Читать книгу Absurd - Ben Knüller - Страница 7

Die magische Mikrowelle

Оглавление

„Das ist eine magische Mikrowelle!“, sagte der Mann mit dem Schnurrbart.

Er stand wie ein Gummischlauch hinter seinen Waren, ein Kerl von fast zwei Metern Höhe und dem Umfang eines Bleistifts. Sein Schnurrbart – ein fernöstliches Ding – bewegte sich bei jedem Ruck geleeartig von rechts nach links. Der Verkäufer glich in seinem Gesamtpaket einem Spielzeug aus der Wundertüte.

„Was meinen Sie?“, fragte Roy Kokett irritiert. Er war rein zufällig an diesem kleinen Marktplatz vorbeigekommen, eigentlich auf der Suche nach einem kühlen Feierabendbier. Der Drang nach einer Abkürzung führte ihn dann schlussendlich in dieses Labyrinth aus teilweise nützlichen, teilweise absurden Dingen. Hier bot jemand billige Lebensmittel an, da versuchte jemand, seine „Kunst“ an den Mann zu bringen, und am Ende hörte man doch immer Jemanden laut „Wurst, frische Wurst!“ schreien. Bisher war Roy unbeachtet an diesen Ständen und den Unmengen an Besuchern (und Schaulustigen) vorbeigekommen, bis der Gelee-Mann ihn angesprochen hatte.

„Diese magische Mikrowelle wird Ihr Leben verändern, Mister!“, sagte der Mann und ließ seine Augenbrauen spielen. „Das können Sie mir ruhigen Gewissens glauben!“

„Magisch, wie?“ Roy war nicht sonderlich interessiert. Zudem war besagte Mikrowelle, auf die der Verkäufer mit einem schmutzigen Finger deutete, ein schlechter Witz. Vom Aussehen her schien schon Hitler mit ihr ein paar Eier aufgewärmt zu haben; die Knöpfe waren tief eingedrückt, die Scheibe hatte einen breiten Sprung. Ehemals schien das Ding glänzend schwarz zu sein, doch Staub und Witterung führten zu einer drögen Graufärbung. Die Farbe unschlüssiger Wolken an einem Wintermorgen.

„Sicherlich glauben Sie mir nicht“, fuhr der Verkäufer fort, „aber ich biete Ihnen diese Mikrowelle für den Bruchteil eines fairen Preises an, und was haben Sie schon zu verlieren?“

„Meinen Humor sicherlich nicht“, sagte Roy, worauf der Verkäufer den Kopf in den Nacken warf und schallend lachte. An sich war das eine ganz nette Geste, aber das Lachen klang viel zu routiniert, um echt zu sein.

„Ihre Art gefällt mir!“, sagte der Verkäufer anerkennend. „Leute wie Sie sind selten. Sonst läuft man immer an mir vorbei, ohne einen Blick, ohne ein nettes Wort, und Sie bringen mich sogar zum lachen!“

Da hätte ich wohl sonst was sagen können, dachte Roy, du hättest doch auch gelacht, wenn ich nur eine Bemerkung über das Wetter gemacht hätte.

Laut sagte er schließlich: „Gern geschehen.“

„Wissen Sie was? Dafür geh ich noch weiter mit dem Preis runter!“

Die Situation wurde unangenehm. Mal davon abgesehen, dass der zwielichtige Typ noch gar keinen Startpreis genannt hatte, erweckte die Mikrowelle bei Roy nun doch ein schwaches Interesse. Eher aus Mitleid, aber Interesse ist Interesse. Und für einen Marktverkäufer war das fast mehr wert als Gold.

„Und was genau kann das Ding?“, fragte Roy.

Nun formte sich ein siegreiches Lächeln auf dem schmalen Gesicht von Mr. Gelee. „So gefallen Sie mir, mein Freund. Sehen Sie dieses Zahlenfeld?“ Er beugte sich nach vorne und deutete auf das Eingabefeld mit den eingedrückten Tasten. Dort waren in drei Reihen die Zahlen 1 bis 9 abgebildet. Die vierte und letzte Reihe beinhaltete die 0 und (aus irgendwelchen Gründen) das Rauten-Symbol.

„Aha“, sagte Roy und legte absichtlich Desinteresse in seine Stimme.

Ein unbeeindrucktes Schmunzeln. „Höre ich da eine gewisse Skepsis?“

„Naja, ich frage mich nur, was daran jetzt so magisch sein soll.“

„Wenn Sie so fragen, eigentlich nichts“ Er beugte sich noch weiter nach vorne und fügte murmelnd hinzu: „Aber was, wenn ich Ihnen sage, dass diese Mikrowelle alles kann, und Essen zubereiten ist dabei eher drittrangig?“

Roy schnaufte amüsiert. „Definieren Sie mal ‚alles’. Kann sie mir die Zeitung besorgen oder einen Kasten Bier?“

Der nachfolgende Satz von Mr. Gelee stellte sich in Anbetracht der späteren Ereignisse als ziemlich verwegen heraus: „Seien sie nicht albern“

Eine Stunde später erschien Roy Kokett in seinem trauten Heim; in beiden Händen eine ramponierte Kiste mit einem nicht minder ramponierten Gegenstand darin.

Paula, seine hübsche Freundin, beobachtete die Szene vom Sofa aus. Ihre Augen waren nicht geschockt, aber sichtlich interessiert. Und vielleicht ein bisschen ungläubig.

„Was hast du denn da?“

Roy legte die Kiste mit einem erleichterten Schnaufen auf den Boden. „Du wirst mich wahrscheinlich für verrückt erklären – und ich könnte es dir nicht mal verübeln -, aber ich hab mir heute mal einen Spaß erlaubt.“

Ihre erste Reaktion war verbunden mit großen, glänzenden Augen. „Sind da etwa kleine Welpen drin? Roy, sag mir, dass da kleine Welpen drin sind!“

Mit ihrem kurzen, braunen Haar und den blauen Augen sah sie für kurze Zeit wieder wie ein kleines Mädchen aus, und obgleich Roy wusste, dass sie seit Jahren des Entzugs mal wieder einen Hund haben wollte, bereitete es ihm eine gewisse Schadenfreude, als er trocken „Nein“ sagte.

„Och“ Pure Enttäuschung, gefolgt von geheucheltem Interesse. „Was denn dann?“

Er war sich zunächst unschlüssig, ob er es ihr wirklich zeigen sollte, aber letztlich gewann die Freude des Präsentierens. Er öffnete den Karton, packte die Mikrowelle an beiden Seiten und zog sie angestrengt heraus. Das Ding war schwer.

Sie schaute das Ding eine ganze Weile irritiert an, dann kam die Frage des Tages: „Aber sonst hast du noch alle Latten an der Tanne?“

„Schatz, lass mich erklären. Das ist eine Mikrowelle, und...„

„Sag mir bitte, dass du sie nur auf der Straße gefunden hast.“

„...und ich habe sie nicht gefunden, aber ganz billig geschossen!“

Sie bedeckte mit der Hand ihren Mund und ging ein paar Schritte rückwärts. Ein Teil ihres Verstandes hatte gerade offiziell bekannt gegeben, dass ihr Freund ein Wahnsinniger ohne Verstand sei.

„Weißt du, was mir der Verkäufer auf die Nase gebunden hat, damit ich...„

„Offenbar hat es ja geklappt.“

„Paula, bitte! Der Kerl hat mir das Ding für einen Euro verkauft. Einen Euro!“

„Davon hättest du dir auch mal eine neue Zahnbürste kaufen können!“

„Schatz, der Kerl war verzweifelt, und ich wollte ihm einen Gefallen tun! Wir können sie doch bei eBay einstellen, für manche ist das sicher eine Antiquität!“

„Wir können sie auch aus dem Fenster feuern!“

Roy merkte, dass dieses Gespräch in eine Sackgasse geraten war. Paula wollte nicht verstehen, dass er, Roy, diese Apparatur aus einem jungenhaften Impuls heraus gekauft hatte. Was der Verkäufer alles über die Mikrowelle erzählt hatte war herrlich gewesen, und Roy hätte schlichtweg ein schlechtes Gewissen bekommen, den langen Kerl dafür nicht zu belohnen. Und vielleicht, aber auch nur vielleicht, glaubte ein kleiner Teil von ihm den Quatsch, den der Verkäufer routiniert heruntergeleiert hatte. Aber dazu musste er das Ding mal testen...

„Hörst du mir noch zu?“, fragte er leicht schroff. Paula hatte sich von ihm weggedreht und starrte verdrießlich aus dem Fenster.

Als nach fünf Sekunden keine Antwort kam, ging er mit der Mikrowelle in die Küche.

Roy ging nochmal die Gebrauchsanweisung im Gedanken durch, die ihm der langhalsige Verkäufer mitgeteilt hatte. Und je öfter er das machte, desto schwachsinniger kam ihm das alles vor... und auch er kam sich doof vor.

Wenn man Mr. Gelee Glauben schenken mochte, standen die verschiedenen Zahlen für Aktionen, die beim Knopfdruck passieren sollten. Leider hatte Mr. Gelee vergessen, was genau jetzt für welche Zahl stand, und das hemmte Roys kindliche Begeisterung. „Bei manchen Zahlen passieren gute Sachen, bei manchen schlechte“, hatte der Typ gesagt, und seine einzige konkrete Information war, dass man vorsichtig mit der Null sein sollte. „Da kann alles Mögliche passieren!“

Roys nächste Frage: „Und die Raute?“

Mr. Gelee zuckte nach einer Weile die Schultern. Das war irgendwie beunruhigend.

Und nun stand er hier. Ein erwachsener Mann mit einer magischen Mikrowelle. Plötzlich hatte er Schuldgefühle wegen Paula. Im Kern hatte sie Recht. Natürlich. Wie hätte er reagiert, wenn sie eine kaputte Waschmaschine, die angeblich jodeln konnte, nach Hause gebracht hätte? Vielleicht abweisender als sie es eben war.

„So ein Scheiß“, sagte er zur Mikrowelle, die stumm vor ihm auf der Küchentheke stand. Die gesprungene Scheibe glich auf verstörende Weise einem blinden Auge.

Soll ich trotzdem mal ne’ Taste drücken?

Warum eigentlich nicht? Wenn man sich schon zum Esel gemacht hat, konnte man ruhig auch noch bockig I-A sagen.

So kam es, dass Roy recht ziellos mit dem Finger über das Zahlenfeld kreiste. Die Ziffern selbst waren kaum noch zu lesen. Die 8 sah eher aus wie eine 3, die 2 hätte genauso gut eine 7 sein können.

„Ist doch scheißegal“, sagte er schlussendlich und drückte auf die 2. Die Taste rastete schwer ein. Daraufhin ertönte ein lautes BING, und im Inneren der Mikrowelle ging tatsächlich das Licht an. Roy staunte nicht schlecht, blinzelte aber erschrocken, als das Licht zu flackern begann. Dann war es auch wieder aus, aber das Schauspiel war noch nicht ganz fertig. Nun trat ein dröhnendes Summen ein, bei dem Roy spontan an uralte Kühlschränke denken musste.

Und nach ein paar Sekunden war der ganze Spuk dann auch vorbei.

Roys erste Intention (schreiend aus der Küche zu laufen), erwies sich als unbegründet. Sein erster Gedanke war, dass die Mikrowelle in die Luft gehen würde. Doch sie stand da wie vorhin; verblichen, wie ein alter Klotz.

Er starrte tiefer in die gesprungene Scheibe. Konnte er da etwas erkennen? Mein Gott, stand da tatsächlich etwas drin? Es gab es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Beinahe benommen tastete er nach dem verrosteten Griff, um die kleine Tür zu öffnen. Auch der Griff war schwer zu bewegen, und als die Tür langsam quietschend aufging, dachte Roy zuerst, eine Katze würde irgendwo jämmerlich verenden.

Aber selbst eine tote Katze hätte Roy besser erklären können als das, was nun wirklich in diesem uralten Aufwärmer stand: eine Flasche Bier.

Ihm wurde plötzlich schwindlig, und nichts wäre ihm derzeit lieber gewesen als eine kalte Dusche und der Sprung ins Bett. Trotzdem holte er das Bier heraus, starrte es an und drehte es, um alle Seiten zu betrachten. Die Flasche war kühl und echt, das stand fest, doch was war mit dem Inhalt? Konnte sich darin nicht Apfelsaft oder Urin verbergen? Vielleicht sogar irgendein gewitztes Gift, eigens gebraut von Mr. Gelee, der auf diese Art seine Morde beging.

Willst du mich anstarren oder trinken, schien das Bier ungeduldig zu fragen. Und war er vorhin nicht auf der Suche nach einem kühlen Feierabendbier gewesen?

„Dann wollen wir mal“, antwortete Roy der Flasche, öffnete sie und nippte dann vorsichtig daran. Es schmeckte tatsächlich wie Bier. Wie echtes Bier... also gab es keine Bedenken, einen großen Schluck zu nehmen. Roy trank. Roy hatte Durst.

Ihm kam ein weiterer Gedanke. Und wenn diese Idee sich bewahrheiten sollte, wusste er schon mal, wofür genau die Taste 2 stand.

Er schloss einfach die Augen, drückte auf die Taste und wartete geduldig das Schauspiel ab. Wieder machte es BING, wieder flackerte es, wieder war alles so schnell vorbei, wie es angefangen hatte.

Und nachdem er den Teller Spaghetti aus der Mikrowelle geholt hatte, war sein Kopf vor lauter Spielfreude fast leer. Er legte alles ab, suchte in einem Schubfach nach Zettel und Stift, fand alles und schrieb nervös folgende Zeile nieder: Taste 2 lässt Wünsche wahr werden.

Er betrachtete die Wörter, kam sich trotz allem leicht verrückt vor, begutachtete dann aber Beweisstück B: die Spaghetti. Er hatte die Augen geschlossen, an seine Leibspeise gedacht und nun hatte er sie vor sich, dampfend und wahrscheinlich genauso sicher und wohlschmeckend wie das Bier. Gerade als er einen herzhaften Bissen mit der Gabel (die sogar mitgeliefert wurde) nehmen wollte, flog die Küchentür auf; Paula, die Hände in die Hüften gestemmt... eine gefährliche Pose bei Frauen, die nicht unbedingt Komm, schlaf mit mir bedeutete.

„Ach“ Ein herablassender Tonfall. „Muss der feine Herr in der Küche stehen und essen, ja? Setz dich wenigstens an den Tisch!“

„Schatz, beruhige dich mal. Fragst du dich gar nicht, woher das Essen kommt?“

Sie verstand offenbar seinen Wink und starrte zur magischen Mikrowelle. Mehr als ein verzogener Mundwinkel huschte aber nicht über ihr Gesicht. „Möchtest du mir jetzt ernsthaft sagen, dass du die in dem Ding da warm gemacht hast?“

Roy grinste dümmlich.

„Aber wir hatten keine Nudeln mehr. Die hat das Ding dann wahrscheinlich gleich noch selbst hergestellt und gekocht, oder?“

Roy nickte dümmlich.

Paula stieß einen gedehnten Seufzer aus, ging mit verschränkten Armen zur Mikrowelle und fuhr mit einem Finger über deren Oberfläche. Der Ekel zwang sie dann, besagten Finger sofort an ihrer Bluse abzuwischen.

„Willst du es nicht auch mal probieren?“, fragte Roy hoffnungsvoll.

Sie sah ihn streng an. „Probieren? Was probieren?“

„Drück die Zwei!“, erwiderte er und deutete auf das Zahlenfeld.

Offenbar wurde ihr die Sache spätestens jetzt zu blöd. Ihr Gesicht verkrampfte sich, die Hände flogen nach oben, der Knoten platzte. „Sag mal hast du sie noch alle? Benimmst dich wie ein kleines Kind wegen einer... einer Mikrowelle! Was kommt als nächstes? Der singende Toaster? Der steppende Trockner?“

„Ich will doch nur...„

„Und ich will nur, dass du mit diesem Scheiß aufhörst!“, schrie sie und begann, die Mikrowelle mit der Hand zu bearbeiten. Zuerst nur mit scheuen Schlägen, bis die gesamte Handfläche knallend auf der Oberfläche landete. Die ohnehin kaputt wirkende Mikrowelle gab ein ungesundes Knarren von sich. Roy wollte seine Freundin aufhalten, doch ihr sprühender Zorn ließ ihn auf einen gewissen Sicherheitsabstand zurückweichen.

„Scheißdreck!“, fauchte sie und machte sich nun daran, die Vorderseite zu peinigen. „Scheißdreck, Scheißdreck, Scheißdreck!“

Im Nachhinein konnte man das eigentlich unmöglich mit absoluter Sicherheit sagen, aber Roy glaubte, dass sie mit dem Finger dummerweise auf die Taste 7 kam. Nach einem kurzen, klagenden BING seitens der Mikrowelle explodierte Paulas Kopf wie ein Kürbis. Die rote Suppe klatschte gegen die Wände, die Schränke, teilweise gegen Roy. Ein paar Zähne flogen durch die Küche und landeten klappernd an verschiedenen Stellen. Der kopflose Körper stand noch ein paar Sekunden aufrecht, bis er zuckend in sich zusammenfiel. Das alles spielte sich in maximal zehn Sekunden ab.

Häufig wissen wir Menschen nicht, was wir in Schockmomenten sagen sollen, da alles unpassend erscheint. Mit einem kurzen „Mmh!“ beschrieb Roy die Situation allerdings bemerkenswert neutral. Er griff nach einigen Sekunden des Beobachtens (vielleicht stand Paula ja wieder auf) wieder zu Zettel und Stift. Das Papier hatte glücklicherweise nur kleine Blutspritzer abbekommen.

Taste 7 lässt Köpfe platzen.

Achim Hansemann war vielleicht nicht der Musternachbar schlechthin, doch das laute Knallen in der Nachbarwohnung ließ ihn doch aufhorchen. Allerdings eher aus egoistischen Gründen. „Nicht mal in Ruhe fernsehen kann man hier!“

Die große Erscheinung mit Schnurrbart erhob sich aus ihrem Sessel. Achim trug nur ein weißes Unterhemd samt schwarzer Boxershorts. In einem gewissen Alter konnte das als relativ erotisch gewertet werden, aber Achim ging steil auf die Sechzig zu und war sich seiner sprießenden Achselhaare nicht vollends bewusst.

Polternd stapfte er durch den Flur, riss die Wohnungstür auf und begann ungeniert, die Tür seines Nachbarn zu vergewaltigen. Gerade, als er das Klopfen gegen ein Sturmklingeln eintauschen wollte, öffnete sich die Tür langsam und geheimnisvoll.

Achim und Roy Kokett hatten sich nur selten gesehen, doch Achim überging jegliche Höflichkeit und grapschte seinem Nachbar an die Schulter. „Sag mal geht’s noch? Spielt ihr hier Hallenfußball, oder was ist los?“

„Ich weiß nicht“, sagte Roy. Seine Stimme war fast ein Flüstern, die Augen starrten überall hin, nur nicht auf Achim. Diesem fiel in seiner Rage gar nicht auf, dass Roy mit Blutflecken übersät war.

„Du Knallfrosch!“, schrie Achim. „Was weißt du denn schon?“

Er schubste Roy einfach beiseite und verschaffte sich Einlass in die Wohnung. Vielleicht erhoffte er sich, bei der Dame des Hauses mehr Verständnis zu finden, vielleicht wollte Achim Hansemann aber auch nur ein alter Mann sein und meckern, was das Zeug hielt. Wie ein Bulldozer bahnte er sich seinen Weg ins Wohnzimmer und fand nichts vor. Das Spiel wiederholte sich beim Bad. Als er in der Küche vorbeischaute, schrie Achim drei Worte und betonte jedes einzeln: „Ach – du – Scheiße!“

Paula lag immer noch kopflos am Boden. Das Blut war teilweise noch nicht geronnen und tropfte von den Schränken auf die Theke und den Boden. Um das psychotraumatische Bild perfekt abzurunden, quetschte sich Roy an Achim vorbei und stellte sich breitbeinig über den Körper seiner toten Freundin. Ein neckisches Grinsen erhellte sein Gesicht.

„Was haben Sie getan!?“, schrie Achim und hielt sich am Türrahmen fest, als könnte sich die ganze Küche gleich um hundertachtzig Grad drehen.

Roy hörte ihn gar nicht. „Drücken Sie bitte mal auf die Eins, ja?“

„Ich drück gleich Eins-Eins-Null, Freundchen!“

„Ich glaube, nur bei ungeraden Zahlen passieren schlimme Dinge. Und die Höhe der Zahl bestimmt die Intensität.“

Was reden Sie da eigentlich für eine Scheiße!?“

Achim war zwar eine kräftige Erscheinung, doch der Schrecken überrollte ihn völlig, als Roy seine Hand packte und zur Mikrowelle zog. Achims Zeigefinger knackte, als Roy ihn einzeln zu fassen bekam.

Hilfe!“, brüllte Achim. Seine tiefe, rauchige Stimme war einem fast mädchenhaften Krächzen gewichen.

Der Finger in Roys Hand krümmte sich wie ein Wurm. Das zielgenaue Treffen der Eins wäre nicht mehr als Zufall gewesen, und so überrascht es nicht, dass Achims speckiger Finger sein Ziel knapp verfehlte. Er traf die Zahl darunter; die Vier.

Der vormals so zornige Nachbar schrie ängstlich auf, als die Mikrowelle ein lebhaftes BING ertönen ließ. Als er etwas spürte (etwas fühlte, viel mehr), erstickte sein geplanter zweiter Schrei. Stattdessen – so unpassend die Situation auch sein mochte – stieß Achim ein lustvolles Stöhnen aus. Und in Anbetracht der nachfolgenden Verwandlung konnte man es ihm auch nicht verdenken.

Zunächst einmal wuchs sein schütteres Haar. Erst langsam, dann schier hektisch. Aus den paar Haarfusseln wurde eine prachtvolle braune Mähne, die sich gegen Ende bis zu den Schultern erstreckte. Die teilweise tiefen Falten um die Augen herum glätteten sich und verschwanden dann völlig. Der Bierbrauch schien wie ein kaputter Luftballon an Inhalt zu verlieren. Die ohnehin angestaubten Muskeln an den Armen pumpten sich auf.

Achim Hansemann wurde jünger.

„Mein Gott!“, rief er und betastete seine wilde Löwenpracht am Kopf. „Was haben Sie mit mir gemacht? Ich fühle mich so komisch!“

„Verstehe“, sagte Roy trocken, griff zu seinem Stift und notierte etwas auf seinem Zettel. Trotz seiner enthaupteten Freundin und einem alten Mann, der soeben eine drastische Verjüngungskur hinter sich hatte, war Roy die Ruhe in Person. „Fühlen Sie denn sonst noch irgendwas?“

Achim schien zu überlegen, dann befühlte er mit wachsender Ehrfurcht seinen Schritt. Seine Augen weiteten sich, und als er die Boxershorts mit einem Finger anhob, um das Innere zu inspizieren, fielen sie fast aus ihren Höhlen.

„Mein Schwanz!“, rief er triumphierend. „Mein Schwanz steht wieder!“

Roy nickte. „Okay. Würden Sie dann jetzt bitte die Eins drücken?“

„Wie? Was?“

„Die Eins, bitte“

„Oh, ja klar!“

Noch völlig im Nebel der Überraschung gefangen, stand Achim schwankend auf, begutachtete kurz seine schlankeren Beine und grinste dusselig. Er schaute zur Mikrowelle und konnte sich eine Frage nicht verkneifen. „War das wirklich das Ding? Das ist doch völlig unglaublich!“

Roy lächelte ausdruckslos weiter. „Tja. Mal sehen was bei der Eins passiert, was?“

Achim lachte schnaufend. „Vielleicht wird mein Ding ja dann länger.“ Er stieß Roy mit dem Ellenbogen an. „Noch länger, verstehste?“

Gerade, als Achim die Eins gedrückt hatte und das markante BING (diesmal aber leiser) ertönte, ging ihm offenbar ein Licht auf. „Moment mal, haben Sie nicht gesagt dass bei ungeraden...„ Weiter kam er nicht. Sein rechter Zeigefinger machte ein bröselndes Geräusch, dann fiel er einfach ab.

Aller guten Dinge sind Drei, und der dritte Unglücksrabe in dieser Geschichte war ein junger Paketlieferant. Eigentlich hätte er ein Paket für einen Herrn Hansemann abliefern sollen (er wusste dank des Bestellscheins, dass es sich um ein paar Pornos handelte), doch beim Anblick der offenen Tür daneben schaltete sich sein neugieriger Instinkt ein. Der Paketlieferant, den alle nur Chip nannten, ging mit einer Kiste Pornos im Arm in die Wohnung.

Zunächst einmal fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf, bis er ein leises Wimmern hörte. Es kam aus Richtung Küche, und trotz einer warnenden Stimme im Ohr folgte Chip seiner Spannung. Mit seinen einundzwanzig Jahren hatte er eben noch nicht den kindlichen Abenteurer in seinem Herzen überwinden können; aber als er in der Küche ankam, verflog all sein Mut.

Zuerst sah er die kopflose Frau am Boden liegen. Dann sah er all das Blut an den Wänden und Schränken. Er sah auch loses, braunes Haar an der Wand kleben, redete sich aber ein, nichts gesehen zu haben. Sein nächster Blick fiel nach links, wo ein junger Mann mit wildem Haar hockte. Von ihm stammte das Wimmern, und trotz seines eher bemitleidenswerten Aussehens konnte sich Chip einen ängstlichen Schrei nicht verkneifen. Natürlich dachte Chip sofort, hier den Mörder vor sich zu haben, und ehe er sich versah, hatte er schon sein Paket als Angriffswaffe nach oben gehoben.

„Keine Bewegung!“, rief Chip, auch wenn es eher ein lautes Flüstern war.

Der Mann reagierte gar nicht. Stattdessen zog er etwas Rotz die Nase hoch, worauf aus dem Wimmern ein waschechtes Heulen wurde. Chip fiel auf, dass der Kerl krampfhaft seine rechte Hand hielt, und er konnte sich auch denken, warum; da waren nur drei Finger und der Daumen.

„Okay“, sagte Chip. „Ich rufe jetzt die Polizei!“

Ein lautes Schniefen. „Er hat gesagt, ich soll die Eins drücken!“

„Alles klar, mann.“ Bloß weg hier!

Mit schnellem Schritt galoppierte Chip durch den Flur auf der Suche nach einem Telefon. Im Wohnzimmer fand er glücklicherweise eines. Er hatte gerade den Hörer abgenommen, als er sah, dass ihn jemand von der Couch aus beobachtete. Chip ließ den Hörer fallen und griff wieder zu seinem Paket. Er war offenbar immer noch der Meinung, dass der Karton eine gute Waffe sei.

„Wer zur Hölle sind Sie denn jetzt?“, rief er mit zittriger Stimme.

„Ich? Ich bin nur ein einfacher Mann von Welt.“

Und ich bin Jesus, dachte Chip. „Was haben Sie da in der Hand?“

Roy Kokett sah auf die Mikrowelle. „Das ist bloß ein alter Kasten.“

„Legen Sie ihn trotzdem auf den Boden, okay? Vielleicht ist das ja eine Bombe!“

„Eine Bombe!“ Roy kicherte. „Mein Junge, eine Bombe ist hiergegen ein trockener Furz.“

„Aber...“, doch Chip war mit seinen Nerven fast am Ende. Der Tag hatte normal angefangen – eine Scheibe Toast, einen Kaffee. Dann waren eine kopflose Frau, Unmengen von Blut und ein winselnder Typ ohne rechten Zeigefinger gekommen. Und das Finale bestritt ein Kerl mit einem Blechkasten auf dem Schoß.

„Weißt du, da fällt mir dieser dämliche Spruch ein“, sagte Roy. Er starrte träumend ins Nichts. „Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel. Man weiß nie, was man bekommt.“

Mit diesen Worten drückte er die Rauten-Taste.

Absurd

Подняться наверх