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5.

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Ein lästiges Geräusch ließ ihn hochfahren. Im selben Moment, als er zu der Vermutung gelangte, dass es von der Türklingel stammen musste, kam ein zweites Geräusch hinzu, als dessen Ursache er sein Handy ausmachte. Beide Geräusche mischten sich mit einem leichten Dröhnen im Inneren seines Schädels, während ihm die Pfeile des Sonnenlichts, das durch die Scheiben des Terrassenfensters hereinfiel, in die Augen stachen.

Er stand vom Sofa auf, schüttelte sich kurz und entschied sich für die Haustür, nachdem das Handy rasch wieder verstummt war. Auf dem Weg zur Tür warf er einen Blick auf die Uhr in der Küche, stellte fest, dass es halb zwölf war, und sah sich dann der jungen Nachbarin gegenüber. Wie hieß sie noch gleich? Stegmeier oder so ähnlich. Sie trug eine dicke rote Jacke und ihr Atem hinterließ kleine Wölkchen in der klaren, kalten Novemberluft.

„Sorry, ich hoffe, ich störe Sie nicht“, sagte sie und musterte ihn mit einem Blick, in dem unverkennbar Befremden lag und der ihn veranlasste, an sich herunterzusehen und sich der Tatsache bewusst zu werden, dass er immer noch in Hemd und Hose war und ziemlich ramponiert aussah.

„Nein, gar nicht, es ist nur so, dass ich gerade ... Entschuldigung“, stotterte er. „Warten Sie, ich hole schnell Ihren Werkzeugkasten.“

„Ach, das hat doch keine Eile, deshalb bin ich nicht hier. Ich wollte nur mal kurz nach Ihnen schauen, ich meine, wir sind ja doch schließlich irgendwie Nachbarn. Und letzte Nacht, na ja, ich hatte hinterher das Gefühl, mich nicht richtig um Sie gekümmert zu haben. Jedenfalls sind Sie ja wieder reingekommen in Ihr Haus. Aber, ehrlich gesagt, Sie sehen immer noch nicht so besonders gut aus. Die Wunde da am Kopf über dem Auge ...Vielleicht brauchen Sie doch einen Arzt.“

„Halb so wild, sieht schlimmer aus, als es ist. Ich komme schon zurecht.“

„Wirklich?“ Sie schien nicht ganz überzeugt und schaute ihn skeptisch an. Aus dem Wohnzimmer waren erneut die Töne des Handys zu hören.

„Ich will Sie dann auch nicht weiter aufhalten“, sagte sie und wandte sich zum Gehen. „Aber wenn irgendwas ist, wenn Sie Hilfe brauchen oder so, sagen Sie einfach Bescheid.“

„Ja, danke“, murmelte er. „Ach, und eins noch, mir wäre lieb, wenn diese Sache unter uns bleiben könnte. Mir ist mein Missgeschick nämlich ein bisschen peinlich.“

„Muss es aber nicht, so was kann doch schließlich jedem passieren. Aber gut, ich werd's für mich behalten, klar.“

Das Handy war bereits wieder still, als er zurück ins Wohnzimmer kam. Von wem die beiden Anrufe stammten, war nicht festzustellen, da die Nummer unterdrückt war. Auf der Mailbox war auch keine Nachricht hinterlassen worden. Er spürte, wie Unbehagen in ihm aufstieg, obschon er sich sofort sagte, dass es nicht unbedingt etwas bedeuten musste. Seine Mobil - ebenso wie seine und Annas gemeinsame Festnetznummer waren schließlich kein Geheimnis und in den öffentlichen Telefonverzeichnissen registriert. So zurückhaltend er ansonsten im Internet mit seinen Daten umging – anrufen konnte ihn jeder, der es wollte.

Doch bevor er weiter nachdenken konnte über das, was jetzt zu tun war, brauchte er jetzt erst einmal eine Dusche und ein Frühstück. Er räumte den Tisch im Wohnzimmer ab, präparierte die Kaffeemaschine und ging ins Bad, wo er sich aus seinen durchschwitzten, verschmutzten, teilweise blutbefleckten Kleidern schälte.

Vor dem großen Spiegel nahm er eine Inspektion vor und erschrak beim ersten Anblick. Sein Gesicht sah schlimmer aus, als er befürchtet hatte. Er war immer stolz darauf gewesen, es relativ unbeschadet über all die Hunderte von Runden gerettet zu haben, zumal es kaum den Vorstellungen entsprach, die üblicherweise mit seiner Profession in Verbindung gebracht wurden – eher schmal, mit gerader, markanter Nase und hellgrauen, ziemlich tief liegenden Augen, in deren Blick meistens eine gewisse Nachdenklichkeit zu liegen schien.

Jetzt zogen sich die vertrockneten Rinnsale des Bluts aus der Platzwunde über der rechten Braue über die geschwollenen Wangenknochen bis hinunter zum Kinn. Das Gewebe um das Auge hatte sich dunkel verfärbt. Er konnte sich kaum entsinnen, nach einem Kampf jemals so erbärmlich ausgesehen zu haben. Die blauen Flecken an Schultern, Oberarmen und Brustkorb und die Schürfwunden an den Ellbogen vervollständigten das deprimierende Bild. Und plötzlich war da außer der Verwirrung, der Unsicherheit und, ja, auch Angst aufgrund der Ereignisse der zurückliegenden Nacht auch noch ein anderes Gefühl - das der Schmach. Wie hatte es ihm nur passieren können, derart unter die Räder zu kommen, selbst wenn die Angreifer zu zweit gewesen waren!

Er ging jetzt auf die fünfundfünfzig zu, und es stimmte, dass er bisweilen mit dem Älterwerden haderte, auch wenn alle Welt es als Segen betrachtete, dass die Grenzen des Alterns immer weiter hinausgeschoben wurden. Das war es vermutlich, was Anna meinte, wenn sie ihm vorhielt, er sei mit sich nicht wirklich im Reinen. Für sie war der Altersunterschied von mehr als fünfzehn Jahren nie ein Thema gewesen. Und wenn, dann war es paradoxerweise eher so, dass sie, die Jüngere, ihn irgendwie bemuttern zu müssen meinte.

.Sie war es, die darauf achtete, dass er sich nicht gehen ließ nach all den Jahren der Schinderei, die er lange hinter sich gelassen hatte. Sie sorgte dafür, dass er sich vernünftig ernährte, täglich seine Gymnastik machte, mit den Kurzhanteln trainierte und mindestens zweimal die Woche einen längeren Waldlauf absolvierte. Das Ergebnis war, dass sein Körper immer noch „sehr vorzeigbar“ war, wie sie es gern mit Genugtuung ausdrückte, wenn sie ihm wieder einmal attestierte, die meisten jüngeren Männer würden ihn um seine Figur beneiden.

Er selbst sah das wesentlich kritischer. Es bedrückte ihn zu erleben, wie dieser Körper, der ihm einst ein so verlässliches Instrument gewesen war, sich nach und nach veränderte, wie die vertraute Spannkraft und Härte ganz allmählich und für Außenstehende gewiss kaum wahrnehmbar nachließ. Doch unabhängig von seinen eigenen strengen Maßstäben traf auch zu, dass er nur knapp achtzig Kilo wog, wenig mehr als zu seinen besten Zeiten, und vermutlich besser in Form war als mancher halb so alte Fitness-Freak.

Umso unverständlicher erschien es ihm im Nachhinein, dass er sich so einfach hatte überrumpeln und zusammenschlagen lassen. Boxen war schließlich in erster Linie die Kunst der Selbstverteidigung. Und er selbst hatte stets die Ansicht vertreten, man verlerne es ebenso wenig wie Radfahren oder Schwimmen. Was war nur mit ihm los gewesen gestern Abend? Wie hatte es sein können, dass er gar nicht dazu gekommen war, sich zu wehren?

Es gab darauf eine Antwort, die irgendwo in den tieferen Schichten seines Bewusstseins schlummerte und die er von dort nur ungern hervorholte. Das Ganze war ein dunkles, heikles Kapitel. Ja, es gab Gründe, die Fäuste nicht außerhalb des Rings zu benutzen, wo sie zu einer sehr gefährlichen Waffe werden konnten. Auch diese Erkenntnis hatte er gewinnen müssen neben all den anderen Erfahrungen, die sein kompliziertes Leben mit sich gebracht hatte, und zwar um einen bitteren Preis. Und dennoch war der Gedanke nur schwer zu ertragen, dass er sich derart wehrlos hatte übertölpeln lassen.

Er duschte ausgiebig, rasierte sich, föhnte sich das dunkle, neuerdings von immer mehr grauen Strähnen durchzogene Haar, das er gern etwas zu lang trug, verpflasterte die Wunde über dem Auge und rieb sich den Körper mit einer schmerzstillenden Salbe ein, die er sonst manchmal gegen Muskelkater benutzte. Dann zog er sich eine dunkelgraue Cordhose und einen schwarzen Rollkragenpullover an, trank zwei Tassen Kaffee und aß ein Vollkornbrötchen mit Quark und Honig. Anschließend fühlte er sich nicht mehr ganz so schlecht. Vielleicht sollte er versuchen, diese Geschichte einfach zu vergessen, sie abzuhaken, so zu tun, als sei sie gar nicht geschehen. Mit Vergesslichkeit kannte er sich immerhin ein bisschen aus, dachte er mit leiser Bitterkeit. Bis Anna Mitte der nächsten Woche zurück war, würden die äußeren Blessuren hoffentlich verschwunden sein.

Doch dann fiel ihm wieder die junge Nachbarin ein, die nette Frau Stegmüller, ja, so hieß sie. Anna war ziemlich leutselig und nutzte bestimmt jede Gelegenheit, um mit den Leuten in der Straße näher ins Gespräch zu kommen. Dass die beiden Frauen sich schon begegnet waren, hatte er mitbekommen. Und wenn sie einander das nächste Mal über den Weg liefen, musste er damit rechnen, dass diese Frau Stegmüller irgendwelche Bemerkungen machen würde, trotz ihrer Zusage, die Sache für sich zu behalten. So recht mochte er nicht auf ihre Diskretion vertrauen. Was Anna sagen würde, wenn sie erführe, dass er mitten in der Nacht blutend und hilflos dort bei der Nachbarin aufgetaucht war, wollte er sich lieber nicht vorstellen. Er würde in Erklärungsnot geraten und ziemlich blöd dastehen. Und er hasste solche Situationen. Er wusste, dass er im Lauf der Jahre in mancherlei Hinsicht dünnhäutiger geworden war.

Das Beste war wohl, wenn er der Frau jetzt gleich den Werkzeugkoffer zurückbrachte und die Gelegenheit nutzte, noch einmal mit Nachdruck klarzustellen, dass da wirklich nichts weiter gewesen war, nur ein kleines Missgeschick, das der Erwähnung kaum lohnte. Vielleicht gelang es ihm ja, ihr ein regelrechtes Versprechen abzuringen, nicht darüber zu reden.

Aber er wollte jetzt nicht zu Fuß gehen, sondern den Wagen nehmen. Dann könnte er anschließend gleich weiter in die Stadt fahren und später irgendwo zu Mittag essen. Er zog seinen Mantel an, steckte Handy und Schlüssel ein und ging zur Garage. Was er sah, als er sie öffnete, brachte alles wieder ins Wanken, auch ihn selbst, sodass er sich kurz am Türrahmen festhalten musste. Die Doppelgarage war leer, sein Volvo-Kombi verschwunden.

Tödlicher Besuch

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