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Grillen zirpten, es roch nach frisch geschnittenen Wiesen - oder besser: Autobahn-Randstreifen - und der fast volle Mond schien dick und gelb durch das geöffnete Schiebedach unseres Volvo. Ich hatte von meiner väterlichen Amtsgewalt Gebrauch gemacht und Julius zu verstehen gegeben, dass es tatsächlich besser sei, nicht auszusteigen, seine Mutter habe in diesem Punkt völlig Recht, sagte ich. Die Lage entspannte sich daraufhin ein wenig. Ich schaltete das Radio an, und wie bestellt spielten sie gerade „Eternal Flame“ von den Bangles, ein Stück, bei dem ich wahrscheinlich immer zum Taschentuch greifen werde, auch mit siebenundachtzig noch, selbst wenn man mich einer bedenklichen Anfälligkeit für Kitsch zeihen wird.

Wir sahen durch unsere Autoscheiben Menschen hin und her huschen, aus einer Perspektive ähnlich jener der Fische im Aquarium. Man weiß nicht viel über die Gedankenwelt der Fische, aber was mich betraf, so fand ich die Darbietungen da draußen nicht übermäßig faszinierend. Die Menschen bewegten sich mit unbestimmter Geschäftigkeit, ohne erkennbares Ziel, sie liefen oder standen dort einfach so herum. Viel ist es nicht, was Menschen so einfällt, um Zeit totzuschlagen, wenn es auf der Autobahn nicht weitergeht oder überhaupt im Leben. Fast hätte mich der Anblick nervös gemacht. Herdentriebhaft gesteuerte motorische Unruhe, hätte man da sagen können. Oder irregeleiteter Erlebnishunger in einer Phase zwangsweise erzeugter Immobilität der Mobilgesellschaft.

Mir fallen zuweilen solche Sätze zur Erklärung eher banaler Situationen ein. Meistens verkneife ich es mir, sie auszusprechen, vor allem in Gegenwart von Anna. Sie hat ein Gespür dafür, wenn ich ins Theoretisieren zu geraten drohe, und sie zögert nicht, mir das zu sagen.

„Nun bleib mal ganz ruhig“, sagt sie dann. „Es ist nicht alles leitartikelfähig, was einem im Leben so widerfährt.“

Damit spielt sie auf meinen Beruf an, Journalist, und gewiss ist dies eine weise Einsicht. Wenn jemand von uns beiden den Boden etwas härter unter den Füßen hat, dann bin ich derjenige vermutlich nicht - trotz ihrer ganzen Ängstlichkeit ist Anna die handfestere, wenn es wirklich hart auf hart kommt. Jetzt, angesichts dieser Szenen einer diffusen Umtriebigkeit größerer Scharen unserer Artgenossen, schwiegen wir beide, es war wohl vor allem wegen der Musik. Bei mir kam noch hinzu, dass ich gerade jetzt wieder an diesen Anruf denken musste, dessentwegen wir Hals über Kopf aufgebrochen waren mit dem vorläufigen Resultat, dass wir jetzt hier standen. Aber mich deprimierte auch der Anblick dieser Leute da vor unserem Ausguck. Anna meint ohnehin, ich sei ein wenig misanthropisch veranlagt, und nicht immer bin ich sicher, dass sie völlig falsch liegt. Tatsache ist, dass ich mich irgendwie im Gemütsbereich beschwert fühle, wenn ich größere Ansammlungen von Menschen sehe, die so aussehen, als gehörten sie eigentlich in die Fußgängerzone einer mittelgroßen deutschen Kleinstadt, egal ob die im Westen oder Osten gelegen ist.

Das hier waren Deutsche, so viel war klar. Es waren ältere Männer dabei mit Bäuchen, die über den Gürtel großzügig geschnittener Jeans ragten oder in beigefarbene Autofahrerhosen mit verstellbarem Bund gezwängt waren, auch jüngere Männer in bunten Sporthemden oder weißen T-Shirts und engen Jeans waren zu beobachten; und es waren füllige Frauen in Kleidern und Strickwesten zu sehen, die zu solchen Männern passten. Es gab auch einige junge schlanke Frauen in kurzen Röcken und knappen Tops, die den Nabel freiließen, was nicht immer so gut aussieht, wie es sich die entsprechende Person vorstellt, manchmal aber ausnahmsweise

doch. Man guckt als Mann ganz von selbst hin, ohne sich darüber klar zu sein, weshalb. Es ist dieser genetisch bedingte Jagdtrieb, niemand sollte sich hierüber Illusionen machen, gleichgültig, ob er lange verheiratet ist oder kurz oder gar nicht. Und mit Ästhetik hat das auch vergleichsweise wenig zu tun.

Ein paar Kinder sprangen dort auch herum, und ihre Mutter, die ein hautenges gelbes Stretchkleid trug, hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit Patricia Arquette. Sie rief etwas, das wenig mütterlich klang, während ihr Mann - geblümtes Hemd, Bermuda-Shorts, leichter Bauchansatz - einen Sixpack aus dem Kofferraum seines Opel-Vectra hervorholte, sich auf die Leitplanke hockte, die erste Flasche köpfte und sich eine neue Zigarette anzündete, gerade nachdem er eine ausgetreten hatte. Es war kein schönes Bild.

Womöglich war der Gatte von Patricia Arquette noch vor ein paar Jahren bei der Nationalen Volksarmee gewesen. Vielleicht hatte er sogar irgendwo an der Grenze gestanden und auf Flüchtlinge gezielt. Oder er hatte als Stasi-Spitzel harmlose christliche Hausfrauen überwacht, die ihren Seitensprung dem Pfarrer beichteten - falls er nicht ostdeutsche Untergrundschriftsteller überwacht hatte, von denen es nach groben Schätzungen mindestens eine halbe Million gegeben haben musste. Vielleicht tat ich ihm auch Unrecht und er war ein ganz gewöhnlicher Heizungsmonteur, der sich unter Honecker genau so wenig für Politik interessiert hatte wie er es jetzt unter Kohl tat und der wie die meisten ostdeutschen Handwerker versucht hatte, die Mangelwirtschaft mit dem Minimum an Werkzeug auszutricksen, das einem im Arbeiter- und Bauernstaat zur Verfügung stand, mit Hammer und Sichel gewissermaßen,

obschon das eigentlich mehr zur Sowjetunion passte. Ich hoffte zu seinen Gunsten, dass er nie im Leben gebrüllt hatte „Wir sind das Volk“, aber ich bezweifelte, dass diese Hoffnung realistisch war.

Er hatte, wenn man es objektiv zu sehen versuchte, aber auch etwas neuerdings Gesamtdeutsches an sich - etwas von diesen Leuten, die einem ebenso im Supermarkt in Berlin-Steglitz wie in einer Videothek in Berlin-Lichtenberg begegnen können und bei deren Anblick man nie genau weiß, ob sie ein rotes oder braunes Parteibuch besitzen und ob sie in ihrem Wohnzimmer einen Kampfhund halten oder einen kastrierten Wellensittich. Klar war, dass er irgendwo und irgendwann mit seiner Frau diese Kinder gezeugt haben musste, und bei diesem Gedanken tat seine Frau mir ein bisschen leid. Als ich sie mir dann etwas genauer ansehen konnte, weil sie ein paar Schritte näher kam, erschien mir die Ähnlichkeit mit Patricia Arquette erheblich geringer, als ich zunächst vermutet hatte. Sie sah sogar ziemlich alltäglich aus, wahrscheinlich hatte sie es gar nicht besser verdient.

Manchmal hasse mich, wenn ich derartige Gedanken habe. Aber was soll man tun? Das Höchste, das der Menschen hat, ist sein Gehirn, aber zugleich ist es auch das Gemeinste.

Später, beim Anfahren, als das Licht der Scheinwerfer voll auf das Nummernschild fiel, musste ich dann noch feststellen, dass es sich nicht um einen Opel-Vectra aus Magdeburg handelte, wie ich anfänglich gedacht hatte, sondern um einen aus Mannheim.

Aber noch war es nicht so weit mit dem Weiterfahren, noch leuchtete vor uns in einiger Entfernung, genau in der sanften Kurve, wo auch die Blaulichter blinkten, etwas, das wie eine Lichtreklame von McDonald's aussah. Die Vorstellung, jetzt einen Hamburger zu essen, hatte ihren Reiz, bei allem Respekt vor den Geboten einer vernünftigen Ernährung, die ich im Allgemeinen beherzige, schon aus Eitelkeit, wegen der Figur. Man kann nicht immer nur vernünftig sein, und als Ehemann ist man es sowieso nicht. Leider hatte der Gedanke an den Hamburger den Nachteil, dass er gegenwärtig nicht zu verwirklichen war, jedenfalls nicht ohne den mehr oder minder kalten Ehefrieden auf leichtfertige Weise zu gefährden. Aussteigen und einfach die paar hundert Meter gehen, das wäre an sich eine vernünftige Überlegung gewesen, denn so wie das hier aussah, würde es noch eine Weile dauern. Doch Anna hatte entschieden, dass Aussteigen gefährlich sei, und ich war weit entfernt davon, diese Entscheidung jetzt wieder in Frage zu stellen.

Außerdem wäre es doch noch ein ganzes Stück bis zu dem Hamburger gewesen, wenn ich es genauer bedachte. Ich tröstete mich mit dem Befund, dass immerhin der Aufbau Ost schon weiter gediehen war, als es manche Skeptiker bisher hatten wahrhaben wollen, wobei ich mich selbst gar nicht ausnahm. Wo sich die blühenden Landschaften des Kanzlers Kohl tatsächlich befanden, wusste niemand, er selbst vermutlich auch nicht, aber immerhin, McDonald's hatte die ersten Autobahnraststätten erobert. Das war doch irgendwie ein Symbol der Hoffnung. Andererseits war genau an dieser Stelle der Unfall passiert, dessentwegen wir hier festsaßen. An Hamburger dachte da vom im Moment bestimmt niemand. Vielleicht waren Menschen zu Tode gekommen, mit dem McDonald's-Emblem als letztem Bild von dieser Welt vor Augen. Gerade zerschredderte ein Hubschrauber die Stille der Sommernacht.

„Emm-Zee-Doonalt“ - dieses seltsame Klanggebilde war in meiner Erinnerung abgespeichert, seit wir uns vor ein paar Jahren, kurz nach jener historischen Novembernacht, erstmals wieder auf die Schlossstraße in Steglitz gewagt hatten, eine der Haupteinkaufsstraßen von Berlin. McDonald's war offenbar das Erste gewesen, das auf den beigetretenen Lebensplänen stand, die plötzlich tausend- und millionenfach umgeworfen und neugeschrieben wurden.

Wir Einheimischen mussten uns den Weg durch Menschenmassen bahnen. Unsere Söhne behaupteten, man könne die Ossis an ihren Jeansanzügen und an den Turnschuhen erkennen, die zu wenig Streifen hätten, außerdem am Teint - zu wenig Vitamine, keine Solarien. Anna und ich, wir fanden das ein bisschen borniert. Aber dass die neuen Mitbürger irgendwie anders aussahen, entging auch uns nicht, genauso wenig wie dieser kollektive Trieb, Hamburger zu essen. McDonald's, das war für sie ein Inbegriff des neuen Lebens, der gastronomische Siegespreis für die sogenannte friedliche Revolution. Dass plattgehauene Buletten zwischen den Hälften einer Schrippe mit Ketchup und Salatblatt solch eine Bedeutung erlangen konnten - eigentlich war das auch ein bisschen traurig.

Unser jüngster Sohn schreckte mich aus meinen Gedanken auf. „Ein paar hundert Meter weiter, und wir könnten jetzt was Anständiges essen“, ließ sich Julius von der Rückbank vernehmen. Er hegte also ähnliche Überlegungen wie die Ostberliner damals - und ähnliche, wie sie mir vor ein paar Augenblicken durch den Kopf gegangen waren. Julius wollte zum Ausdruck bringen, für welch eine unglückliche Fügung er es hielt, dass wir uns zu dem Zeitpunkt, da der Unfall geschehen war, nicht weiter südlich, also näher an der McDonald's-Raststätte, befunden hatten.

Bevor Anna Julius zurechtweisen konnte, sagte ich: „Wir sollten froh sein, dass wir nicht näher daran waren. Ein paar Sekunden später oder ein paar Meter weiter - und es hätte sein können, dass wir auch dort hineingeraten wären. Also bitte, lass es gut sein, ja?“

Anna gönnte mir einen zustimmenden Blick von der Seite. Ich hatte kaum zu Ende gesprochen, als ein dunkler Kombi auf der gesperrten Gegenspur auftauchte, dort, wo vorhin die Rettungswagen entlang gerollt waren. Der Mann von Patricia Arquette, der gerade seine nächste Flasche geöffnet hatte, sagte etwas, und einige seiner Worte purzelten durch das offene Dach und die heruntergekurbelten Fenster zu uns herein, darunter eine Vokabel, die Anna noch ein Stück tiefer in ihren Sitz sacken ließ - Leichenwagen. Kurz danach kam der nächste anthrazitfarbene Wagen vorbei.

„Verdammt“, sagteAnna mit erstickter Stimme, „ich will hier weg!“

Ich sagte ihr, wenn sie bereits dabei seien, die Leichname wegzuschaffen, sei abzusehen, dass die Autobahn bald wieder frei werde. Ein nächtlicher Stau mit Leichentransporten - das war für Anna zu viel, das war mir durchaus klar. Ich fragte sie, ob sie noch eine rauchen wollte, und natürlich wollte sie, und ich bewunderte sie fast dafür, dass sie die endlosen Sekunden abwartete, bis ich sie angezündet hatte und ihr den zweiten Zug ließ.

Wir kamen aus dem Urlaub, aber wenn es etwas gab, das wir wirklich nötig gehabt hätten, dann war es Erholung.

Meine Frau, der Osten und ich

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