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3.

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Als hinter der Kurve die Siedlung und die Lichter der Straßenlaternen auftauchten, brachte er es sogar fertig, seinen Schritt zu beschleunigen. Schwitzend und frierend zugleich erreichte er sein Ziel und drückte beim ersten Haus mehrmals auf die Klingel neben dem Vorgartentor.

Ein Hund schlug an, im Obergeschoss wurden Rollläden hochgezogen, ein Fenster geöffnet und Licht gemacht, dann tauchte die Silhouette eines weiblichen Oberkörpers auf.

„Hey, was soll denn das? Das ist nächtliche Ruhestörung. Was wollen Sie? Verschwinden Sie, sonst hole ich die Polizei!“, rief eine Stimme, die verärgert und schlaftrunken klang.

„Entschuldigung, ich brauche nur mal kurz Hilfe“, rief er halblaut zurück.

Das Fenster wurde wieder geschlossen. Er wartete. Dann klingelte er erneut. Und dann noch einmal. Die Haustür wurde geöffnet und ihm Flurlicht sah er eine Frau im Morgenmantel, neben sich einen knurrenden Labrador, den sie am Halsband hielt.

„Was ist denn? Was wollen Sie?“, fragte sie ungehalten.

„Bitte, entschuldigen Sie, aber ich brauche Hilfe“, wiederholte er.

Plötzlich ging außer der Lampe über der Haustür noch eine Leuchte im Vorgarten an, deren Schein das Grundstück bis zum Tor hin erleuchtete. Die Frau trat aus dem Haus, den großen Hund eng neben sich, und kam ein paar Schritte näher.

„Bitte“, sagte er noch einmal, „Sie müssen keine Angst haben. Entschuldigen Sie die Störung. Es ist mir wirklich sehr unangenehm. Ich bin ein Nachbar, Max Berthold. Wir wohnen dort drüben am Wald. Mir ist ein Missgeschick passiert.“

Sie kam bis direkt ans Tor. Er erinnerte sich, sie schon ein paarmal auf der Straße gesehen und gegrüßt zu haben, einmal, als er zusammen mit Anna und der Kleinen unterwegs gewesen war. Sie war jung, bestimmt noch keine dreißig, und außerdem ziemlich hübsch auf ihre blonde, etwas vollschlanke Art.

„Ach, Sie sind das“, sagte sie, jetzt in verändertem Ton, und schlug sich die Hand vor den Mund. „Mein Gott, Sie sehen ja schrecklich aus. Was ist Ihnen denn zugestoßen? Sie haben ja Blut im Gesicht. Hatten Sie einen Unfall? Soll ich einen Krankenwagen rufen? Und die Polizei?“

„Nein, nein, mal langsam, das ist nun wirklich nicht nötig. Mir ist nur etwas ganz Dummes passiert. Ich wollte noch mal kurz raus zur Mülltonne und dabei bin ich auf dem nassen Laub ausgerutscht und gestürzt. Währenddessen ist die Haustür zugefallen. Ich hatte den Schlüssel nicht eingesteckt und jetzt stehe ich da und kann nicht wieder rein. Ich bin zurzeit nämlich allein. Meine Frau ist mit unserer Kleinen für ein paar Tage verreist.“

„Ach du lieber Himmel, das ist aber wirklich zu blöd. Sollen wir einen Schlüsseldienst anrufen? Da gibt’s doch solch einen Rund-um-die-Uhr-Service. Und möchten Sie nicht lieber gleich auch einen Arzt kommen lassen?“, fragte sie, nun mit ernstlicher Besorgnis in der Stimme. „Ich bin übrigens Claudia Stegmüller. Wir sind uns ja schon mal über den Weg gelaufen. Und Sie müssen entschuldigen, dass ich zuerst so unfreundlich war. Das Kind schläft und mein Mann ist auf einer Dienstreise, ich bin also auch allein zu Haus. Na ja, nicht ganz, ich habe ja ihn hier.“

Der Hund schaute ihn aufmerksam an, blieb aber ruhig, während sie ihm kurz den Kopf kraulte.

„Bloß keine Umstände. Eigentlich brauche ich nur irgendein Werkzeug, um die Haustür oder ein Fenster aufzuhebeln oder die Terrassentür, zum Glück hatte ich die Rollläden noch nicht heruntergelassen.“

„Mein Mann hat so einen Werkzeugkoffer im Keller“, sagte sie nach kurzem Zögern. Offenbar war sie unschlüssig, ob sie das Tor öffnen und ihn hereinbitten sollte, konnte sich dann aber doch nicht dazu durchringen.

„Das wäre natürlich sehr nett, wenn Sie mir den ausleihen könnten.“

„Moment, ich hole ihn rasch“, sagte sie, schon im Gehen. Der Hund folgte ihr. Sie kehrte ohne ihn zurück und machte das Tor auf, um den Koffer hinauszureichen, der ziemlich groß und schwer war. Er bedankte sich und versprach, ihn am nächsten Tag zurückzubringen.

„Ach, das hat doch keine Eile. Jedenfalls wünsche ich Ihnen viel Erfolg“, sagte sie und musterte ihn skeptisch. „Kommen Sie wirklich allein zurecht?“

„Ich werde das schon irgendwie hinkriegen, bestimmt. Aber eine Frage habe ich noch. Können Sie mir sagen, wie spät es ist?“

„Eben, als Sie anklingelten, habe ich auf den Wecker geschaut, da war's kurz vor eins.“

Alles in allem war also nur eine knappe Stunde vergangen. Das hieß, dass er nicht allzu lange ohnmächtig gewesen sein konnte. Er hatte vor vielen Jahren erlebt, wie es ist, einen Knockout hinter sich zu haben. Was er jetzt empfand, erinnerte ihn daran, nachdem er es in all der Zeit längst vergessen zu haben geglaubt hatte. Die Schmerzen waren inzwischen etwas abgeklungen, vermutlich auch infolge des Adrenalins, das durch die Anstrengung des Gehens freigesetzt worden war. Sein Körpergefühl war in diesen Dingen immer noch recht verlässlich.

Aber das spielte jetzt alles keine Rolle, ebenso wenig wie die Mühen, die es ihn kostete, mit dem schweren Koffer zügig voranzukommen. Er musste zurück, schnellstens, musste in sein Haus und etwas tun, ohne allerdings zu wissen, was das sein würde. Plötzlich kam ihm die Vorstellung, dass dort eine tote fremde Frau lag, so absurd, so surreal vor, dass er für einen Moment an seinem Verstand zweifelte. Es war nicht das erste Mal, dass er sich solchen Zweifeln ausgesetzt sah.

Er versuchte, nicht daran zu denken, was Anna sagen würde, wenn sie gewusst hätte, in welcher Lage er sich gegenwärtig befand. Am besten war es, zunächst einmal möglichst gar nicht viel zu denken, sondern sich Klarheit zu verschaffen. Und dazu musste er als Erstes zurück in sein Haus.

Seltsamerweise verschaffte es ihm ein leichtes Gefühl der Beruhigung, es zumindest äußerlich genau so vorzufinden, wie er es vorhin verlassen hatte. Über dem Eingang brannte immer noch das Licht, ausreichend stark, die Haustür mit ihrem Sicherheitsschloss einer genauen Musterung zu unterziehen. Er öffnete den Werkzeugkoffer und musste sich prompt eingestehen, dass er mit dem Inhalt vergleichsweise wenig anzufangen wusste. Er war nun mal alles andere als ein Heimwerker. Anna mokierte sich bisweilen darüber, wie wenig er auch in dieser Hinsicht den gängigen Klischees entsprach. Zwar sei es gewiss falsch, in seinem Fall von jemandem mit zwei linken Händen zu sprechen oder ihn einen reinen Grobmotoriker zu nennen, zumal er in seinem Atelier schließlich unter Beweis stelle, dass seine Hände noch zu anderem fähig seien, als sich zu schlagkräftigen Fäusten zu ballen, „aber Basteln und Werken sind nun mal eindeutig nicht dein Ding“, pflegte sie zu sagen.

Tatsache war, dass ihn dergleichen einfach nie interessiert und er nie den Ehrgeiz gehabt hatte, irgendwelche Arbeiten auszuführen, die man seiner Ansicht nach besser den Fachleuten überlassen sollte. Aber wo gab es schon einen Experten, der nicht nur imstande war, eine solide Haustür zu knacken, sondern auch bereit war, diskret darüber hinwegzusehen, dass sich im Inneren des Hauses eine Leiche befand?

Vielleicht sollte er es doch lieber gleich an der weniger stabilen Terrassentür versuchen, so wie er es ursprünglich vorgehabt hatte, überlegte er. Er nahm ein paar Schraubenzieher und ein kleines Stemmeisen aus dem Koffer und ging um das Haus herum nach hinten.

Beim Blick in das Wohnzimmer erstarrte er, das Werkzeug fiel ihm aus der Hand.

Tödlicher Besuch

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