Читать книгу Fußball ist nicht das Wichtigste im Leben – es ist das Einzige - Ben Redelings - Страница 8

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Der Latino-Lover Christoph Daum

In meinem Kopf pocht es gewaltig. Mir ist abwechselnd heiß und kalt. Die Nacht in einem Hotel vor den Toren von Köln hat mir endgültig den Rest gegeben. Nadines Cousine hat gestern geheiratet. Doch das Kölsch wollte mir nicht richtig schmecken. Nach zwei Gläsern bin ich auf Wasser umgestiegen. Literweise habe ich das Zeug runtergekippt. Ab Mitternacht konnte man jedoch zur Entsorgung der Wassermassen nicht mehr das Klo benutzen. Ein Partygast hatte sich unkontrolliert übergeben. Fünf Minuten später stand er allerdings wieder mit einem Kölsch in der einen und einem Wurstbrot in der anderen Hand auf der Tanzfläche. Der Junge hat mir ausgesprochen gut gefallen. Er hat genau den Überlebenswillen verkörpert, der auch den heimischen 1. FC Kölle auszeichnet.

Die Woche war hart. Zusammen mit Christoph Ruf bin ich auf der kleinen Scudetto-Lesetour mit Terminen in Berlin und Köln gewesen. Stundenlange Bahnfahrten, ein bisschen Auftreten und deutlich zu viel Bier. Das Tourleben kann schon etwas von Rock ’n’ Roll haben. Wenn man es denn zulässt. Wir haben uns für eine gemäßigte Variante des Rockstar-Lebens entschieden. Aber wenn man denn schon einmal in Berlin in einem legendären Punkschuppen auftreten darf, dann muss man es auch krachen lassen. War jedenfalls unser Plan. Die Realität sah jedoch etwas anders aus.

Kaum in Berlin angekommen, war die Stimmung bei Christoph kurzfristig auf den Nullpunkt gesackt. Ein schönes Interview mit einem gesprächigen und durchaus sympathischen Bundesligatrainer wollte dieser nach dem Durchlesen der Abschrift so nie geführt haben. Am Telefon ließ er über eine dritte Person ausrichten: „Das können Sie doch so nicht schreiben.“

Ich kenne mich. Alleine dieser Satz hätte mich schon auf die Palme gebracht. Da transkribiert man Wort für Wort, und am Ende will es mal wieder niemand so gemeint haben. „Wie hätten Sie es denn gerne, dass Sie es gesagt haben?“, hätte ich wohl süffisant erwidert. Aber Christoph ist Profi. Der denkt in solch einem Moment schon an den nächsten Termin und versucht, die Situation zu retten. Mich halten diese elenden Autorisierungen konsequent davon ab, Interviews ohne Kamera zu führen. Wenn ich ehrlich bin, kotzt mich diese Art der Glattbügelung von möglicherweise anstößigen Formulierungen regelrecht an. Weichspülprogramme für ein blütenrein weißes Fußballdeutschland.

Am Auftrittsort in Kreuzberg werden wir sehr freundlich begrüßt. Von zwei Frauen in ausgewaschenen Shirts und Wollpullis. Alter? Schwer zu sagen. Zwischen dreißig und fünfzig. Die eine schmal und hager, die andere riesig und kräftig. Beide Klischee-Lesben aus dem Brockhaus. Kollege Wolle würde wohl sogar den Begriff „Kampflesbe“ gebrauchen. Aber sehr nett. Vor allem die Begrüßungssätze. „Ihr müsst diese komischen Fußballtypen sein, wa?! Na, da kommt ma rinn. Wir haben leider von Fußball überhaupt keene Ahnung. Aber das macht nichts, wa?!“

Och, denke ich, ein bisschen Ahnung hätte vielleicht nicht geschadet. Denn bereits auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass wir nur knapp am Pokal für die am besten angekündigten Gäste aller Zeiten vorbeigeschlittert sind. Die nächste halbe Stunde versuche ich in den prächtig mit allerlei bunten Plakaten behangenen und mit Flyern nur so zugestellten Räumlichkeiten verzweifelt, ein Fitzel Papier mit dem Aufdruck Scudetto zu entdecken. Doch es bleibt ein aussichtsloses Unterfangen. Selbst in den Kabinen auf den Frauen-Toiletten kann ich die Plakatschichten einzeln auseinandernehmen – da ist nichts. Ich frage mich, wie, wo und vor allem mit wem das heute Abend enden soll?

Lange kann ich diesem Gedanken allerdings nicht hinterherhängen. Christoph stupst mich an. Jemand ist gekommen, der die Technik mit uns durchgehen will. Den Namen habe ich leider bei der Vorstellung nicht verstanden. Was immer schon peinlich genug ist, in diesem Fall aber zu einem ernsten Problem wird. Ich sehe in Christophs Augen die gleiche Ratlosigkeit, die mich gepackt hat. Männlein oder Weiblein? Welches Geschlecht bastelt da gerade an unseren Mikrofonen rum? Im nächsten Moment ist mir diese Frage aber auch gleich wieder egal. Das nette Geschöpf hat bei einer zum Mikrotest vorgelesenen Passage aus meinem Buch gelacht. So soll es sein. Wer will da schon nach dem Geschlecht fragen?

Die Feilscherei um die Gage nach dem Auftritt ist entwürdigend. Ich lasse Christoph alleine und gehe stattdessen noch einmal einzeln die Flyerstapel in einem Wandständer durch. Immer noch nichts. Als ich schließlich hinter der Theke den Papierkorb durchwühle, bekommt der Begriff „Kampflesbe“ für einen Augenblick einen ernsten Hintergrund. Zusammen mit den handverlesenen 18 Gästen, die noch immer im mittlerweile hell erleuchteten Saal auf den Stühlen stehend um eine Zugabe bitten, verlassen wir eilig die Räumlichkeiten.

Draußen treffen wir auf unseren Techniker. Sandra ist eine Frau und hat ihre Freundin im Arm: „War nischt los, wa?! Hab denen gleich jesacht, dat et ohne Werbung nischt jeht. Ick hab mir eens von die schöne Plakate mit nach Hause jenommen.“ Ja, da hängt es sicher gut!

Als ich am nächsten Morgen gegen sechs Uhr aufwache, greife ich erst einmal in meine am Boden liegende Hose und nehme mit einem Schluck Cola light zwei Kopfschmerztabletten ein. Dann drücke ich das Kissen so elegant hinter meinen Kopf, dass ich das riesige Bücherregal komplett mit einem Blick erfassen kann. Wir sind bei einem befreundeten Journalisten-Kollegen von Christoph untergekommen. Und wie ich gestern Nachmittag bei unserer Ankunft schon erfreut feststellen durfte, hat der gute Mann das eine oder andere Fußballbuch in seinem Sortiment, das mir bisher durch die Lappen gegangen ist.

Als die Tabletten einen Großteil ihrer befreienden Wirkung entfaltet haben, wage ich mich näher an die zwei Regalbretter, die mein Interesse geweckt haben. Voller Demut schieße ich mit dem Handy erst einmal ein paar Fotos aus der Nahdistanz. Zu Hause kann ich die dann in Ruhe auswerten. Doch ein Buch muss ich sofort in die Hand nehmen: „Daum: War es ein Komplott? Neue Erkenntnisse, Daten, Fakten, Hintergründe“. Und eine Frage, die mich fast umbringt: Wie konnte mir dieses wunderbare Werk aus dem Jahr 2000 bisher nur entgangen sein?

Ich lasse mich auf die Luftmatratze fallen und drehe das Buch immer wieder voller Andacht in meinen Händen herum. Ich spüre, hier passiert gerade etwas Großes. Bereits das Cover toppt alles bisher Gesehene. Christoph Daum in seinem berühmten blauen Anzug vor einem blutroten Hintergrund. „Hervorragend recherchiertes Material“ und „brisante Erkenntnisse“ werden auf der Rückseite reißerisch versprochen. Mich hat die Neugierde gepackt. Schnell blättere ich nach ganz hinten. 128 Seiten. Das ist zu schaffen, bis die anderen wach sind. Und so lese ich Seite für Seite. Vor Begeisterung schüttele ich mehrmals krampfartig mit dem Kopf hin und her und leere nebenbei in großen Zügen die Colaflasche, bis meine Blase signalisiert: bis hierhin und nicht weiter. Doch dann kommt er. Der Höhepunkt. Seite 120. Der Autor holt zum finalen Schlag aus.

Christoph Daum ist das Opfer einer „gewissen halbseidenen und teilkriminellen wirtschaftlichen Interessengruppe“, kurz gesagt, der Mafia, geworden. Sie hat den damaligen Trainer von Bayer Leverkusen und Angelica Camm, seine heutige Dauer-Lebensgefährtin, zusammengebracht. Und die Mafia wollte ihn mit dieser außerehelichen Affäre erpressen. Sie wollte ihn ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. Am Ende sollte er am Boden liegend winseln und um Gnade bitten. Doch der Plan scheiterte. Denn mit einem hatten diese üblen Damen und Herren von der halbseidenen Interessengruppe nicht gerechnet: mit dem unwiderstehlichen und auf Frauen betörend wirkenden Charme des Christoph Daum.

Fast schon wissenschaftlich nüchtern kommt der Autor zu dem Schluss: „Nun haben sich Christoph Daum und Angelica Camm aber anscheinend ineinander verliebt.“ Verdammt noch mal. Das ist es, durchzuckt es mich. Jetzt wird ein Schuh daraus. Und auch das Buch führt konsequent auf den folgenden Seiten aus, dass die Mafia nun natürlich Daum Kokain unterschieben musste, um ihn doch noch zu packen. Quasi in die Nase gedrückt haben sie ihm das Zeug. Und als er immer noch nicht zahlen wollte, haben sie eben dem Uli Hoeneß Bescheid gesagt. Und die Haaranalyse gefälscht. So konnten sie es dem Daum mal so richtig geben, diesem unwiderstehlichen Latino-Lover.

Als ich am Abend die Geschichte in Köln erzähle, liegen wir alle kollektiv vor Lachen auf dem Boden. Nur ein Typ in der ersten Reihe schaut mich während meiner Ausführungen seltsam regungslos an. Nach der Veranstaltung kommt er direkt auf mich zu. „Das war ein super Abend. Aber sag mal: die Geschichte mit dem Christoph Daum. Das kann doch sein. Meinst du nicht auch? Der Mafia traue ich jedenfalls alles zu!“

Innerlich fassungslos, breche ich auch jetzt nicht mit der ersten aller Bühnenregeln. Eine Regel, die die alternden Rampensäue von Generation zu Generation weitergeben und die besagt: Widerspreche nie einem deiner Gäste! Und so nicke ich eifrig. Klopfe dem Verirrten aufmunternd auf die Schulter, gebe ihm zwei Kölsch auf einmal aus und fühle mich wieder mal bestätigt: Die Kölner können nicht nur an Karneval so richtig jeck sein. Und deshalb haben sie sich ihren Christoph Daum auch redlich verdient!

Nachts um zwei trudeln wir am Freitag nach dem Auftritt in Köln wieder in Bochum ein. Abends steht ein Geburtstag an. Wieder Alkohol, wieder spät ins Bett. Und gestern nun die Hochzeit. Als wir um 14 Uhr zurück aus Köln sind, lege ich mich erst einmal auf die Couch und lese im Videotext alles über den 2:0-Sieg der deutschen Nationalmannschaft in Wales.

Drei Stunden später werde ich vom Klingeln des Handys wach. Ich muss eingeschlafen sein. Wo ist Nadine? Liegt neben mir. Alles klar. Und wo ist das Handy? Kann nicht weit weg sein. Mein Weckerklingelton bimmelt laut und unaufhörlich. Aber irgendwie komme ich nicht hoch. Mir ist schwindelig. Sollte ich mal untersuchen lassen. Nur jetzt muss ich erst einmal dieses nervtötende Telefon finden. Nadine ist auch wach. Sie schaut mich vorwurfsvoll an. Sehr böser Blick. Das Handy klingelt weiter. Hilft alles nichts. Ich muss es suchen gehen. Dann ist plötzlich Stille im Raum. Ich lasse mich wieder zurück aufs Sofa fallen. Im selben Moment geht das Geklingel von vorne los.

„Stör ich?“, fragt eine Stimme. Jedenfalls denke ich, dass dies der Wortlaut war. Denn eigentlich versteht man fast nichts. Irgendein Idiot macht im Hintergrund eine wahnsinnig laute Durchsage: Zug xy hat wegen Laub auf den Gleisen circa eine halbe Stunde Verspätung. Laub auf den Gleisen? Anfang September? Das müssen Bäume gewesen sein, denen man noch nichts vom Klimawandel gesagt hat. Auf jeden Fall braucht mir Christoph nicht mehr viel zu erklären. Er kommt später als verabredet. Das passt gut, denke ich. Wir sind durch das kleine Nickerchen auch nicht pünktlich. Dass ich mich wie ausgekotzt fühle und mir nicht im Geringsten vorstellen kann, heute auf die Bühne zu gehen, sage ich ihm nicht. Wir werden Moers schon rocken! Erst einmal nehme ich aber eine doppelte Dosis Aspirin.

Nadine ist den ganzen Tag schon so komisch. Irgendwas stimmt nicht mit ihr. Wenn ich nur wüsste was. Vielleicht waren die letzten Tage auch für sie ein bisschen viel. Immer von früh bis spät im Laden stehen und abends dann Veranstaltungen. Das hält ja niemand lange aus. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass da noch etwas anderes ist.

In Moers werden wir herzlich begrüßt. Das Motto des Abends ist „literarisch verzapft“, und es wundert mich nicht sonderlich, dass man uns für den Auftritt hinter einen Tresen stellen will. Christoph kommt gerade noch rechtzeitig und hat Christofer Heimeroth, den Keeper von Borussia Mönchengladbach, unseren heutigen Gast, mit im Gepäck. Der Lange macht auf den ersten Blick einen überaus sympathischen Eindruck. Nur diese riesige Uhr an seinem rechten Handgelenk irritiert mich. Hatte ich vor ein paar Tagen bei mehreren Bundesligaprofis gleichzeitig entdeckt. Muss was mit dem Beruf zu tun haben. Oder ein Werbegeschenk der DFL sein. Wundern würde es mich nicht. Mal drauf achten, ob Udo Lattek beim nächsten Doppelpass im DSF auch auf so ein Ding starrt, um die endlos langen Minuten bis zum Abschlussbierchen zu zählen.

Christoph wirkt im Gegensatz zu mir wie das blühende Leben. Wie der das wohl macht? „Na, ihr beiden“, begrüßt er Nadine und mich freudestrahlend mit einer Umarmung, „habt ihr euch auch einen richtig schönen Hochzeitstag gemacht?“ Ich merke, wie mir augenblicklich die Farbe aus dem Gesicht weicht und meine letzten Funken Energien irgendwo im Raum verpuffen. Wie konnte ich den nur vergessen? Ich bin ausgelöscht. Auf ewig verdammt. Nie wieder wird auch nur das sanfteste Glücksgefühl meinen Körper durchströmen.

Schon am Boden liegend, spüre ich noch einen kräftigen Fußtritt in die Magengegend. Nadine straft mich mit einem eis kalten Blick ab. Es rettet mich einzig und allein die Begrüßungsansprache des Veranstalters. Wir müssen hinter den Tresen. Und ich muss schauen, wie ich aus dieser Situation irgendwie herauskomme.

„Herzlich willkommen zu Scudetto an diesem für uns alle so besonderen Tag. Sie haben einfach mir nichts, dir nichts den Tatort am Sonntag sausen lassen, und meine charmante Ehegattin hat sich bis jetzt gedulden müssen. Wir haben nämlich heute Hochzeitstag. Und da wollte ich dir natürlich sagen, mein Hase, – vor aller Ohren – wie lieb ich dich habe.“ Die ältere Dame links am Tresen lächelt mir aufmunternd zu. Sie scheint mir mit ihren funkelnden Augen sagen zu wollen: Nur jetzt nicht aufhören. Einen musst du noch oben drauf setzen. Dann hast du sie!

„Und wenn wir die nächsten fünfzig Hochzeitstage hier in Moers mit Christoph und Christofer und mit diesem fantastischen Publikum gemeinsam verbringen dürften, dann wäre ich der glücklichste Mann auf Erden.“ Der aufdonnernde Applaus und die kräftige Torhüterpranke von Christofer Heimeroth auf meiner Schulter zaubern ein Lächeln in mein Gesicht. All die Energien, die ich auf ewig verloren glaubte, dringen mit einem Schlag zurück in meinen Körper. Gestärkt und voller Zuversicht schaue ich hinüber zu Nadine. Sie steht an eine Wand gelehnt und versucht vergeblich die Hände auszuschlagen, die ihr zu solch einem großartigen Ehemann gratulieren wollen. Schnell wende ich den Blick von ihr ab. The Show must go on.

In der Halbzeit belagern zwei Gladbach-Fans Christofer und weichen ihm nicht mehr von der Seite. Auch dann noch nicht, als wir die zweite Hälfte beginnen wollen. Nach mehreren ergebnislosen Anläufen und verzweifelten Hilferufen von Christofer stelle ich mich hinter den Gladbacher Keeper und lausche dem Gespräch.

„Ey, Christofer, wir steigen doch auf, oder?“

„Tja, das ist nicht so einfach. Wir haben noch …“

„Wir steigen doch auf, Christofer?!“

„Ich kann euch versichern, dass wir in jedem …“

„Christofer, wir steigen auf, oder?!“

„Naja, wir müssen erst einmal gucken, dass wir nächste …“

Es ist nicht zum Aushalten. Ich nehme Christofer ein Stück beiseite und flüstere ihm ins Ohr: „Sag ja. Sag bitte einfach nur ja.“

„Ey, Christofer, wir steigen auf, oder?“

Christofer schaut zu mir herüber. Er wirkt verunsichert. Ich nicke ihm aufmunternd zu. Und dann tut er’s: „Ja, klar!“

Die beiden Gladbacher ballen die Fäuste, klopfen ihrem Idol auf den Rücken und drehen dann freudestrahlend ab: „Siehste, habe ich dir doch gleich gesagt: Wir steigen dieses Jahr auf. Meint der Christofer auch!“

Fußball ist nicht das Wichtigste im Leben – es ist das Einzige

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