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Warum Henry Maske ein Fußballfan wurde

Das ewige Gelübde hatte damals genau drei Monate gehalten. Italien war unverdient und erschummelt Weltmeister geworden, und ich hatte mir wie Millionen anderer geschworen, mindestens ein Jahr lang keine Pizza zu essen. Ein schwacher Moment des Hungers hatte schließlich gereicht, um mich wieder in die behaarten Arme von Luigi zu treiben. Lange genug hatte er mich sehnsüchtig und mit traurigen Augen an seinem grün-weiß-rot gestreiften Ladenlokal vorbeilaufen sehen. Diese Zeit lag nun schon fast ein Jahr hinter uns, und so konnten Henk und ich beruhigt in Luigis kleine Taverne zum Mittagessen einkehren.

Henk ist mein Freund seit Grundschultagen und verdient sein Geld mittlerweile als Videokünstler. Dass es das wirklich als Beruf gibt, wusste ich vorher auch nicht, aber das muss nichts heißen, schließlich hätte ich auch nie gedacht, dass ich im Jahr 2007 noch einmal eine ganze Nacht lang mit meinem VfL Bochum von der Deutschen Meisterschaft würde träumen dürfen.

Den Vormittag über haben Henk und ich verzweifelt versucht, einige Szenen für meine neue Video-Kolumne in den Kasten zu bekommen. Ein revolutionäres Internetformat, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen wird. So war es wenigstens gedacht. Doch nachdem ich einige Moderationssätze in die Kamera gesprochen hatte, fiel mir ein Sprachfehler auf, den ich bis jetzt noch nicht an mir wahrgenommen hatte. Ich hörte mich an wie die RTL-Moderatorin Katja Burkhard an besonders guten Tagen. Die S-Laute kamen mir einfach nicht fehlerfrei über die Lippen. Mein Lispeln benetzte nicht nur das Kameraobjektiv mit einer klebrigen Speichelspur, sondern hob auch die Mundwinkel von Henk zu einem nicht zu übersehenden Schmunzeln. Wenn ich nach einem Moderationspart wieder einmal frustriert, aber dennoch hoffnungsvoll fragte, ob es denn nun wenigstens ein bisschen besser gewesen sei, konnte sich Henk das Lachen nur schwer verkneifen. Trotzdem haben wir einfach weitergemacht und alle vorgesehenen Szenen abgedreht, bis uns der Hunger zu Luigi trieb.

Kaum haben wir die Eingangstüre der italienischen Taverne hinter uns geschlossen und einen ersten Blick auf die Speisekarte geworfen, spult Henk gewissenhaft seinen berühmten Standardsatz ab: „Die haben aber ganz schön angezogen, was?!“ Henk meint natürlich die Preise. Doch die sind bei Luigi schon kurz nach der Währungsreform, gemeint ist die von 1948, nicht mehr verändert worden. Dieses Argument bessert Henks Laune jedoch nicht im Geringsten auf, und so lade ich ihn für seine Mithilfe beim Dreh großzügig ein, was der Videokünstler mit einer ebenso großzügigen Aufstockung seiner geplanten Bestellung freudig zur Kenntnis nimmt. Wahrscheinlich hat ihn mein Gerede von den dicken Gehältern der Bundesligastars ganz kirre gemacht. Ich nehme mir vor, beim nächsten Mal etwas mehr über Frauenfußball zu sprechen. Und vielleicht beiläufig die Prämie der Nationalspielerinnen für den EM-Gewinn 1989, ein Kaffeeservice, zu erwähnen. Demut und Bescheidenheit haben bekanntlich noch nie jemandem geschadet, und ich möchte schließlich nicht, dass Henk vom Fußball endgültig ein falsches Bild bekommt. Denn wirklich Ahnung hat er davon nicht. Er ist ja schließlich Videokünstler.

Um halb vier sind wir mit Bochums bekanntestem Fußballfan nach Herbert Grönemeyer verabredet. So jedenfalls titulierte das Fußballmagazin „11Freunde“ Frank Goosen. Der Autor und VfL-Fan hat beim Öffnen der Tür natürlich ein Telefon am Ohr. Immer busy, der Mann. Wenn die Position von Reiner Calmund nicht schon so fest in den Geschichtsbüchern der Bundesliga verankert wäre, könnte ich mir Goosen dort als einen attraktiven Platzhalter für die Rolle des geschäftstüchtigen Liga-Schwergewichts vorstellen. Wobei der Vergleich natürlich rein figürlich schon etwas hinkt. Wer Calmund einmal leibhaftig vor sich hatte, fragt sich nämlich augenblicklich, welch unglaubliche Spannkräfte Hosenträger doch entwickeln können. Als ich ihn kurz vor der WM 2006 in einem einzigen Wortrausch auf einem Fankongress in Bonn gesehen habe, war ich froh, als er wieder weg war. Ich saß nämlich in der ersten Reihe. Gebannt hielt ich die Kamera auf den schwitzenden Rheinländer, beobachtete irritiert, wie er ständig seine Anzughose hochzog, und fürchtete bei dem sicherlich in Kürze eintretenden Total-Kollaps unmittelbar vor meinen Augen, ihm als Erste Hilfe eine feuchte Mund-zu-Mund-Beatmung verpassen zu müssen. Dazu ist es damals Gott sei Dank nicht gekommen. Aber während der nächsten Tage habe ich mir immer wieder vorgestellt, wie ihm die attraktive dunkelhaarige Assistentin im Dienstwagen beim Wechseln des nassgeschwitzten Hemdes hat helfen müssen. Eine Prozedur, die sich am Tage wahrscheinlich häufiger vollzog. Nimmt man eigentlich nicht ab, wenn man so aktiv ist und schwitzt?

Goosen hat endlich das Telefon beiseitegelegt und die VfL-Kaffeetassen herausgeholt. Henk mustert das großzügige Wohnzimmer und den anliegenden Garten. Er hat eine Idee, wo man die Kamera am günstigsten aufbauen kann. Goosen hat eine andere. Ich lasse die beiden diskutieren und entscheide mich schließlich für eine dritte Lösung, die ich beiden danach in einem Einzelgespräch quasi als ihre eigentliche Idee verkaufe. Alle sind zufrieden, und wir beginnen mit dem Interview.

Am Wochenende zuvor im Ruhrstadion hatte eine Wespe den Bremer Trainer Thomas Schaaf in die Lippe gestochen, und der Hamburger van der Vaart wusste nicht nur die Hanseaten zu begeistern, indem er das Trikot des FC Valencia in die Kamera eines spanischen Reporterteams hielt. Ein schöner Skandal und genug Zündstoff für ein humorvolles Gespräch unter Fußballverrückten.

Das Wetter ist herrlich. Keine Selbstverständlichkeit in diesem Sommer. Henk ist mittlerweile vollkommen überzeugt, dass das Format, das wir gerade abgedreht haben, einfach toll ist. Goosen ist wie immer witzig, die Idee neu und unverbraucht. Eben das, was die Welt stets fordert und nun auch endlich bekommen soll. Ich lasse mich für einen Moment von der Euphorie und dem warmen Gefühl des sonnigen Tages anstecken. Wir gehen auf ein Bier ins „Parkschlösschen“ direkt am Bochumer Stadtpark. Ich weiß natürlich, dass das mit dem einen Bier nicht klappen wird, nehme mir aber fest vor, es nicht ausufern zu lassen. Schließlich habe ich dem Mann vom „Kicker“ versprochen, morgen noch das fertige Video rüberzuschicken. Ich rufe Gerry, Wolle und Thomas an. Der entscheidende und verhängnisvolle Fehler. Alle drei können.

Als das erste Bier, das einmal das einzige sein sollte, getrunken ist, beginne ich von meiner Entdeckung am Morgen zu erzählen. Ich hatte in der „Vanity Fair“ eine Story zum Bundesliga-Start entdeckt. Promis sollten ihren Lieblingsklub nennen. Zum Glück hatten sie für den VfL Bochum Goosen genommen, was angesichts von abgehalfterten Fernsehsternchen wie Sat1-Moderatorin Bettina Cramer, vollbusigen Lachschnecken wie Ruth Moschner oder geschwätzigen Dauerunsympathen wie CSU-Politiker Markus Söder für uns VfLer eine ausgesprochen angenehme Wahl darstellte. Wie die Fans von Schalke 04 (Bettina Cramer), Hertha BSC (Ruth Moschner) und Nürnberg (Markus Söder) mit ihren prominenten Vereinskameraden klarkommen, ist sicherlich ein ernstzunehmendes Problem, über das die Anhänger einmal ausführlich mit einfühlsamen Psychologen ihrer Heimatstadt sprechen sollten.

Doch das ist alles nichts gegen das Unheil, das den Fans von Bayer 04 Leverkusen widerfährt. Es war mir schon immer ein Rätsel, welcher genetische Aussetzer einen potenziellen Fußballinteressierten so vollkommen vom Weg abbringen kann, dass er Anhänger dieses Retortenklubs wird. Dass die Lösung allerdings so einfach sein kann, zeigt das Beispiel des auch im Alter noch rüstigen Gentleman-Boxers Henry Maske. Der hat nämlich tatsächlich auf die Frage „Fan seit?“ geantwortet: „1999. Weil ich damals eine McDonalds-Filiale in der BayArena eröffnet habe.” Und da sage noch jemand etwas gegen die ewigen Mahner, die Fastfood für Teufelszeug halten.

Henk, Gerry, Wolle und Thomas kriegen von der Geschichte natürlich Hunger, und so essen wir im Schein der untergehenden Sonne Currywurst, Mozzarella-Sticks und Aioli mit Brot. Als der Kellner um ein Uhr die letzte Runde bringt, laden wir ihn auf ein Bier ein. Beim Abkassieren fragt er mich, ob ich der Typ sei, der die zwei VfL-Filme gemacht habe. Für einen Moment sehe ich ihn an, um zu gucken, ob er glaubt, ich hätte schon ein paar Biere zu viel getrunken (was stimmt) und er mich nun ein bisschen verarschen könne. Doch er lächelt nur verlegen und scheint es ernst zu meinen: „Die Filme sind echt klasse. Machen richtig Spaß anzuschauen. Wobei ich gestehen muss, dass ich eigentlich Schalker bin.“ Kurz zucke ich zusammen. Wir sind den ganzen Abend von einem Menschen aus Herne-West bedient worden und haben nichts gemerkt? Eine Schande. Ich muss mir ehrlich eingestehen: Wir werden wohl langsam alt.

Fußball ist nicht das Wichtigste im Leben – es ist das Einzige

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