Onkel Bertram trotzdem genügen würde. Vielleicht sprang auch eine Belohnung für ihn, Fritz, dabei raus.

Man hätte glauben können, dass Lautental immer noch in seinem Keller tüftelte, doch sobald Onkel und Neffe in Sichtweite des Hauses kamen, sprang die Haustür auf und der verrückte alte Mann kam angelaufen wie ein aufgeregtes Kind bei der Sichtung eines formschönen Schaukelpferdes. Onkel Bertram blieb vorsichtshalber stehen und wartete ab, obgleich Fritz versuchte, ihn weiter zuschieben.

„Mein lieber Herr!“, posaunte Lautental mit ausgebreiteten Armen.

„Ich will das nicht, Fritz!“, sagte Onkel Bertram, doch da lag schon eine langfingrige Hand auf der Schulter des buckligen Onkels. Lautental hatte ihn umzingelt wie eine Spinne ihr Opfer.

„Wer wird denn so griesgrämig sein? Sie werden diesen Augenblick später als äußerst kostbar erachten, so glauben Sie mir doch!“

„Ich glaube eher, dass sie des Wahnsinns sind!“

„Manchmal“, sagte Lautental ruhig, „ist Wahnsinn von Nöten, oder?“

Darauf wusste Onkel Bertram keine gescheite Antwort. Er wurde mehr oder minder in das Anwesen Lautental gezogen. Fritz ging bedächtig hinter den beiden Männern her und bekam nur Wortfetzen zu hören. Lautental redete auf den Onkel ein, blieb dabei mit der Stimme in einer sanften, einnehmenden Tonlage.

Im Haus angekommen, führte Lautental seinen Gast sofort zur Kellertüre und bat ihn hinunter, während er, Lautental, noch etwas in der Küche erledigen müsste. Onkel Bertram sah seinen Neffen unsicher an, ging dann aber langsam die Stufen hinunter; hinein in die Düsternis. Die blinkende Halbglatze des Onkels verschwand mit der Zeit, und Fritz bekam erstmals ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Ein Schauer überquerte seinen Rücken.

Es vergingen ein paar Minuten, als wildes Getrampel ertönte. Onkel Bertram kam die Treppen hochgehechtet, so schnell seine krumme Körperhaltung es natürlich zuließ. Fritz, der die ganze Zeit über in der Diele gestanden und die teils merkwürdigen Bilder an der Wand angeschaut hatte, erkannte, dass sein Onkel panisch und ängstlich war.

„Was in Gottes Namen ist das hier?“, rief Onkel Bertram. Sein Kopf war schier durchnässt von Schweißperlen. Das wenige Haar auf dem Kopf war durcheinander. „Sag mir das!“

„I-ich...„, fing Fritz stotternd an, doch da unterbrach ein dumpfes Geräusch seine Erklärung, und Onkel Bertram landete vor ihm auf dem staubigen Boden. Hinter ihm erschien Lautental, der etwas in der Hand hielt. Fritz erkannte eine Pfanne, die nun eine Beule hatte.

„Das dachte ich mir schon“, sagte Lautental trocken. „Hilf mir!“

„Sie haben meinen Onkel geschlagen!“, rief Fritz erschrocken.

„Ja. Und ich habe gesagt, dass du mir helfen sollst!“

„Was haben sie mit ihm vor, Herr Lautental?“

„Ich werde ihm helfen“, antwortete der alte, verrückte Mann, doch in seiner Stimme erklang nicht die Ehrlichkeit, die er wohl vortäuschen wollte. Für den schwachen Verstand von Fritz reichte diese Erklärung aber, und nach einer Denkpause von zehn Sekunden trugen Meister und Diener den bewusstlosen Onkel Bertram die Treppe hinunter.

Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt fasste eine junge Maid namens Isabell den Entschluss, ihre Spendenaktion bei dem einsamen Anwesen Lautental zu beginnen. Die Kirche im Dorf brauchte eine fundierte Erneuerung der Innenarchitektur; ansonsten hätten hundert fromme Christen irgendwann bei einer Sonntagspredigt die Decke auf den Kopf bekommen. Isabell wurde dafür auserkoren, da man ihrer natürlichen Freundlichkeit einiges an Überredungskunst zutraute. Das Mädchen mit dem zu Zöpfen geflochtenen, blonden Haaren nahm diese Aufgabe gerne entgegen.

Sie war noch auf dem unbefestigten Weg, der zum Anwesen Lautental führte, als ihr einfiel, was ihre liebe Mutter über dieses Haus und dessen Besitzer gesagt hatte. Herbert Lautental sei ein merkwürdiger alter Mann, und wenn er sofort die Bitte um Geld abschlagen sollte, bräuchte Isabell gar nicht erst weiter zu fragen. Sie selbst hatte ihn nur einmal zufällig am Marktplatz gesehen, als er kerzengerade durch die Menschen schritt und eine Scheu an den Tag legte, die Isabell an eine Ratte inmitten von großen Hunden erinnerte. Sie konnte den Mann schwer einschätzen, gewiss, aber etwas Gefährliches ging von ihm nicht aus. Und sie traute ihrer noch frischen Menschenkenntnis.

An der Tür angekommen, hob sie die Hand und klopfte zweimal. Als nach Sekunden des Wartens niemand öffnete, klopfte sie erneut, diesmal lauter. Sie runzelte die Stirn, als auch diesmal niemand zur Türe ging. Sie wollte ihre erste Spendenfrage nicht so unbefriedigend enden lassen, dazu war sie zu gut gelaunt. Daher ging sie pfeifend und mit hinter dem Rücken verschränkten Händen um das Haus herum und sah durch die Fenster. Nichts. Irgendwann kam sie an einem Fenster vorbei, das geöffnet war. Sie sah sich unsicher um und fragte sich, ob sie den Versuch wagen sollte. Mit zusammengekniffenen Lippen senkte sie sich und steckte den Kopf durch das geöffnete Fenster in das Wohnzimmer dahinter. Sie stellte fest, dass sie ohne Probleme vollständig durchschlüpfen konnte, und ehe sie sich wirklich bewusst war, was sie tat, stand sie schon im Wohnzimmer des alten Herbert Lautental und sah sich um. Und plötzlich, ohne es zu merken, waren ihre Absichten nicht mehr christlicher Natur. Wie gesagt, sie wollte ihren ersten Spendenrundgang nicht so traurig anfangen lassen, und beschloss, ein paar Schränke zu durchsuchen. So viel Geld, wie der Alte haben mochte! Da würde er doch ein paar fehlende Münzen nicht bemerken!

Sie kramte in einigen Schubfächern herum, fand aber nur unnützen Kram; teilweise schienen diese Dinge seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten in ihren Kämmerchen zu vegetieren. Sie wollte gerade gehen, als…

War da ein Geräusch?

Isabell hörte genauer hin und vernahm plötzlich Stimmen. Ihr junges Gehör konnte die Stimmen sogar einigermaßen gut voneinander unterscheiden. Die eine ordnete sie Herrn Lautental zu, die anderen beiden waren ihr herzlich unbekannt. Sie überlegte, ob sie den Stimmen folgen sollte, um doch noch zu einer ehrlichen Spendenfrage zu kommen, verdrängte diesen Gedanken aber ganz schnell wieder. Diese teilweise laute Diskussion, die sie ungewollt mitbekam, hatte etwas Unheimliches an sich.

Sie beschloss dennoch, einen Blick in die Diele zu riskieren. Sie war hell erleuchtet, daher hatte sie keine Angst, nur die Bilder an der Wand machten ihr Sorgen. Auf dem einen waren Jagdhunde abgebildet, die einen Fuchs durch dichtes Gestrüpp jagten. Die Hunde waren hart gezeichnet und hatten pechschwarze Augen, während der Fuchs wie das Werk eines Kindes aussah. Bei näherer Betrachtung machten die Hunde dem Mädchen eine Heidenangst. Sie ging weiter, als plötzlich eine Tür, die ihr zuerst gar nicht aufgefallen war, aufsprang. Einem natürlichen Instinkt folgend, rannte Isabell lautlos die Diele hinunter zu einem kleinen Schränkchen und versteckte sich dahinter.

„Herrgott nochmal!“, tobte Herbert Lautental. Er kam aus dem Keller hervor und wischte sich das Gesicht ab. Seine Haare waren durchnässt. Die arme Isabell vermutete Schweiß, in Wahrheit war es eine rote Flüssigkeit. „Du solltest ihn festhalten, Fritz!“

Eine ängstliche Stimme aus den Tiefen des Kellers. „Ist er tot?“

Lautental seufzte entnervt. „Nein, Fritz. Aber ich habe mir diese Sache ein bisschen anders vorgestellt, weißt du?“

„Wir können es doch nochmal versuchen!“

Lautental legte die Hand auf die Stirn, stieß einen unangenehmen Laut aus und ging stapfend in das Wohnzimmer. Wäre er etwas konzentrierter gewesen, wären ihm sicher die schwachen, aber doch sichtbaren Dreckrückstände auf dem Boden aufgefallen, die von Isabells Schuhen herrührten. Doch er war zu sehr mit seinem wissenschaftlichen Durchbruch beschäftigt, um solche Kleinigkeiten zu bemerken.

Fritz kam die Treppe hoch. Der Knabe war sehr nervös und zitterte.

„Es ist zwecklos!“, rief Lautental und ließ seine Hand dabei durch die Luft fliegen. „Der Schwanz ist nicht richtig dran! Es ist zwecklos!“

„Aber noch ist doch alles gut?“, sagte Fritz.

Lautental fuchtelte weiter herum. „Gut? Das war einfach die falsche Rute; ein Hundeschwanz ist zu unpassend für den menschlichen Rücken! Wir bräuchten etwas Stabileres. Vielleicht den Schweif eines Löwen!“

Isabell traute ihren Ohren nicht. Sie hielt sich die Hand vor dem Mund und wollte irgendwie verschwinden. Vielleicht erhoffte sie sich, einen geheimen Weg nach draußen zu entdecken (Häuser dieser Art hatten meistens ein Hintertürchen), doch alles, was sie erreichte, war das Umschubsen eines kleinen Tisches. Sie sog scharf Luft ein.

„Was zur Hölle war das?“, rief Lautental, der sich blitzschnell aus seinem Sessel erhoben hatte. Mit langen Schritten hechtete er in die Diele und fand ziemlich schnell das Wesen vor, das hier Lärm verursachte. „Was machst du hier, Mädchen? Na? Antworte mir!“

Isabell war unfähig zu reden. Sie grub die Finger in den Mund und wollte schreien, doch da hatte Lautental schon Hand an ihr angelegt.

Zwei Tage später hörte Thomas Fuhrmann, wie sein Müllbehältnis vor der Haustüre umgestoßen wurde. Dazu gesellte sich das wilde Knurren eines Tieres. Thomas stand auf und zog sich die Hose hoch. Nicht genug, dass ihre Tochter seit zwei Tagen verschwunden war, jetzt bildeten sich auch noch irgendwelche Tiere aus dem Wald ein, ihm auf der Nase herumtanzen zu müssen.

„Thomas?“ Luise Fuhrmann drehte sich im Bett zur Seite, die Augen verschlossen und von Tränen der Trauer gerötet. „Wo gehst du hin? Lass mich nicht allein…“

Thomas nahm sein bestes Gewehr aus dem Schrank. Sein Gesicht war hochrot und schweißgebadet. „Ich habe die Nase voll, hörst du? Die Leute im Dorf tuscheln schon, dass Isabell…“ – seine Frau winselt kurz und intensiv – „…mit diesem betrunkenen Harald durchgebrannt sei. Und jetzt wirft noch irgendein Fuchs aus dem Wald meine Mülltonne um!“ Er lud die Waffe und polterte aus dem Schlafzimmer. Seine Frau versteckte das Gesicht hinter den Händen und weinte.

Es war noch fast finster. Am Horizont versuchte Frau Sonne bereits, die Dunkelheit zu verdrängen, aber sie kam nur mühsam und schleppend voran. Der Boden war dicht mit Nebel belegt. Als Thomas die Tür öffnete, wünschte er sich trotz aller Dringlichkeit, eine Jacke angezogen zu haben. Das würde spätestens am morgigen Tage mit einer Erkältung enden. Das war natürlich auch die Schuld des Schicksals. Die Gerüchte im Dorf, der Fuchs an der Mülltonne, die Kälte…

Vater Fuhrmann ging mit schlotternden Beinen um das Haus herum, mehr wütend als kompetent;

die Waffe hielt er wie einen Schlagstock in der Hand und berührte damit fast

den Boden. Für einen kurzen Moment dachte er, das Tier sei mitsamt seiner Beute verschwunden, als das Schnüffeln und Wühlen wieder lauter wurde. Nun hielt er das Gewehr auf Augenhöhe.

„Du blödes Mistvieh“, flüsterte Thomas. „Ich werde dir den Kopf weg pusten!“

Das Müllbehältnis am anderen Ende des Hauses lag auf der Seite. Zunächst schien das alles zu sein, bis dahinter ein in die Höhe gereckter Schwanz erschien. Er wedelte gemütlich von links nach rechts. Natürlich, dachte Thomas. Mach es dir ruhig bequem. Aber bleib still dabei.

„Hilfe!“, schrie jemand. „Hilfe, so helft mir doch! Lautental ist tot!“

Die Stimme war schwach, konnte fast nur seinen Gedanken entsprungen sein. Thomas drehte sich langsam um und sah einen kleinen, gekrümmten Schatten im Nebel verschwinden. Wenige Sekunden später eilte seine Frau um die Hausecke, den Morgenmantel fest zugezogen, die Haare in alle Richtungen verstreut. „Thomas!“, sagte sie. „Der Tölpel Fritz ist an unserem Haus vorbeigelaufen und hat irgendwas gerufen! Komm bitte wieder rein, mir ist nicht wohl bei der Sache!“

Thomas wollte keine Angst zeigen – immerhin handelte es sich um seine Frau -, das Zittern seiner Stimme konnte er aber nicht ganz unterdrücken. „Geh wieder hoch, Luise. Ich werde diesem Vieh noch eine Ladung Schrot verpassen. Das hat es verdient!“

Sie blieb stehen und berührte seine Schulter. Beide betrachteten die Mülltonne und den ungebeten Gast, als der Schwanz nach vorne schnellte und seinen ganzen Körper mitbrachte. Isabells Augen waren funkelnd gelb, ihr Haar wild und durcheinander. Der süße Rock, in dem sie am vorgestrigen Tage zu ihrer Spendensammlung aufgebrochen war, hing zerrissen an ihrem Körper. Was es mit dem Blut auf sich hatte, dass ihr an der teils freien Brust klebte, konnte Isabells Vater im Nachhinein nicht sagen. Vielleicht hatte sie sich irgendwo geschnitten. Vielleicht war es auch das Blut eines anderen Menschen. Eigentlich war das Thomas in dem Moment auch relativ egal. Rein instinktiv drückte er auf den Abzug. Luise Fuhrmann fiel in Ohnmacht, und Isabell jaulte auf wie ein wildes Tier.

Absurd

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