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Der bärtige Superman aus Uerdingen

Ich kann nicht. Noch nicht. Neben mir drängt sich ein älterer Mann mit Schnauzer und hochrotem Kopf in die Reihe der konzentriert vor sich hinstarrenden Männer. Er hat die Hände flehend vors Gesicht gehalten und jubiliert grinsend: „Ich hab’s gewusst. Das ist mein Glückstag. Das ist Gott verdammt noch mal mein Glückstag!“ Seine strahlenden Augen blicken auf das Werbeplakat eines Herstellers für Pyroartikel. „Think pink“ steht da in grellen Lettern drauf geschrieben, doch das Dauergrinsen kommt wohl eher von der dickbusigen Blondine im strammen Bikinioberteil, die neunzig Prozent der Fläche des Plakats mit ihrer riesigen Oberweite bedeckt. Die Ablenkung tut gut. Mit einem leichten Pressen drücke ich die ersten Tropfen heraus und betrachte nun mit deutlich mehr Wohlwollen die absurden Handlungen des Mittfünfzigers neben mir.

Natürlich läuft es bei ihm sofort. In einem kräftigen Schwall dampft die durchsichtige Flüssigkeit in die silberne Pissrinne. Mittlerweile dreht der Glückskeks des Tages seinen Kopf mit raushängender Zunge und irrem Blick immer näher an das Plakat heran. „Komm, leck sie schon ab, die geile Sau und dann mach fertig“, ruft sein Hintermann, der vorsorglich den Hosenstall schon einmal geöffnet hat und leicht in die Hocke gegangen ist. „Sind ja nicht wegen der Weiber hier“, legt er noch nach und sackt wie zur Bestätigung ein lang gezogenes V-f-L von der gegenüberliegenden Seite ein.

Das war letzte Woche Freitag. Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt. Heute ist Montag, ich sitze am Rechner und schaue Videos bei youtube durch. Und da ist er auch schon: der Fund des Tages. Der bärtigste Trainer der Liga, Friedhelm Funkel, als Superman. Strenger Scheitel, und die Hoden unter den roten Shorts eng zusammengedrückt. Für einen Klassiker der Kinospotwerbung hat der damals frisch umbenannte Verein KFC Uerdingen (vor mals Bayer) den prägnanten wie irreführenden Titel „Natural Born Winners“ (was für eine grausame Anmaßung) gewählt. Und der ewige Sunnyboy und Liebling der Massen, Funkel, musste dafür nicht nur die ihm auf den Leib geschriebene Paraderolle Superman, sondern auch den charmanten Humphrey Bogart (wen auch sonst?) geben. Allen Ernstes sagt er mit einem schicken Hut auf dem Kopf und einem Trenchcoat um die Lenden den Satz: „Schau mir in die Augen, Kleines.“ Zu einer natürlich völlig elektrisierten, allerdings etwas billig dreinschauenden Blondine.

Ich muss zugeben, dass ich den Trainer Friedhelm Funkel von unserer ersten Begegnung an nicht leiden mochte. Es muss irgendwann Anfang der Neunziger in der altehrwürdigen Grotenburg-Kampfbahn zu Uerdingen gewesen sein, als ich ihn das erste Mal an der Seitenlinie rumtänzeln sah. Immer wild gestikulierend und laut schreiend habe ich ihn in Erinnerung. Irgendwie habe ich geglaubt, er sei ein Öko und eigentlich ganz okay, aber was er da an der Seitenlinie abgezogen hat, war immer scheiße. Mein größter Albtraum ist bis heute Gott sei Dank nie Realität geworden: Friedhelm Funkel als Trainer beim VfL Bochum. Falls dies jemals der Fall sein sollte, wäre wohl der Tag der Entscheidung angebrochen. Ich oder dieser Superman-Verschnitt. Der Verein hätte die Wahl. Aber wahrscheinlich würde Funkel dann wieder in seine Trickkiste greifen, diesmal das Kostüm von Arnold Schwarzenegger herausnehmen, mir ein übel genöltes „Hasta la vista, Baby“ entgegenschleudern und mich mit einer Riesenwumme aus dem Ruhrstadion ballern. So wird es wohl unausweichlich kommen müssen. Oder aber ich veröffentliche vorher einfach noch einmal im ganz großen Stil diesen genialen Kinospot von 1995. Funkel als prächtig ausstaffierter Superman. Da sollte sich dann ohne Zweifel eine Horde wild gewordener Weiber finden lassen, die den Bogart in Funkel wecken und ihn ganz kirre machen. Wenn nicht, dann würde ich auch freiwillig das Feld räumen. Schließlich hat man als Nobody gegen einen Mann, der philosophische Sätze wie „Wer jetzt noch träumt, ist ein Träumer“ einfach mal so eben raushaut, eh keine Chance. Friedhelm Funkel ist und bleibt halt ein echter „Natural Born Winner“!

Das Abendbrot nehme ich vor dem Fernseher ein. Das DSF versucht den ach so emotionalen Abschied von Oliver Kahn beim Auswärtsspiel der Bayern in Karlsruhe in einem seltsamen Stilmix aus Rosamunde Pilcher und Kai Pflaumes „Nur die Liebe zählt“ zu inszenieren. Die Bilder sind ziemlich nah dran am Boulevard-TV. Der Kommentator will, auf Deubel komm raus, aus einer unspektakulären kleinen Mücke einen ganz aufregenden großen Elefanten zaubern. Ich habe Kahn allerdings selten so ruhig und cool gesehen. Wenn die rauchig-verklärt klingende Stimme des Kommentators und die herrlich einfühlsame Filmmusik nicht wären, könnte man den Beitrag komplett in die Tonne hauen. Vielleicht sollte man Kahn das nächste Mal ein bisschen besser instruieren und darauf hinarbeiten, dass er auch mitspielt bei so einer Inszenierung. Die paar echten Gefühle halten mich jedenfalls nicht von meinem wesentlich aufregenderen Abendbrot ab.

Da bin ich fast schon wieder froh, als es an der Tür klingelt und wie verabredet mein Onkel auf der Matte steht. Nadine hat irgendeinen Bürokratenwahnsinn (Rentenversicherung) zu erledigen und ist mal wieder aufgeschmissen. Mich braucht sie in solchen Dingen nicht zu fragen. Das hat sie schnell gelernt. Mein Onkel dagegen ist ein Fuchs darin. Aber vorher will sich Hermann wie gewöhnlich erst einmal über unseren VfL auskotzen. Ich mag Hermann sehr gerne, aber das geht mir nach kurzer Zeit dann doch immer etwas zu weit. „Was war das wieder für ein Mist am Freitag? Epalle (Hermann spricht den Namen stets abfällig, ein bisschen wie „Pulle“ aus) turnt da rum, und niemand weiß, was das überhaupt soll! Und keine einzige Torchance. Wer soll da auch die Tore machen? Das ist doch nur noch ein Hühnerhaufen. War ein echtes Scheißspiel, oder nicht?“

Den Moment habe ich gefürchtet, seit Hermann das erste Wort gesagt hat. Er vergewissert sich nach ein paar Sätzen des Schweigens meinerseits gerne, ob ich das nicht auch so sehen würde. Schließlich bin ich der Fußballexperte bei uns in der Familie. Jedenfalls erwarten das alle von mir. „Du machst den ganzen Tag nichts anderes. Da musst du dich doch auskennen, was?!“ Doch wenn Hermann einmal anfängt zu schimpfen, dann will ich ihn da auch nicht gleich wieder rausbringen. Das macht ihm ja Spaß, und ich gönne ihm dieses Vergnügen. Sich jetzt über technische Finessen, mögliche taktische Ausrichtungen und individuelle Fehleranalysen auszutauschen, halte ich nicht unbedingt für angebracht. Und so versuche ich, seinem Blick auszuweichen, und murmele ein zaghaftes „Ja, kann man so sehen.“ Das reicht Hermann in der Regel schon, um nun eine Stufe höher zu schalten. Regelmäßig endet das Ganze in einem kleinen Tobsuchtsanfall. Hermann bekommt dann einen leicht rot angelaufenen Kopf, seine Augen blitzen nur noch klein hinter seiner Brille hervor und der Mund ist weit aufgerissen. Heute rettet uns Gott sei Dank das Klingeln des Telefons vor dem bitteren Ende unseres kleinen Gesprächs über den VfL Bochum. Mein Vater ist dran.

„Wir haben gar nicht mehr über unseren VfL am Freitag geredet. Sollte man am besten kein Wort drüber verlieren, was?!“

„Nein“, sage ich und weise höflich darauf hin, dass wir Besuch haben und ich mich um diesen kümmern müsse. „In dem Sinne“, füge ich leise hinzu und lege auf. Mit dem Hörer noch am Ohr laufe ich an Hermann und Nadine vorbei, deute auf das wichtige Gespräch, das ich angeblich noch nicht beendet habe, und verschwinde im Arbeitszimmer. Bei dem Bürokratenkram kann ich eh nicht helfen.

Ein Kollege vom „Reviersport“ hat eine Mail geschrieben. Vor ein paar Tagen hatte er mich nach der Nummer von Wolf-Dieter Ahlenfelder gefragt. Er soll im Januar bei einem Hallenturnier der alten Recken von einigen Ruhrgebietsvereinen pfeifen. Ich hatte den beliebtesten Schiedsrichter der achtziger Jahre für ein Magazin und meine Dokumentation „Die 11 des VfL“ vor ein paar Monaten interviewt. Eine mehr als seltsame Begegnung war das damals. Bei der ersten Verabredung hatte Ahlenfelder nicht aufgemacht, den zweiten Termin kurzfristig abgesagt, und erst beim dritten Mal war es dann endlich so weit: Die Tür öffnet sich. Vor mir steht eine deutsche Schiedsrichter-Legende – in kurzen Shorts, ausgetretenen Hausschlappen und mit freiem Oberkörper. In dem Moment dachte ich nur: Junge, was für ein herrlicher Vormittag liegt da vor dir. Und es wurden tatsächlich richtig schöne Stunden mit vielen Anekdoten und lustigen Geschichten. Zum Abschied hat Ahlenfelder mir dann noch eines seiner Original-Trikots aus den Achtzigern geschenkt. Ich war selig und dachte, alles wäre gut. Bis mich ein paar Wochen später der Fotograf des Magazins aufgeregt anrief: „Der Ahlenfelder meint, er kenne dich nicht. Du wärest nie bei ihm gewesen. Ich komme da jetzt nicht rein. Am besten du meldest dich mal bei ihm.“

Ahlenfelder wirkte tatsächlich etwas verwirrt. Natürlich kenne er mich, wir hätten ja schon einmal eine Veranstaltung zusammen gemacht (was stimmte, ein paar Monate zuvor bei der Weltmeisterschaft), aber an diesem Vormittag wäre ich nicht bei ihm gewesen: „Du warst doch noch nie hier bei mir zu Hause. Das wüsste ich doch!“ Nachdem ich meine anfängliche Verunsicherung abgelegt und die Einrichtung seiner Wohnung ebenso ausführlich beschrieben hatte wie den Inhalt unseres damaligen Gesprächs, schlussfolgerte ich etwas ernüchtert: „Dann kann ich die Geschichte nicht machen, Wolf-Dieter. Das geht doch nicht, wenn du dich nicht erinnerst.“

„Quatsch“, erwiderte mit fester Stimme am anderen Ende der Leitung einer der besten Schiedsrichter, die je in der Bundesliga gepfiffen haben, „egal was der Ahlenfelder gesagt hat, er steht dazu. Mach die Geschichte, Junge, und fertig!“

Fußball ist nicht das Wichtigste im Leben – es ist das Einzige

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